www.Crossover-agm.de NIGHTWISH: Wishmaster
von rls

NIGHTWISH: Wishmaster   (Drakkar Records)

Eine Band, die bereits mit ihrer zweiten Platte ein zu 99% perfektes Kunstwerk schafft, hat, wenn sie sich hernach nicht auflöst, ein akutes Problem: Sie wird stets an besagter Platte gemessen, und jedermann erwartet, daß sie das zur dreistelligen Prozentmarke fehlende Pünktchen auch noch aus dem Handgelenk, den Stimmbändern oder was weiß ich woher schüttelt. In dieser Situation befanden sich Nightwish nach "Oceanborn", dem unbestritten stärksten Metalalbum des Jahres 1999, das zu Recht von Presse wie Fanscharen abgefeiert wurde. Schneller als erwartet sind sie nun mit dem Nachfolger "Wishmaster" zur Stelle, damit den Prüfstand der genannten Personengruppen betretend und gespannt des Urteils harrend. Soweit man das bis zum heutigen Tage überblicken kann, brachen erneut fast alle in einhelligen Jubel aus - ich indes habe nur begrenzt Grund, in selbigen einzustimmen.
Der Druck auf Nightwish (bzw. Chefdenker Tuomas Holopainen) beim Schreiben von "Wishmaster" muß ungeheuer groß gewesen sein - er streitet das zwar ab, aber man kann es überdeutlich hören. Quasi jeder dürfte eher mit einem stilistisch sehr ähnlichen Nachfolger zum superbombastischen "Oceanborn" gerechnet haben, aber das finnische Quintett ist statt dessen einen Schritt zur Seite gegangen und hat seine straighte, kontrollierte Seite sehr stark ausgebaut. Diese Entwicklung ähnelt frappierend der von HammerFall auf dem Weg von "Glory To The Brave" zu "Legacy Of Kings": Die begeisternde Unbekümmertheit, die musikalische "Was kostet die Welt"-Einstellung und vor allem die Frische, die Spontanität sind weitgehend auf der Strecke geblieben und haben einer Art Routine Platz gemacht, die zwar die Songs als solche nicht wesentlich schwächer macht, aber irgendwie langweiliger, austauschbarer. Besonders die erste Hälfte von "Wishmaster" leidet sehr unter dieser Simplifizierung des Songwritings, das zudem auch dafür sorgt, daß die emotionale Tiefe besonders der Balladen auf der Strecke geblieben ist (man höre sich unter diesem Gesichtspunkt mal "Swanheart" und das neue "Two For Tragedy", die beide sogar noch textlich ähnlich gelagerte Szenarien, nämlich den Verlust einer Liebe, behandeln, nacheinander an), obwohl beispielsweise das Intro von "Come Cover Me" beweist, daß Nightwish nach wie vor in der Lage sind, sämtliche Nervenzellen des Körpers in freudig-romantische Erregung zu versetzen. Auch nicht gerade für die Band spricht, daß sie an einigen Stellen Elemente von "Oceanborn" wieder aufgegriffen, diese aber damit nicht unbedingt aufgewertet hat. Damit meine ich nicht etwa "Wanderlust" oder "Crownless", wo die meisten meiner Schreiberkollegen ein gewisses Kleben an "Oceanborn"-Vorlagen diagnostizierten, was ich wiederum nur begrenzt nachvollziehen kann, sondern beispielsweise das Intro zu "The Kinslayer", dessen Grundidee es in bedeutend filigraner ausgefeilter Version schon bei "Devil & The Deep Dark Ocean" gab. Trotz des erneut starken Dominierens von Tuomas' Keyboards haben Nightwish auch die klassisch orientierten Passagen stark zurückgeschraubt, was dann scheinbar durch die aufgrund der simplifizierten Songs erhöht geplante Eingängigkeit wettgemacht werden sollte.
Wäre da nicht die ihr Stimmspektrum gar noch etwas variabler einsetzende und nicht mehr nur in Sopranlagen jubilierende Tarja am Frontmikro, die komplette erste Hälfte von "Wishmaster" wäre zwar zweifellos immer noch guter, aber nahezu austauschbar über die Ostsee geschippert kommender orchestraler Melodic Metal. Die Wende zum richtig Positiven leitet erst der an sechster Stelle positionierte Tolkien-inspirierte Titeltrack ein, obwohl auch er in qualitativer Hinsicht auf "Oceanborn" nichts verloren gehabt hätte, da er - ein Novum bei Nightwish - mit seinem opulenten Arrangement überladen wirkt. Sowas wäre zu "Oceanborn"-Zeiten noch undenkbar gewesen, da machten selbst die fettesten Arrangements oder 238 übereinandergelegte Keyboardspuren im songwriterischen Kontext noch Sinn - hier nicht. Vielleicht liegt das daran, daß vor ihm die genannten verflachten Songs lagern, ich weiß es nicht, ich kann das auch nicht richtig rational erklären, vielleicht sehen das andere Hörer auch komplett anders. Jedenfalls stehen die wirklich starken Stücke, bei denen Tuomas beweist, daß er immer noch mitreißende Musik in JEDER der vorhandenen Sparten (also auch der eingängigeren, "hittigen") schreiben kann, ausnahmslos in der zweiten Albumhälfte, und jetzt stellt quasi jedes eine Steigerung zu seinem direkten Vorgänger dar: "Bare Grace Misery" nimmt es locker mit den single-verdächtigeren Tracks von "Oceanborn", etwa "Sacrament Of Wilderness", auf, vernachlässigt aber nie einen gewissen Grundanspruch in puncto Virtuosität oder instrumentaler Vertracktheit, "Crownless" stellt das "Stargazers" von "Wishmaster" dar (wenn es diesen Übersong auch nicht ganz von der Strecke schieben kann), und "Deep Silent Complete" ist fast noch hitverdächtiger als "Bare Grace Misery", allein schon die Chorusmelodie bohrt sich ins Ohr, als hätte sie Widerhaken wie meine Kakteen, und die "flackernden" Keyboardsounds rufen in mir wehmütige Erinnerungen an das Intro zu Crematorys "Dreams" hervor. Zwei überlange Epen beschließen "Wishmaster" letztlich, zum ersten wäre das "Dead Boy's Poem", das wieder diesen Nightwish-typischen Emotionenschub erzeugt, zu dem nicht zuletzt die herzklappenzerreißenden Gitarrenmelodien beitragen, und dessen Tempowechsel vor "A lonely soul" in jedem Arrangementlehrbuch stehen sollte. Der neunminütige Epic "FantasMic" setzt dann den Schlußstein, ist metallische Tonkunst vom Allerfeinsten, so mitreißend und frisch, so lebensfroh und übersprudelnd, wie man das eigentlich von der gesamten Platte erwartet hatte. Ich sitze, während "Wishmaster" gerade zum zwölften Mal durchläuft, hier vor meiner Tastatur und frage mich mit Tränen in den Augen, wie diese Platte geklungen hätte, wenn nur Songs dieser Qualitätsregionen darauf gestanden hätten. Ich wage es mir nicht vorzustellen. Fakt ist und bleibt, daß "Wishmaster" den hohen Erwartungen nicht im kompletten Maße gerecht werden konnte und, wenn man zu Rate zieht, was Nightwish können (und auf "Oceanborn" gezeigt haben), eine klare Enttäuschung darstellt. 95% aller anderen Bands würde ich zwar beglückwünschen, wenn sie diese Platte fabriziert hätten, aber von musikalischen Genies erwarte ich auch musikalische Geniestreiche, und die sind in der ersten Hälfte von "Wishmaster" (trotz der gewohnt hochklassigen instrumentellen wie gesanglichen Leistungen) abwesend. Ich halte also "Oceanborn" in Ehren und warte gespannt auf Nightwish-Album Numero vier, vielleicht setzt dieses das an "Oceanborn" fehlende Prozentchen noch drauf.
 




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