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Applerock Festival   13.09.2008   Stockheim
von rls

Powered by Microsofts Konkurrenz? Mitnichten. Der Name des Applerock-Festivals erklärt sich dadurch, daß es auf dem Gelände einer Obstplantage östlich des kleinen Dörfchens Stockheim, gelegen im Westen Sachsens etwa 20 Kilometer südöstlich von Leipzig, stattfindet. Einstmals aus einer privaten studentischen Feier geboren, stellte das rührige Organisationsteam anno 2008 bereits den sechsten Festivaljahrgang auf die Beine. Nachdem man die Besucherzahl in den Vorjahren permanent steigern konnte, gelang das diesmal leider nicht, obwohl mit Triekonos und Lament gleich zwei starke Lokalmatadore im Billing standen; diverse Konkurrenzveranstaltungen hatten die Zielgruppe atomisiert, und die überregionale Bekanntheit des Festivals ist noch ein gutes Stück ausbaufähig, wofür der Rezensent eine Art Beweis darstellt, denn selbst er, der keine 20 Kilometer von Stockheim entfernt wohnt und sich im kulturellen Untergrund durchaus ein wenig auskennt, hatte vorher noch nie vom Applerock Kunde bekommen. Aber: Alle, die nicht da waren, haben definitiv etwas verpaßt, sollten sich mit dem altbekannten Motto "Support your local scene" den 2009er Termin (der sicher wieder im September liegen wird) langfristig auf die Agenda setzen, und auch eine zumindest etwas größere Besucherzahl dürfte dem Festival kaum seinen gemütlich-entspannten Charakter zu rauben imstande sein, der den 2008er Jahrgang auszeichnete.
El Cattivo läuteten mit der üblichen Verspätung den Reigen der fünf Bands ein. Das Quintett, das im zentralthüringischen Stadtilm ein ähnlich gemütliches Kleinfestival organisiert, spielte bereits zum dritten Mal in Stockheim, und somit waren zumindest einige der Besucher schon mit den Eigenkompositionen der Band vertraut, die im soliden, wenngleich relativ unauffälligen Normalorock anzusiedeln waren, bisweilen durch stilistische Ausflüge gen Reggae oder Punk ergänzt. Auffällig war, daß offenbar dem Bassisten eine Art musikalische Führungsrolle zukam, da er vergleichsweise oft Leads oder anderweitig markante Passagen spielte, während andererseits der Gitarrist den kompletten, immerhin über 70minütigen Set (auf welchem anderen Festival außer vielleicht dem Bergkeller Artrock Festival bekommt der Opener 70 Minuten Spielzeit?) ohne ein einziges Solo bestritt und sich auch der Keyboarder in dieser Hinsicht vornehm zurückhielt. Ab Song 7 schalteten El Cattivo dann konsequent auf ihr Coverprogramm um und sorgten auch bei dem bisher noch etwas reservierteren Teil des Publikums für gute Laune, wofür es partiell musikalische Gründe gab, partiell aber auch nicht. Besagter Song 7 war "Zu spät" von Den Ärzten in einer interessanten Fassung mit typischen 80er-Jahre-Keyboards Marke Europe, und die beste Band der Welt aus Berlin (aus Berlin!) wurde mit "Teenager-Liebe" gleich nochmal geehrt (sie hatte immerhin ja auch schon Pate für den Bandnamen gestanden). Danach ging's munter weiter durch diverse Höhepunkte vergangener Zeiten von "Rocking In A Free World" über "These Boots" bis zu "Blitzkrieg Bop", wobei es gerade vom letztgenannten Song doch deutlich energiegeladenere Interpretationen gibt. Der Sänger bekam in "Hier kommt Alex" einen durchaus brauchbaren Campino hin, war generell aber eher unter "gewöhnungsbedürftig" einzustufen, auch die Backings schrägten sich oft mehr schlecht als recht durch die Botanik, und von "Highway To Hell" hätte die Band, wenn man aus musikhistoriographischer Sicht wertet, besser die Finger gelassen: Die Stimme des Sängers paßte hier überhaupt nicht, die Fassung machte generell einen ungewollt primitiven Eindruck, und das Hauptsolo ließ man gleich ganz weg - paradoxerweise erntete die Band aber ausgerechnet für dieses Stück den stärksten Applaus des Publikums. Verstehe das, wer will ...
Die Schweizer Face Flanell hätten eigentlich die erste internationale Band in der Applerock-Geschichte sein sollen, aber sie mußten aus persönlichen Gründen des Schlagzeugers absagen. Als Ersatz sprangen The Pirates ein, die schnell unter Beweis stellten, daß sie mit den gefühlt 32054 anderen The-Bands dieses Planeten wenig am Hut haben. Statt dessen klangen sie so stark nach Motörhead (und kokettierten damit auch in ihrer einleitenden Ansage), daß man sich streckenweise verzweifelt fragte, auf welchem Motörhead-Album der gerade gespielte Song denn nun steht, bis man gewahr wurde, daß man eben doch keine Coverversion gehört hatte. Der Sänger spielte im Gegensatz zu Lemmy allerdings nicht Baß, sondern Gitarre und erwies sich an diesem Instrument wie am Mikro als gleichermaßen fähig, während seine Kollegen an Baß und Drums solide Wertarbeit verrichteten. Über die gesamte Distanz von einer knappen Stunde drohte aufgrund der relativen Gleichförmigkeit des Sets bisweilen ein wenig Langeweile aufzukommen, aber die hör- wie sichtbare Spielfreude des Trios (der Gitarrist spielte auch immer mal in klassischer Rockpose im Knien oder Liegen, wenn er gerade nicht singen mußte) ließ solche Gedanken schnell wieder verfliegen. Ganz ohne Coverversionen arbeiteten The Pirates allerdings auch nicht - nur klangen dann eben "Johnny B. Goode", "God Save The Queen" oder "Fuck You" auch nach Motörhead, ebenso wie ein als "Jolly Roger" angesagter Song, der allerdings arg umgestaltet worden sein müßte, wenn es tatsächlich der von Running Wild hätte gewesen sein sollen. Zwei Songs grub das Suhler Trio, von El Cattivo liebevoll als "die Bobfahrer" angesagt, noch als Zugabe aus - und siehe da, auch "Rebel Yell" klang plötzlich nach Motörhead. Die Frage, ob jemand im Zelt Smoke Blow kenne, war vor diesem nichtsdestotrotz gutgelaunten Publikum allerdings fachlich etwas deplaziert ...
Nach einer erfreulich kurzen Umbaupause (was ein Kennzeichen des gesamten Abends war) betraten mit Triekonos die ersten Lokalhelden die Bühne. Das Trio (wer hätt's gedacht angesichts dieses Bandnamens) aus dem Kurstädtchen Bad Lausick überraschte den Rezensenten mit einer Sorte Musik, die dieser im ländlichen Raum der neuen Bundesländer eigentlich für ausgestorben gehalten hatte: progressivem Hardrock nämlich, in den metallastigeren Passagen paradoxerweise an zwei australische Bands erinnernd: Taramis (festzumachen am Song mit dem netten Titel "Fuckin' Bitch" - aber wer kennt die schon vor anderthalb Dekaden verblichenen Taramis heute schon noch ...) und Voyager (die wiederum sind noch heute aktiv), wobei diese allerdings deutlich opulenter zu Werke gehen als die zumindest als Live-Trio sehr basisch und ohne Samples arbeitenden Triekonos. Nichtsdestotrotz hatte auch diese basische Version ihren Reiz, wenngleich ein zweiter Gitarrist einige Passagen sicher noch sinnvoll hätte ergänzen können. In puncto Arrangierkunst sind Triekonos jedenfalls schon recht weit, wie besonders die längeren Songs bewiesen, von denen einer noch ganz frisch war und zwar schon Lyrics, aber noch keinen Titel hatte - ein großes dreiteiliges Epos darstellend. "Welcome Home" hatte von Triekonos nicht noch den Untertitel "Sanitarium" erhalten, entpuppte sich aber trotzdem als exzellentes Spektakel, das von der Ballade bis zum Speed Metal ein breites Spektrum abdeckte. Einzig der Gesang konnte dem hohen Niveau der Instrumentalarbeit nicht durchgängig adäquat entsprechen, obwohl sich der Bassist, der den Löwenanteil der Leadvocals übernahm, durchaus als stimmvariabel entpuppte - die Arrangierkunst (oder Interpretation) der durchaus reichlich eingesetzten Backings allerdings konnte hörbar noch nicht mit den instrumentalen Fähigkeiten mithalten, klang schlicht und einfach deutlich zu schräg, und auch der oftmals sehr rauhe Leadgesang offenbarte noch manche Reserve. Trotzdem ernteten Triekonos reichlichen und verdienten Applaus, und als Proggie sollte man die Entwicklung dieser Truppe unbedingt im Auge behalten.
Die anderen Lokalhelden Lament (nicht zu verwechseln mit den gleichnamigen Mexikanern natürlich - also nix mit der ersten internationalen Band der Festivalgeschichte) folgten auf dem Fuße; der Rezensent hatte ewig nichts von ihnen vernommen, aber sie haben offenbar kontinuierlich weitergearbeitet und sich dabei doch ein gewisses Stück verändert. Gothic ist es immer noch, was das Quartett fabriziert, aber vielleicht eher Gothic Rock - im Gegensatz zu den früheren Tagen ist erstens kein Keyboarder mehr dabei und dafür zweitens ein Schlagzeuger aus Fleisch und Blut am Start, was dem Material einen erfreulich organischen Touch verlieh, der positiverweise auch noch durch einen sehr klaren Sound unterstützt wurde. Sucht man Vergleichsbands, wird man anhand der Livedarbietung (neues Studiomaterial kennt der Rezensent noch nicht) wohl am ehesten in Italien fündig - Namen wie Klimt 1918 kommen einem da ins musikalische Gedächtnis. Mittelpunkt des Lament-Sounds ist und bleibt aber Sebastians origineller Gesang, eigenartig näselnd und mitunter gar Tonfärbungen annehmend, die man aus der Bridge von Labs "Machine Girl" her kennt (und dort singt 'ne Frau!). Einige eingestreute Nummern etwas flotteren Tempos verhinderten das Aufkommen von Monotonie während der reichlichen Stunde, und als Zugabe gruben Lament einen ihrer ältesten Songs aus, damit beweisend, daß sie ihre Vergangenheit keineswegs verleugnen, wie das manche "weiterentwickelte" Band so zu tun pflegt. Auch Lament durften sich über sehr positive Reaktionen des Publikums freuen, und in einem Punkt, nämlich Sebastians äußerst gewöhnungsbedürftiger Brillenmode, hat sich im Vergleich zu früher absolut nichts geändert ...
Mittlerweile war es 0.45 Uhr geworden, ein Teil der Zuschauer war bereits gegangen, und trotz des Zeltes begann es langsam bitterkalt zu werden. Was macht man, wenn man in einer solchen Situation Headliner ist? Im Falle von Vostochny Front Orchestra war die Marschrichtung klar: Man spielt einfach seinen Stiefel herunter. Der hieß "russischer Speedfolkrock" und bildete genau die richtige Musik für diese Situation: Aufgrund des ausgedünnten Publikums hatten die Verbliebenen ausreichend Platz für wilde Tanzaktivitäten, was mit unterschiedlicher Intensität auch genutzt wurde und ein probates Mittel gegen die Kälte darstellte - selbst der Rezensent, sonst beileibe nicht mit sonderlich ausgeprägter Tanzwut ausgestattet, sondern eher zur "Beobachterfraktion" im Publikum gehörend, kam nicht umhin, das Tanzbein zu schwingen, und in seinem Fall war da keinesfalls die Kälte hauptschuldig. Vostochny Front Orchestra stellten nun doch zumindest partiell die erste internationale Band der Festivalgeschichte dar, da einige Bandmitglieder aus Moskau stammen, jetzt allerdings in Halle leben. Ihren Speedfolkrock reicherten sie geschickt mit einer Prise Alternativrock und einer größeren Portion Ska (mit festem Trompeter in der Mannschaft) an, verzichteten auf größere Breakorgien, hielten das Tempo zumeist im mittleren bis höheren Bereich (schleppende Hymnen, wie sie die in manchen Aspekten ähnlich gepolten 44 Leningrad bisweilen zu schreiben pflegen, fehlten zumindest im Liveset), sangen in verschiedenen Sprachen, konsumierten Wodka - und irgendwann war es nicht mehr so wichtig, was sie spielten, sondern nur noch, daß sie spielten. Trotz zeitbedingt immer geringer werdender Publikumskopfzahl folgte eine Zugabe nach der anderen, bis um 2.15 Uhr letztlich doch der Hammer fiel. Ein würdiger Headliner und eine starke Liveband, das Tüpfelchen aufs i eines weitgehend gelungenen Festivals setzend, dem zu wünschen wäre, daß die umliegenden Städter in den Folgejahren etwas stärker erkennen, welche Perle hier verborgen auf dem Lande funkelt. Der Link zur virtuellen Entdeckungsreise: www.applerock.de



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