www.Crossover-agm.de PINK FLOYD: The Endless River
von rls

PINK FLOYD: The Endless River   (Parlophone)

"The Endless River" waren die Worte der vorletzten Textzeile auf "The Division Bell", dem bislang letzten Studioalbum Pink Floyds, das im Jahre 1994 das Licht der Welt erblickt und im Gedächtnis der Musikwelt besonders durch seinen großartigen letzten Song "High Hopes", aus dem besagte Zeile stammt, überdauert hatte. Der Gedanke, beide Alben könnten etwas miteinander zu tun haben, liegt also nicht fern, und er stellt sich natürlich auch als korrekt heraus. "The Endless River" ist dabei kein neues Studioalbum im eigentlichen Sinne, auch wenn die Werbung natürlich einen Eindruck in dieser Richtung zu vermitteln versucht, um das neue Werk vermeintlich aufzuwerten. 20 Jahre nach "The Division Bell" haben Gitarrist David Gilmour und Drummer Nick Mason die damaligen Songs und Songfragmente, die nicht für das Album verwendet wurden (und davon soll es eine Menge geben - der gesamte Songideenfundus soll 65 Stücke umfaßt haben, aber auf "The Division Bell" landeten letztlich nur elf), nochmal gesichtet und 18 davon (wobei allerdings auch andere Quellen angezapft worden sein sollen) zu einem Gedächtnisalbum für den anno 2008 verstorbenen Keyboarder Richard Wright zusammengestellt. Genaugenommen haben wir es also mit "Resteverwertung" zu tun, was nicht mal zwingend pejorativ zu verstehen ist, denn erstens gibt es gerade im Falle einer Mega-Band wie Pink Floyd durchaus Legionen von Anhängern, die, wenn sie schon kein neues Studiomaterial bekommen können (und an solches scheint derzeit wirklich nicht zu denken zu sein, weder von der Gilmour-Mason-Fraktion noch von "Erzfeind" Roger Waters), zumindest nach diesem Stoff hier lechzen werden, und zweitens sind Floyd ja durchaus Könner, von denen man erwarten darf, daß auch die Outtakes noch eine so hohe Qualität haben, daß sich manch andere Band die Finger danach lecken dürfte.
Nun liegt "The Endless River" also vor (übrigens in verschiedenen Formaten, auch diversen Packages mit DVD-Beilagen - die Rezension beruht hingegen auf dem ganz einfachen Audio-Album), und es muß zunächst eine Warnung an die Pink-Floyd-Gelegenheitshörer ausgesprochen werden: Alle, deren Werkkenntnis sich auf "Another Brick In The Wall Part 2" und zwei, drei Hits von "Dark Side Of The Moon" beschränkt, werden mit den knapp 53 Minuten Musik kaum glücklich werden. Pink Floyd waren ja noch nie eine Single-Band, aber ihr Material geriet trotzdem in vielen Fällen eingängig genug, daß sich ein Hitcharakter zeigte, selbst in Über-Zehn-Minütern wie "Shine On You Crazy Diamond". Von solchen Kompositionen findet sich auf "The Endless River" kaum etwas: Gilmour und Mason haben vier Suiten (im Booklet mit "Side 1-4" deklariert und somit wohl auch als Doppel-LP in dieser Aufteilung erhältlich) zusammengestellt, die jeweils aus drei bis sieben Songfragmenten bestehen, von denen so gut wie keins auch als eigenständiger Song bestehen könnte, zumal es sich mit Ausnahme des letzten Stückes von Suite 4, "Louder Than Words", auch noch komplett um Instrumentalstücke handelt, die überwiegend Ideen und Sounds transportieren, welche zwar durchaus als Basis eines "richtigen" Songs verwendbar wären, aber eben nicht bis in dieses Stadium hin ausgearbeitet worden sind. Vor allem Suite 3, in der sechs der sieben Stücke jeweils nur zwischen anderthalb und zwei Minuten dauern, fällt in die Gattung "suitengewordene Ideensammlung", während in den anderen drei Suiten jeweils zumindest ein theoretischer Singlekandidat steht. Den von Suite 4 haben wir bereits genannt, in Suite 2 handelt es sich um "Anisana" mit seinen liedhaften Saxophon- und Klarinettensoli (zu dem es interessanterweise auch ein Video gibt, das auf einer der anderen Editionen als Bonusmaterial enthalten ist) und in Suite 1 um das über sechsminütige "It's What We Do", das möglicherweise nicht zufällig einige Elemente, vor allem im Keyboardspiel, beinhaltet, die man in ähnlicher Form von "Shine On You Crazy Diamond" her kennt. In Suite 3 hätte das dreieinhalbminütige "Talkin' Hawkin'" (mit Sprachsamples von Stephen Hawkins und einem Backingchor, der auch von der dunklen Seite des Mondes stammen könnte) in Richtung eines eigenständigen Werkes entwickelt werden können, wenn denn das das Ziel der Ausgrabungsarbeiten gewesen wäre.
Die Frage ist nun allerdings, ob die genannten vier Suiten als "absolute Musik" funktionieren. Hier dürften die Meinungen geteilt sein. Themenstrukturen und -verarbeitungen, wie man sie aus der klassischen Musik kennt, gibt es in übergreifender Form in "The Endless River" nicht (die zwei "Allons-y"-Teile mal ausgeklammert), aber ihrer bedarf es in der Gattung der Suite ja auch nicht. In selbiger können die einzelnen Bestandteile allerdings auch eigenständig funktionieren, was hier wie beschrieben nur eingeschränkt der Fall ist. Im Ambient-Genre kennt sich der Rezensent zuwenig aus, um zu urteilen, ob die 53 Minuten dort richtig einschubladisiert wären und mit entsprechendem Genuß von den entsprechenden Fanscharen, die den Namen Pink Floyd zumindest überwiegend schon mal gehört haben könnten, goutiert würden. So bietet sich wohl am ehesten ein Querverweis in Richtung Filmmusik an: "The Endless River" besitzt durchaus einen soundtrackartigen Charakter, und mit solchen Arbeiten haben Pink Floyd aus ihrer Vergangenheit heraus ja auch bereits Erfahrung, wenngleich "Obscured By Clouds" als bisher "jüngstes" Projekt dieser Gattung auch schon über 40 Jahre auf dem Buckel hat ("The Wall" fällt nicht in diese Kategorie). Sonderlich dramatisch sollte der hypothetische Streifen zu "The Endless River" allerdings nicht ausfallen, denn das Gros der Musik fließt titelgemäß dahin, nur wenige Stromschnellen gilt es zu überwinden, und abgründige Katarakte, die es selbst auf Alben wie "Wish You Were Here" gab (nämlich in "Welcome To The Machine"), bleiben komplett abwesend, ebenso wie der Seespiegel auf dem Cover offensichtlich ruhig und friedlich unter einer Nebeldecke liegt (das zugrundeliegende Foto soll vom Aralsee stammen bzw. von dem, was von selbigem noch übrig ist - für die optische Gestaltung zeichnet wieder einmal Hipgnosis verantwortlich, obwohl auch hier nicht mehr alle traditionell an Pink-Floyd-Alben Beteiligten mitwirken konnten, da Storm Thorgerson 2013 verstorben ist). Ob man das jetzt mag oder nicht, liegt wie immer im Auge bzw. Ohr des Konsumenten. Einigen werden die Suiten in der Form gefallen, andere werden über eine lange Zeit die Gedanken nicht loswerden, wie es gewesen wäre, hätte man die in vielen Fällen durchaus hochklassigen Songfragmente noch zu "richtigen" Songs ausgearbeitet, und wieder andere, nämlich die erwähnten Gelegenheitshörer, dürften eher gelangweilt gähnen. Die-Hard-Anhänger wiederum saugen jede Note in sich auf, betrachten mit einer Träne im Knopfloch die Fotos von den damaligen Aufnahmesessions im Booklet, als Gilmour noch Haare hatte, und hegen ihr kleines Pflänzchen namens Hoffnung: Von den 65 Songs bzw. Songideen sind ja erst maximal 29 (oder gar weniger, je nachdem, wie groß der Anteil an anderweitigen angezapften Quellen für "The Endless River" nun wirklich war) veröffentlicht, ergo müssen da immer noch mindestens 36 irgendwo ruhen, und es könnte ja sein, daß irgendwann noch ein weiteres "Resteverwertungs-Album" erscheint, das den Titel der letzten "High Hopes"-Textzeile, also "Forever And Ever", trägt ...
Kontakt: www.pinkfloyd.com

Tracklist:
Things Left Unsaid
It's What We Do
Ebb And Flow
Sum
Skins
Unsung
Anisina
The Lost Art Of Conversation
On Noodle Street
Night Light
Allons-y (1)
Autumn '68
Allons-y (2)
Talkin Hawkin'
Calling
Eyes To Pearls
Surfacing
Louder Than Words
 




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