www.Crossover-agm.de THE NEAL MORSE BAND: The Similitude Of A Dream
von rls

THE NEAL MORSE BAND: The Similitude Of A Dream   (Radiant Records)

In gewisser Weise ist das Schaffen von Neal Morse ja ausrechenbar: Man bekommt entweder Progrock oder Singer-Songwriter-Lobpreis geboten, bisweilen auch Mischformen beider Stilistika. Welche Wundertüte der einfallsreiche Musiker aber auf jedem seiner neuen Werke öffnet, das bleibt jedes Mal aufs neue spannend - thematisch wie musikalisch. Man führe sich nur mal "Sola Scriptura" vor Augen, ein Luther-Konzeptalbum, erschienen anno 2007, also lange bevor man das Reformationsjubiläum zum gigantischen Medienereignis aufzuplustern begann. Neun Jahre später, also unmittelbar an der Schwelle zum besagten Jubiläumsjahr, ist Morse schlau genug, sich nicht auch noch mit "Sola Scriptura 2" oder anderen gleichgerichteten Werken in den großen Pool der Luther-Verarbeiter zu stürzen - er hat seine Meinung bereits gesagt und künstlerisch dargelegt. Statt dessen vertont er diesmal einen Teil des Buches "The Pilgrim's Process" von John Bunyan aus dem Jahr 1678, aus dessen urlangem Originaltitel (sowas war im Barock ja gang und gäbe) auch die Titelgebung für das entstandene Doppelalbum stammt. Die Handlung fällt in die Sparte der traditionellen frühaufklärerischen Erlösungsliteratur, also einer Generation, die das Motto "Sola Scriptura" zwar in bestimmten Kontexten noch unterschreibt, zugleich aber erweitert, die Antwort aber dennoch innerhalb des Glaubensspektrums findet und nicht außerhalb desselben, wie es dann die Aufklärer hundert Jahre später taten. Interessanterweise vertont Morse nach eigener Aussage nicht etwa das ganze Buch und hat es auch nie komplett gelesen - der Vorschlag, es als Basis für ein Konzeptalbum zu wählen, wurde von außen an ihn herangetragen, und Morse beschränkte sich dann darauf, bestimmte Kernpunkte der Handlung auszugoogeln (!) und diese dann zu vertonen. Kurioserweise wurde in Zusammenarbeit mit den anderen Bandmitgliedern dann ein volles Doppelalbum mit 107 Minuten Spieldauer daraus, das allerdings nur die ersten 75 bis 80 Seiten des Buches abdeckt - Morse läßt sich in seinen Statements zum Albumrelease die Möglichkeit einer Fortsetzung ausdrücklich offen.
Vorerst muß sich der geneigte Anhänger also mit den besagten 107 Minuten, die sich auf 23 Nummern verteilen, begnügen. Aber auch diese halten ihn schon für geraume Zeit beschäftigt, denn Morse und seine Mitstreiter öffnen abermals ein Füllhorn von Ideen, arbeiten aber zugleich mit klassischen Mitteln des konzeptualen Songwritings, also etwa einem Hauptthema, das im allerersten Stück "Long Day" (der eigentlichen "Overture" noch vorgeschaltet) eingeführt wird und später an etlichen Stellen in variierter Form vorkommt, bevor es den zehnminütigen Closer von CD 2, "Broken Sky/Long Day Reprise", nochmals strukturell prägt. Das ist per se natürlich nichts Neues, offenbart aber Morses Meisterschaft, trotz allen inhaltlichen wie spieltechnischen Anspruchs nicht alles Althergebrachte über Bord zu werfen, wie das heutzutage in mancherlei Kontexten hochkomplexer Musik geschieht. Und trotzdem staunt man gelegentlich, weil man zumindest als Morse-Gelegenheitshörer (der Rezensent hat etliche Exempel seines Schaffens im Schrank, aber längst nicht das Gesamtwerk) doch das eine oder andere Stilmittel entdeckt, das man von Morses Bands bisher kaum kannte. Als exzellente Beispiele hierfür kann der Beginn von CD 2 dienen, wo zunächst "Slave To Your Mind" so nahe an Deep Purple lagert, daß man ob der Geschicktheit, mit der Morse hier Purple-Elemente in seinen Progrock integriert, baß erstaunt ist (und da muß ein Hybride aus Ian Gillan und Toxic Smiles Larry B. singen!), bevor das drittplazierte "The Man In The Iron Cage" das Gleiche mit Led-Zeppelin-Elementen tut. "Draw The Line" wiederum modernisiert klassische Beatles-Elemente in einer ähnlichen Form, wie das King's X oder die Galactic Cowboys taten, packt aber ebenfalls noch eine Ladung klassischen Morse-Progrock hinzu, "Breath Of Angels", das majestätische Finale von CD 1, arbeitet Gospelchorklänge ein, der "Freedom Song" geht folkig zu Werke, und "The Ways Of A Fool" mixt klassische Queen-Elemente mit einer Portion Boogie (und wenn man nicht davon ausgehen müßte, daß Morse noch nie von der Münchener Freiheit gehört hat, so könnte man durchaus vermuten, daß er auch einen kleinen Spritzer von denen hier integriert hat), bevor es wieder völlig eigene Wege zu gehen beginnt und nur mal kurz zu Emerson Lake & Palmer rüberwinkt. Pink Floyd wiederum winken gleich an etlichen Stellen um die Ecke, aber das ist im Morse-Kontext ja spätestens seit der "Shine On You Crazy Diamond"-Coverversion von Transatlantic nichts Neues. Apropos Transatlantic: Deren Trommler Mike Portnoy blieb Morse bekanntlich seit damaligen Zeiten eng verbunden, und "The Similitude Of A Dream" markiert bereits das 18. Album, das die beiden gemeinsam gestemmt haben. Auch Bassist Randy George gehört schon jahrelang zum Morse-Kosmos, während Keyboarder Bill Hubauer und Gitarrist Eric Gillette erst seit 2012 an Bord sind, als Morse sich entschloß, sein Solo-mit-Gastmusiker-Schaffen gegen eine feste Band einzutauschen, die freilich immer noch ihn selbst als Nukleus besitzt. Den Vorgänger "The Grand Experiment" und das zwischengelagerte Livealbum "Alive Again", die auch schon mit der besagten Besetzung entstanden sind, besitzt der Rezensent bisher nicht und kann daher keine Direktvergleiche anstellen, von der grundlegenden Aussage, daß auch hier keine Bocksprünge getätigt worden sind, abgesehen. Aber solche erwartet man hier ja auch nicht - Progressive Rock steht im vorliegenden Fall für zwar vorsichtige Erweiterungen und eine musikalisch freidenkerische Grundhaltung, aber nicht für den Zwang zum permanenten Sich-Neu-Erfinden, womit Morse wie eingangs erwähnt in gewisser Weise ausrechenbar wird, aber trotzdem spannend bleibt. Ob sich unter den 23 Nummern Fanfavoriten, und "Hits" herauskristallisieren, muß freilich abgewartet werden, aber das erwähnte "Long Day"-Thema ist einprägsam genug, um sich langfristig im Ohr festzusetzen, und daß Morse gute Refrains schreiben kann, dürfte mittlerweile hinlänglich bekannt sein. So darf sich der geneigte Anhänger abermals über 107 hochklassige Minuten Musik freuen und gespannt erwarten, ob das Quintett irgendwann mal einen zweiten Teil über die nächsten Seiten des Buches (der Protagonist ist ja noch lange nicht im Stadium der Erlösung angekommen, auch wenn Morse ihn die Erkenntnis und die gedankenräumliche Situation in "Broken Sky/Long Day Reprise" schon mal vorwegnehmen läßt - schließlich soll "The Similitude Of A Dream" ja primär autark funktionieren, und der hier vorgenommene Kunstgriff läßt sowohl die Deutung, die geschilderte Erlösungssituation sei real, als auch diejenige, es sei nur eine Vision, und die Geschichte gehe auf einem Fortsetzungsalbum noch weiter, zu) nachschieben wird. Der geneigte Anhänger hat übrigens die Wahl zwischen der Standard-Doppel-CD, der Dreifach-LP (die zugleich eine Doppel-CD enthält) und der Special Edition, die neben der Doppel-CD noch mit einer Making-Of-DVD aufwartet, welchletztere zur Rezension allerdings nicht vorlag.
Kontakt: www.radiantrecords.com, www.nealmorse.com

Tracklist:
CD 1
1. Long Day
2. Overture
3. The Dream
4. City Of Destruction
5. We Have Got To Go
6. Makes No Sense
7. Draw The Line
8. The Slough
9. Back To The City
10. The Ways Of A Fool
11. So Far Gone
12. Breath Of Angels

CD 2
1. Slave To Your Mind
2. Shortcut To Salvation
3. The Man In The Iron Cage
4. The Road Called Home
5. Sloth
6. Freedom Song
7. I'm Running
8. The Mask
9. Confrontation
10. The Battle
11. Broken Sky/Long Day Reprise
 




www.Crossover-agm.de
© by CrossOver