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Die Ärzte   28.11.2007   Leipzig, Arena
von rls

Kultstatus erlangten Die Ärzte aus Berlin (aus Berlin!) ja bereits mit ihrem Schaffen in den Achtzigern, aber richtig gute Musiker wurden die zwei überlebenden Mitglieder der Originalbesetzung erst in der Phase, als es die Band gar nicht gab und sich die beiden erwähnten Menschen auf Nebenspielwiesen tummelten: Jan Vetter mit den unterbewerteten und äußerst mäßig verkaufenden King Kong, Dirk Felsenheimer mit den zwar presseseitig hoch gehandelten, aber ähnlich mäßig verkaufenden Depp Jones. Letztgenannte sollten zur Keimzelle der neuen Ärzte werden, denn Depp Jones-Gitarrist Rod Gonzalez (den man von den Rainbirds kennen konnte, wenn man regelmäßig ZDF-Hitparade schaute, was in der Prä-Uwe Hübner-Ära durchaus noch nicht als Sakrileg zu werten war) übernahm im neuen Line-Up ab "Die Bestie in Menschengestalt" den Baß, und dieses Trio ist seitdem stabil, nimmt in halbwegs regelmäßigen Abständen neue Platten auf und geht auch auf Tour. "Es wird eng." ließen die drei zur neuen Platte "Jazz ist anders" als Tourmotto verbriefen (mit einem interessanten, irgendwie etwas, ähem, spermatophil umgestalteten, ähem, Verkehrszeichen als Logo) und trafen dabei in Leipzig den Ticketverkaufsnagel auf den Kopf, denn die 12000 Tickets für diesen Gig gingen rapide weg, so daß das "Ausverkauft"-Prädikat gezückt werden mußte und man den Day-Off danach gleich noch in einen Zusatzkonzerttag umfunktionierte - aber auch der war in Bälde ausverkauft, und das, obwohl reichlich 35 Euro für das zu einem guten Teil offensichtlich wenig konzerterfahrene und zumindest partiell relativ junge Publikum sicherlich keinen Pappenstiel darstellen (für versoffene Altpunker schon gar nicht, und von denen waren zumindest am ersten Abend in der Tat kaum welche auszumachen). Die Einschätzung der geringen Konzerterfahrung größerer Teile des Publikums beruht auf der Beobachtung, daß selbst kleine Zeichen der Bühnenaktivität vor dem Gig wie das Hochziehen eines Backdrops oder das Wechseln der Umbaupausenmusik-CD samt Entstehung einer kleinen akustischen Lücke irrig als Zeichen für den umgehenden Gigbeginn gewertet und entsprechend laut bejubelt wurden. Letztlich ging's dann aber doch erst mit einer halben Stunde Verspätung los. Ob es ein Vorprogramm gegeben hat, ist dem Rezensenten nicht bekannt - als er zehn Minuten vor planmäßigem Anpfiff (20 Uhr) sich in die Schlange vor dem Einlaß einreihte (die Abfertigung lief übrigens erfreulich zügig, zumal es keine Abendkasse gab), hörte er aus dem Halleninneren noch einige Takte nicht näher zu identifizierender Musik, die lautstärketechnisch nur einer Vorband oder aber einem letzten Soundcheck zugeordnet werden können.
Sei's drum, alle warteten sowieso nur auf Belafarinrod, und die legten dann gegen 20.30 Uhr los, eingerahmt nicht von überdimensionalen und die Welt auffressenden Meerschweinchen, sondern statt dessen von zwei ebenfalls überdimensionalen und im Zweifel männermordenden allegorischen weiblichen Figuren in gewisse freakige Vorlieben assoziieren lassender knapper Bekleidung. Apropos Bekleidung: Daß bei Den Ärzten mittlerweile mehr weibliche Kleidungsstücke auf die Bühne geworfen werden als bei manch 20 Jahre jüngerer Boyband, ist bekannt, und so hätte speziell Farin auf der linken Bühnenseite schon nach den ersten paar Songs ein Carepaket für Ruanda packen können, während Rod auf der rechten Seite weitgehend leer ausging und Bela im Hintergrund (den er zwischen den Songs aber immer wieder verließ, um auf der geräumigen Bühne Auslauf zu nehmen) als erste Gabe ausgerechnet eine Bart-Simpson-Puppe zugeworfen bekam. Musik gab's neben diesen ganzen Mätzchen natürlich auch, und es fiel im Hauptteil des Sets eine erstaunlich niedrige "Hitdichte" auf, was das Publikum allerdings nicht weiter zu stören schien. Trotzdem wäre von 12000 Leuten irgendwie allgemein mehr begeisterter Lärm zu erwarten gewesen - hier dagegen verhielt sich das Auditorium fast diszipliniert, klatschte nur direkt nach den Songs und verstummte dann wieder, um den gewohnt stellenweise grenzwertigen Dialogen zwischen Farin und Bela zu lauschen, in die sich bisweilen auch Rod einklinkte. Für zwei Songs wechselte letzterer auch mal an die Gitarre, und es fiel auf, daß der Anteil eingesampelter Parts insgesamt äußerst gering ausfiel. Live ist eben doch noch live - einige schräge Orgelsounds holten die Bandmitglieder selber aus einem undatierbaren Keyboard, ansonsten beschränkten sie sich eben darauf, was sie als Trio umsetzen konnten. Gesangstechnisch war Farin sehr gut zu verstehen, Bela weniger (wobei er allerdings auch eine deutlich undeutlichere Aussprache an den Tag zu legen pflegt), und Rods Gesangsbeiträge beschränkten sich auf Backingvocals, an denen in wechselnden Besetzungen alle drei Bandmitglieder beteiligt waren. Bisweilen versuchte sich die Band gar als Stegreifdichter (so daß manche Songs ungeplant noch die eine oder andere zusätzliche Strophe angebaut bekamen, was mal sehr strukturiert wirkte, bisweilen aber auch im liebenswerten puren Chaos endete) und ging gar das Wagnis ein, im Zugabenteil einen Song auf Zuruf aus dem Publikum zu spielen, was bei einem Backkatalog von dem Umfang, den der Der Ärzte mittlerweile aufweist, ein gewisses Risiko darstellt - Beweis hier: Die erste Reihe forderte "Monsterparty", und die Band ging tatsächlich auf den Wunsch ein, obwohl dann einige Stockungen im Song entstanden, weil man den Text erst wieder rekapitulieren mußte. Daß der Humor der Band gegenüber dem Publikum durchaus Grenzwerte aufweist, wurde zweimal deutlich, nämlich einerseits im bitterbösen Antidownloadsong, der ein betretenes Schweigen im Publikum auslöste und die Stimmung für etliche Minuten richtig versaute (die getroffenen Hunde bellten also in diesem Fall mal nicht, sondern enthielten sich gerade der Lautäußerung), andererseits in der Zugabe "Unrockbar", in der sich laut Farin alle hinsetzen und dann beim Refrain aufspringen sollten - als nach mehrmaliger Aufforderung immer noch nicht alle saßen, kam der Satz "Alle, die jetzt noch stehen, sind rechtsradikal" von der Bühne, den ein weniger fansozialisiertes Publikum sicher richtig übelgenommen hätte. Sei's drum - die Tatsache, daß im Set auch ein paar Songschläfer versteckt waren, die, wären sie nicht von Den Ärzten, unter "relativ nichtssagender Deutschrock" einzuordnen wären, ermöglichte dem Hörer in deren Spielzeit das Anstellen diverser Überlegungen, wie sich doch die Gesellschaft in den 25 Jahren seit Gründung der Band verändert hat und wie man dadurch manche (andere) Songs zumindest augenzwinkernd zeitbezogen interpretieren muß. Zwei Beispiele: "2000 Mädchen" enthält den Refrain "2000 Mädchen - und ich ruf' sie an" - das wäre heutzutage mit einer Rundmail viel einfacher zu lösen. "Zum Bäcker" wiederum, dargeboten übrigens in einer wunderbar pseudomilitaristischen Version, die Rammstein und Laibach sicher das Lächeln im Gesicht hätte gefrieren lassen, stellt fest, daß der Sonntag der Trauertag des Brötchenliebhabers sei, da an diesem Tag der Bäcker geschlossen habe - das war in den Achtzigern so, aber heute kriegt man seine frischen Brötchen ja problemlos auch an diesem Tag. Was gab's sonst noch? Humoristische Einlagen mehr oder weniger am laufenden Band - etwa das Experiment, was man auf einen bestimmten Drumrhythmus alles singen kann, nachdem man es etwas zurechtgebogen hat (die Palette reichte von "Geh zu ihr" über "The Final Countdown" bis hin zu "Life Is Life") -, eine nicht uninteressante Lichtshow mit einigen Projektionen an die Bühnenrückwand (die übrigens zu schmal war, um den kompletten Refrainschlagworttitel "Pflegeleicht" des neuen Songs "Deine Freundin (wäre mir zu anstrengend)" mit einem Mal einzublenden ...) und natürlich ein breites Spektrum von Songs aus allen Schaffensperioden der Band, im Dreieck Pop/Punk/Rock lavierend. Natürlich hat es eine Band mit diesem Backkatalog nicht leicht bei der Zusammenstellung der Setlist, und so dürfte jeder irgendeinen Song vermißt haben - der Rezensent etwa hätte sich durchaus noch über "Schopenhauer", "Was hat der Junge doch für Nerven", "Meine Ex(plodierte Freundin)" oder "Mein Baby war beim Frisör" gefreut, ergötzte sich aber statt dessen an "Buddy Hollys Brille" (etwa an Setposition 6 plaziert und oberkultig eingeleitet: "Seid ihr jetzt warm?" Die Halle brüllt zustimmend. "Okay, dann kommt jetzt ein totaler Stilwechsel!"), "Ich eß' Blumen" oder "Langweilig". Drei Zugabenblöcke schlossen das reichlich zweieinhalbstündige Konzert ab, wobei das kultige 45sekündige Grindcoregepolter "Dauerwelle vs. Minipli" den Rausschmeißer bildete und Nichteingeweihte mit etwas verstörtem Blick in die Nacht schickte. Gute Unterhaltung!



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