www.Crossover-agm.de TARJA: The Shadow Self
von rls

TARJA: The Shadow Self   (earMusic)

Hatte Tarja auf "Colours In The Dark" optisch ein extrem farblastiges Konzept verfolgt, so gerät das Doppel aus dem Vorabrelease "The Brightest Void" und dem nun vorliegenden Hauptwerk "The Shadow Self" zur Schwarzweiß-Dominanz, und auch wenn die von der Chefin postulierte Stimmungsteilung in ein helleres und ein dunkleres Werk zumindest musikalisch nur bedingt eine Entsprechung findet, da sie auf beiden Scheiben auf der kompletten Farbklaviatur spielt, so läßt sich über diese Komponenten doch trefflich philosophieren (noch besser, wenn man das Textmaterial hinzuzieht, das auch auf "The Shadow Self" nur aufgrund des aufgebrachten Partiallacks überhaupt erkennbar ist, da es diesmal in Weiß auf weißem Hintergrund gedruckt wurde, wobei die Erkenn- und Lesbarkeit noch schwieriger ist als in der Schwarz-Schwarz-Variante von "The Brightest Void" - und man darf auch überlegen, ob es einen Grund hat, daß der Text von "Calling From The Wild" die Schwarz-Schwarz-Variante auch hier im Album anwendet). Da das Vorabwerk aus einer Art Sammelsurium von anderweitig nicht oder nur randständig verwendeten Songs bestand, während "The Shadow Self" trotz der abermaligen Einbindung zahlreicher externer Songwriter als geschlossenes Werk konzipiert ist, sind direkte Vergleiche eher müßig - aber schon in den beiden ersten Nummern von "The Shadow Self" fällt das enorm fette Riffing auf, und auch wenn dieses Stilmittel in der Folge etwas abgeschwächt wird, so trägt es doch zumindest einen Deut zum Eindrück einer gewissen Düsterhärtung bei. Trotzdem lebt der Opener "Innocence" nicht zuletzt durch sein markantes Klavierthema (Chopin-inspiriert, sagt die Chefin) und bietet auch arrangementseitig eine Überraschung: Nach drei Minuten wundert man sich über das scheinbare (und gefühlt sehr frühe, da die Grundidee noch keineswegs erschöpfend behandelt habende) Songende, aber das Klavier mäandert solistisch weiter und spielt ein immer ausladender werdendes Solo im pursten Wortsinne, also ohne jegliche Begleitinstrumente, bevor die Wiederkehr des Refrains die Klammer schließt und aus den drei mal eben sechs Minuten geworden sind. Solch eine ungewöhnliche Nummer als Albumopener zu wählen erfordert Mut - aber Tarja hat diesen ja nicht zum ersten Mal bewiesen (man erinnere sich an "What Lies Beneath", wo das gleichfalls ungewöhnliche "Anteroom Of Death" den Spitzenplatz einnahm), zumal es etwa mit dem sitardurchwirkten "Love To Hate" oder dem Videotrack "No Bitter End" an den Positionen 4 und 3 etwas "konventionellere" Orchestermetaltracks gegeben hätte, die man bei einer konservativeren Herangehensweise nach vorn hätte schieben können - "No Bitter End" hätte allenfalls das Problem aufgerufen, daß es ja in der Videofassung auch schon den Opener von "The Brightest Void" gebildet hatte. Unter die eher ungewöhnlichen Tracks hingegen ist "Demons In You" an Position 2 zu rechnen - das Riffing wurde ja schon erwähnt, aber hier hören wir auch noch Arch-Enemy-Neusängerin Alissa White-Gluz als Gastvokalistin, und zwar gleich doppelt: im Refrain mit ihrer schönen Cleanstimme, in den Strophen allerdings wild brüllend und einen völligen Fremdkörper darstellend, zumal das Gebrüll erzwungen und unbeholfen klingt (daß sie den extremen Stil besser beherrscht, kann man auf dem jüngsten Arch-Enemy-Album "War Eternal" nachhören). Da zieht sich der andere Gast, nämlich Tarjas Bruder Toni, deutlich besser aus der Affäre - "Eagle Eye", an dem Pauli Rantasalmi von The Rasmus kompositorisch beteiligt war, konnte man ja bereits auf "The Brightest Void" kennen und schätzen lernen, und der Refrain entpuppt sich in der Gesamtbetrachtung als der stärkste auf der ganzen Scheibe, wobei sicher auch der Aspekt eine Rolle spielt, daß man ihn ja schon öfter gehört hat als die nicht auf dem Vorabrelease befindlich gewesenen Tracks. Nebenbei bemerkt: Der Song soll innerhalb von zwei Stunden komponiert worden sein - manchmal sind die spontanen Ideen eben doch die besten. Aber es gibt auch noch andere positive Überraschungen: "Supremacy" an fünfter Position entpuppt sich als Muse-Cover - das Original eröffnet das 2013er Album "The 2nd Law" (wer's nicht kennt, schaue sich auf Youtube mal das Video mit den surfenden Black Metallern an - sollten da The Black Satans mit "The Satanic Darkness" ideenseitig, wenn auch nicht aussagetechnisch Pate gestanden haben?). Und wie Tarja und ihre Mitstreiter aus dem auch schon mit vergleichsweise kernigen Passagen durchwirkten Vorbild wilden und bombastischen Orchestermetal schmieden, das stellt ihnen ein exzellentes Zeugnis aus: Sebst wenn mancher Muse-Fan überfordert die weiße Flagge schwenken wird, funktioniert der Song als Tarja-Nummer exzellent und fügt sich so gut ins Repertoire ein, daß einem in Unkenntnis des Originals gar nicht auffiele, daß es sich um eine Coverversion handelt. Ungewöhnlich geht's auf dem Album auch weiter: Die hübsche Ballade "The Living End" trägt einige keltische Einflüsse mit sich herum, und dann kommt "Diva", die schrägste Nummer der Scheibe. Der Einbau zirkusartiger Melodiebögen gehörte ja zu den typischen Stilmitteln eines gewissen Tuomas Holopainen, und das auch schon zu den Zeiten, als Tarja noch bei Nightwish sang (man erinnere sich an "FantasMic" vom "Wishmaster"-Album). "Diva" koppelt nun solche Elemente mit Seemannsfolklore (Inspirationsquelle: "Pirates Of The Caribbean") und dem typischen Orchestermetal zu einem ganz eigentümlichen Songgebilde von eigentümlichem Reiz, das stilistisch auch auf "Imaginaerum" gepaßt hätte und den Hörer ahnen läßt, wie selbiges Werk geklungen haben könnte, wäre es von Tarja anstatt von Anette Olzon eingesungen worden. Ins wieder etwas konventionellere, aber dennoch starke Terrain begeben wir uns mit der abermals vom Klavier thematisch geprägten Orchestermetalnummer "Undertaker", deren langer Refrainvierzeiler definitiv noch Erschließungszeit braucht und seinen Wachstumsprozeß noch nicht abgeschlossen hat. Alex Scholpp spielt hier übrigens eines der ganz wenigen Gitarrensoli der Scheibe, das gerne noch länger hätte ausfallen dürfen. Ebenfalls ziemlich problemlos ins "normale" Feld reiht sich das bereits erwähnte "Calling From The Wild" ein - zumindest rein musikalisch gibt es also keinen Grund für die optische Andersbehandlung des Textes, sieht man mal davon ab, daß Tarja hier einige Passagen nicht singt, sondern spricht. Bei Stimme ist die Chefin aber nach wie vor exzellent, egal ob Energie oder Zurückhaltung gefragt ist. Und wenn sie wie im Intro des Albumclosers "Too Many" hintergründig flüstert, kriecht man förmlich in die Boxen hinein, um sie auch dann noch deutlich wahrnehmen zu können. Besagtes "Too Many" wechselt zwischen aufbrausenden und entrückt wirkenden Passagen und geht ohne eigentliche Klimax schließlich in einen langsam ausmäandernden Part über - einen großen Bombastschluß hat "The Shadow Self" abgesehen von einigen Teilen dieser Nummer also nicht. Aber auch das langsame Ausplätschern in Richtung Minute 8 ist noch nicht das Ende: Nach knapp drei Minuten Stille kommt ein namenloser Hidden Track, der in der Besetzungsangabe allerdings zumindest schon mit seiner Tracknummer angegeben ist: Scholpp (Gitarren, Bässe), Mike Terrana (Drums) und Tarja prügeln sich durch eine rabiate Hardcorenummer (!) mit dem sarkastischen Text "Yeah, this is a hit song" (!!), die in zwei Teilen einen von Torsten Stenzel programmierten Hardcore-Elektro-Part (!!!) umschließt und die Gesamtspielzeit auf 66:09 Minuten anhebt - möglicherweise hätten es drei Sekunden weniger sein sollen ... Ein seltsamer Schluß, aber zumindest nicht so ungenießbar, daß man ihn automatisch wegskippen müßte, wobei die Programmieroption aufgrund der nicht erfolgten Trackabtrennung auch gar nicht so problemlos realisierbar ist. Haupttrumpf ist und bleibt aber natürlich der reguläre Albumteil, und der bietet einerseits das von Tarja Gewohnte in der ebenfalls gewohnten hohen Qualität, richtet andererseits aber auch den Blick in neue Welten und zeigt, daß die Ex-Nightwish-Sängerin nach ihren eher orientierungslosen Soloanfängen mittlerweile genau weiß, was sie will. Ergo gehört "The Shadow Self" in jede Kollektion, in der sich auch schon "What Lies Beneath" und "Colours In The Dark" wohlfühlen.
Die Special Edition des Albums wartet mit einer Bonus-DVD auf, welchselbige ein reichlich halbstündiges, etliche Hintergründe zum Album erhellendes Interview mit Tarja, geführt im Sommer 2016 in London in einer Räumlichkeit mit einem schreiend cyanfarbigen Kissen auf dem Sofa und einem großen Fenster hin zu einer Konzerthalle o.ä., in der sich der auf der CD nur in einem einzigen Song, nämlich "No Bitter End", zum Einsatz kommende Cellist Max Lilja gerade warmspielt, sowie die Videoclips zu besagtem "No Bitter End" (klassische "Band spielt auf einer Art Studiobühne"-Szenerie) und "Innocence" (in die Bandszenen ist hier noch eine Familientragödie integriert) enthält.
Kontakt: www.tarjaturunen.com, www.ear-music.net

Tracklist:
Innocence
Demons In You
No Bitter End
Love To Hate
Supremacy
The Living End
Diva
Eagle Eye
Undertaker
Calling From The Wild
Too Many
 




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