www.Crossover-agm.de SAD: Ballada O Gordom Ryzarje
von rls

SAD: Ballada O Gordom Ryzarje   (AWK Prodakschi)

Das ist so ein Fall, wo man im Plattenladen (in diesem Falle in einem in Naltschik, der Hauptstadt der Kabardino-Balkarischen Autonomen Republik im Nordkaukasus) ohne vorheriges Reinhören zugreift, auch wenn man den Namen der Band noch nie gehört hat: Das Backcover weist 29 Songs mit 70 Minuten Gesamtspielzeit aus und schreibt außerdem auffällig "Stil: Folk-Punk", das Cover wiederum zeigt einen partiell in Auflösungserscheinungen befindlichen Frauenrumpf, auf dem ein Mini-Napoleon festgewachsen (!) ist, während im Hintergrund Jonas Walfisch schwimmt, der bei näherer Betrachtung eher einem Zeilkarpfen ähnelt, bevor man sich auf dem erwähnten Backcover einer ganzen Armada dieser Fische gegenübersieht. Noch paradoxer wird es im Inneren des Digipacks: Eine von hinten durchaus interessant aussehende junge Frau im Evaskostüm (nicht das Vorbild fürs Cover, wie die Körperform nahelegt) steht vor einem zweimanualigen Keyboard scheinbar schon etwas älteren Datums und hält einen Blumentopf mit einer Lichterscheinung in der Hand, während auf dem Foto daneben ein anderer Blumentopf auf dem Keyboard abgestellt wurde, flankiert von einer Tschaikowski-Büste und einer Unterhose Marke "Liebestöter". Was uns Sänger/Gitarrist/Chefdenker Wladimir Serafinow, der auch für die optische Gestaltung verantwortlich zeichnet, damit sagen wollte, darüber dürfen wir uns jetzt lange und ausgiebig Gedanken machen ...
... nämlich genau 70 Minuten und 4 Sekunden lang. Wenn man das durch die 29 Songs dividiert, kommt man auf eine eher niedrige Durchschnittsspielzeit, was eine höhere Musiziergeschwindigkeit nahelegt, selbst wenn man bedenkt, daß es sich um eine Milchmädchenrechnung handelt, da einige der Songs Intros oder kurze Zwischenspiele sind. Trotzdem tun uns Serafimow und seine Spießgesellen, drei feste Bandmitglieder und eine Schar Gäste, den Gefallen wilder Tanzbodenmusik mit hoher bpm-Zahl nur selten - bis zu Song 9, "Min Et", muß man warten, bevor man das Tanzbein mal in hoher (nicht höchster!) Geschwindigkeit schwingen darf, und erst "Schabinka" an Position 23 bedient die Speedklientel dann mal richtig. Das mag jeder Hörer nach seinem persönlichen Gusto als Vor- oder Nachteil empfinden - der Jugend wird Sads gesetzte Herangehensweise möglicherweise nur ein Gähnen entlocken, während das gereiftere Alter sich möglicherweise eher freut, daß endlich mal jemand nicht auf den Schnellzug aufspringt, der da mit Russkaja oder den Cosmonautix im Führerstand durch die Lande rast. Mit dem Punk in der genannten Stilbeschreibung ist es auch so eine Sache. Zwar gehen Sad ideologisch mit ihrer "Was andere über uns denken, kümmert uns nicht"-Haltung (das Bandfoto im Booklet spricht diesbezüglich auch noch einmal Bände) zweifellos punkkonform zu Werke, aber rein musikalisch haben sie mit der heutigen Definition von Punk gar nichts und selbst mit der alten 77er-Definition, die heutzutage längst in den Pop verschoben worden ist, eher wenig zu tun. Immerhin bis zu Song 8, "Skaska", dauert es, bis man die erste elektrisch verstärkte Gitarre zu hören bekommt, und dieser Song ist auch definitiv kein Punk, sondern massiv-schleppender Rock mit Reggae-Kante. Im Gegensatz zu vielen anderen Mitbewerbern setzen Sad übrigens laut Booklet ausschließlich auf Eigenkompositionen, von zwei Texten abgesehen - prüfe der Kenner der russischen Folkmusik nach, ob das stimmt, denn zumindest die Klarinettenmelodie in "Wan Gog" hat der Rezensent definitiv irgendwo anders schon mal gehört, wobei es natürlich auch sein kann, daß hier zwei Künstler auf ein und dieselbe Inspirationsquelle zurückgegriffen haben. "Romaschka" gleich danach beispielsweise könnte, wenn der Gesang nicht Russisch wäre und man das Akkordeon durch eine Drehleier oder eine Violine ersetzte, durchaus auch auf einem Schandmaul-Album stehen und enthält (an Position 18!) das erste E-Gitarren-Solo des Albums, als Kontrapunkt im Outro dann aber auch noch ein Balalaika-Solo. "Biletik" im Anschluß läßt mit seinem zupackenden Anfang vermuten, daß die Scheibe nach hinten heraus doch noch etwas rockiger würde als zu Beginn und daß der Stempel "Eto-Rok" auf dem Backcover, den man als Songtitel ja von Tschornij Kofje kennt, vielleicht doch noch seine Bewahrheitung finden würde, aber es bleibt ein Strohfeuer. Wenn dem Hörer diese reduzierte Energie genügt, kann er in den Songs freilich einiges Interessantes entdecken, beispielsweise den originellen Tangorhythmus in "Pesnja Dlja Ljubimoi", der im heutigen populärmusikalischen Kontext ja eher selten zu hören ist und wohlige Erinnerungen, nein, nicht an Doros "Metal Tango", sondern an Udo Lindenbergs "Bodo Ballermann" aufkommen läßt. Auch das Tubasolo in "Musykant" hat definitiv Charme. Eine Überraschung erlebt man dann noch mit dem Titeltrack. Der steht gleich in drei verschiedenen Versionen auf dem Album, deren Entstehung sich über ein komplettes Jahrzehnt erstreckt. Die reguläre Albumversion stammt frühestens von 2007 (in diesem Jahr wurden laut Booklet die Drums des Albums eingespielt - über die Zeitstellung der restlichen Aufnahmen dagegen schweigt man sich aus, und der Release des Albums fiel schließlich ins Jahr 2011), die den Audioteil abschließende Fassung dagegen schon von 1998. Dort spielt noch Marina Kunz Flöte, während auf der regulären Albumversion Klarinettist Jewgeni Lukjanschik die Holzbläserrolle übernimmt und einen viel melancholischeren Grundton erzeugt, der ein ganz eigenes, mit der oftmals als typisch russisch angesehenen Melancholie durchaus korrespondierendes Feeling erzeugt, während die Frühfassung ein bißchen an alte Kämpen wie Jethro Tull oder auch an die Spätphase der ersten Aktivitätsperiode von Empyrium erinnert, zwar immer noch viel düstere Stimmung transportiert, aber allein aufgrund des helleren Flötentons doch etwas "lichter" ausfällt und nach hinten heraus noch das Tempo beschleunigt und in eigentümlichen Seventies-Rock (ganz ohne E-Gitarre!) umschlägt. Als dritte Version hört man schließlich noch eine von 2005 in einem Video - eine reduzierte Akustikversion, live dargeboten mit Stimme und Akustikgitarre, in der zweiten Hälfte noch mit Akkordeonunterstützung und gelegentlichen Percussionseinwürfen, übrigens mit nicht mal drei Minuten Spielzeit auch die bei weitem kürzeste der drei Fassungen und eine große Textsicherheit beim Publikum offenbarend. So bleibt summiert nach den 70 Minuten ein eigentümliches Bild zurück, eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem russischen Folk als Basis, die man je nach persönlicher Erwartungshaltung richtig gut und interessant finden kann, aber nicht muß, da das heimische Analysepotential etwas anders ausfällt als beispielsweise im Falle der Cosmonautix. Wer wie der Rezensent das Album freilich in einem russischen Plattenladen als offizielle Pressung für umgerechnet 3 Euro entdeckt, sollte analog handeln und ohne großes Überlegen zugreifen.
Kontakt: avkoshelev@mail.ru (das ist der Manager Alexei Koschelew)

Tracklist:
Mischka
Stradanija
Marinka
Pesnja Dlja Ljubimoi
Kon
Pandorina Korobotschka
Wiwisektor
Skaska
Min Et
Wot Takoi Disney
Rubaschka
Awtobiografija
Cholodno
Na Oblake Bjes Schtanow
Sobatschij Kutschki
Soloto
Wan Gog
Romaschka
Biletik
Tri Sestry
Baobab
Prijesschaitje
Schabinka
Ballada O Gordom Ryzarje
Ja Was Ljubil
Musykant
Posleslowije
Posleswutschije
Ballada O Gordom Ryzarje (1998)
Ballada O Gordom Ryzarje (Video 2005)
 




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