www.Crossover-agm.de MARILLION: A Sunday Night Above The Rain
von rls

MARILLION: A Sunday Night Above The Rain   (Ear Music/Edel)

Der 10. März 2013 war ein Sonntag, und es war ein doch ziemlich besonderer Tag - zunächst meteorologisch: Norddeutschland wurde an diesem Tag von einem späten Wintereinbruch heimgesucht, der beispielsweise die damalige Lebensgefährtin des Rezensenten nur mit Mühe auf tiefverschneiten Straßen von Thüringen zur Ostsee vordringen ließ (der Winter seinerseits drang dann auch noch weiter nach Süden vor und setzte sich noch für vier Wochen gemütlich fest). An den Tagen zuvor hatte allerdings noch deutlich friedlicheres Wetter geherrscht, und so hatten Menschen aus 44 Ländern den Weg ins niederländische Port Zélande gefunden, wo eines der beiden Marillion-Wochenenden des Jahres 2013 stattfand. Das andere ging in Montréal über die Bühne, und die Konzerte beider Wochenenden wurden mitgeschnitten und in der Folge zumindest partiell auf Bild- und/oder Tonkonserve veröffentlicht.
Die vorliegende Doppel-CD enthält, wie der Leser anhand der Einleitung sicherlich schon vermutet haben wird, den Konzertmitschnitt vom besagten 10. März 2013. Marillion pflegen für diese Fanwochenenden immer mal spezielle Setlisten vorzubereiten, und auch an diesem Abend liegt ein solcher Spezialfall vor. Zunächst eröffnen sie mit "Gaza", dem Opener ihres seinerzeit und auch zum Rezensionszeitpunkt noch aktuellen Studioalbums "Sounds That Can't Be Made" - und mit so einer Nummer zu eröffnen muß man sich erstmal trauen: In Tobias' Review besagten Albums finden sich zu diesem Song die Worte "orientalische Skalen, elektronische Einwürfe, unerwartet harte Gitarren, rasante Stimmungswechsel", und außerdem ist er knapp 20 Minuten lang. Aber gerade wegen solchen Wagemuts lieben Marillion-Anhänger "ihre" Band. Und mal ehrlich: Bei welcher anderen altgedienten Formation würde die Ankündigung, daß an diesem Abend das aktuelle Album komplett erklinge, einen derartigen Jubel auslösen wie nach Steve "h" Hogarths entsprechender Ansage hier zwischen "Gaza" und "Waiting To Happen"? (Oder überhaupt Jubel ...) Über die Qualitäten der anderen sieben Songs in der Studiofassung lese man bei Interesse in Tobias' Review nach - der Rezensent besitzt die Scheibe zwar, aber sie liegt noch auf dem großen Stapel der Ungehörten, und somit muß er sich Vergleiche der Konserven verkneifen. Marillion spielen die acht Songs des neuen Werkes allerdings nicht am Stück, sondern mixen die anderen fünf Nummern des Sets ein, und die bezeichnet der Aufkleber auf der Frontseite als "rare fan favourites". Nun ist der Chefredakteur mit dem Marillion-Schaffen nur ausschnittweise vertraut - das jüngste Album, das sich im bereits gehörten Teil der Tonträger-Sammlung befindet, heißt "Brave" und stammt aus dem Jahr 1994, und auch von den Vorgängern stehen nicht alle in der Kollektion. Kollege Tobias als Marillion-Spezialist könnte also treffsicherer urteilen, ob die Aufkleber-Formulierung eine mehr oder weniger charmante Übertreibung darstellt oder aber der Realität entspricht - der Chefredakteur muß sich mit Sekundärwissen und Höreindrücken begnügen. Aber letzterer ist schon bei "Waiting To Happen" äußerst aufschlußreich: Im einleitenden langen Akustikpart übernimmt das Publikum den Gesang fast in Eigenregie und erschafft damit ein Gefühl, das man in ähnlicher Form von Blind Guardians "Bard's Song" kennt, während der harte Mittelteil einen wirkungsvollen Kontrast setzt, so daß diese reichlich fünf Minuten, original vom 1991er "Holidays In Eden"-Album stammend, zumindest in dieser Livefassung ohne Wenn und Aber überzeugen. Der Titeltrack von "This Strange Engine" war Tobias zufolge im Vergleich mit "Interior Lulu" auf dem zwei Jahre später erschienenen "marillion.com"-Album unterlegen, aber selbiges Stück erklingt an diesem Abend nicht, und somit bleibt hier nur eine Einzelbewertung, die beileibe nicht schlecht ausfällt: Im Gegensatz zu den oftmals eher fließend angelegten Klängen der jüngeren Marillion liegt hier die Break- und Überraschungsdichte, die nicht mal vor einem Kinderchor haltmacht, höher, und wenn man sich erstmal in diverse Wechsel reingehört hat, passen sie auch dorthin, wo sie stehen, und man kann sich auf die Erkundung der Klangschönheiten (z.B. der streckenweise traumhaften Gitarrenarbeit von Steve Rothery - was für ein Solo ab Minute neuneinhalb!) konzentrieren. Das Booklet (mit vier Seiten nicht gerade üppig) verrät uns übrigens nicht, wer hier das ab Minute 9 erklingende Saxophonsolo spielt - Besitzer der DVD können diesbezüglich weitergehende Anhaltspunkte ergründen. Daß h hier in puncto Stimmgestaltung bisweilen einen leicht übermotivierten Eindruck hinterläßt, könnte wiederum inhaltliche Gründe haben - die sich überschlagende Stimme im Finale garantiert, bei manchen Passagen zuvor ist man sich freilich nicht immer sicher. Sicher ist man sich allerdings bei der Bewertung des Gitarrenthemas in "Lucky Man" (kein ELP-Cover, sondern ein Eigenwerk) als Weltklasse, während das gleichfalls neue "Pour My Love" ein wenig unauffällig wirkt, allerdings in der gegebenen Konzertreihenfolge einen prima Ruhepol zwischen den beiden Brocken "This Strange Engine" und "Neverland" hergibt, wobei letzteres, der Closer des von Tobias favorisierten "Marbles"-Albums von 2004, trotz seiner gleichfalls über zehnminütigen Laufzeit zu den wie aus einem Guß wirkenden und das "Panta Rhei"-Prinzip verinnerlicht habenden Großwerken zählt und neben dem prägenden Rothery hier auch Keyboarder Mark Kelly hervorgehoben werden muß, der das Stück ein klein wenig näher in Pink-Floyd-Nähe rückt. Und wenn h dann noch zum Schellenkranz greift, ist das Finale nicht mehr weit, das mit vertrackten Drumbeats Ian Mosleys einen kompletten Kontrapunkt zum Rest des Songs setzt. Auf der Konserve durch den Scheibenwechsel nach "Invisible Ink" unterbrochen, folgt im Konzert nunmehr gleich ein ganzer Viererblock vom "Sounds That Can't Be Made"-Album, eingeleitet durch die genannte, zwischen Ruhepolen und für Marillion-Verhältnisse extrem schnellen Stakkatoparts pendelnde Nummer. Dann ist es nach sieben Songs respektive 76 Minuten Spielzeit Zeit, die zweite Scheibe mit den restlichen 59 Minuten Musik einzuwerfen, von denen "Montréal" gleich mal ein Viertel einnimmt. Daß das zweite Marillion-Wochenende des besagten Jahres in ebenjener Stadt stattfand, könnte also nicht zwingend auf einem Zufall beruhen (während sich Gaza derzeit nicht als Veranstaltungsort anbietet - man hätte es aber z.B. durch "Berlin" ersetzen können ...). In diesem Song und im folgenden "Power" dürfte hs Stimme momentweise allerdings wirklich an ihre Grenzen stoßen - aber er war ja auch schon das ganze Wochenende über im Einsatz gewesen, und bezieht man diesen Aspekt mit ein, so fordert seine Leistung definitiv Respekt, zumal er ja auch nicht mehr der Allerjüngste ist. Der Titeltrack "Sounds That Can't Be Made" (ein hübsches Oxymoron) schließt diesen neuen Viererblock ab und mutet geradezu konventionell an - aber das muß im Marillion-Kontext noch nichts Schlechtes bedeuten, und speziell Rothery zaubert hier im langen Schlußteil mal wieder fleißig, während h wieder kämpft. Dann ist es wieder Zeit für einen Ausflug in die Vergangenheit: "The King Of Sunset Town" eröffnete ein Vierteljahrhundert zuvor das "Seasons End"-Album und auch die Gigs der zugehörigen Tour - und das waren die ersten Tonzeugnisse von h mit Marillion, also von größter Markanz und Wichtigkeit, da viele Anhänger noch auf seinen Vorgänger Fish fixiert waren. Leicht gemacht hat es sich die Band damals durchaus nicht, und auch heute hinterlassen speziell die Drums noch einen mehr als nervösen Eindruck, was freilich auch hier wieder prima als Kontrapunkt zwischen das fließende Finale des "Sounds ..."-Titeltracks und den verträumten Abschluß des zugehörigen Albums, "The Sky Above The Rain", paßt, der wieder mal zehn Minuten lang durch stimmungsvolle Klanglandschaften mäandert. Für die Zugabe buddeln Marillion dann noch ganz weit in der Vergangenheit und finden "Garden Party", eine der beiden Singleauskopplungen vom 1983er Debüt "Script For A Jester's Tear" und damit der einzige Song aus der Fish-Ära, der den Weg in die Setlist dieses Abends gefunden hat - er wird selbstredend vom Auditorium begeistert mitgesungen, und h gibt in den Vokalisen im Mittelteil nochmal alles und meistert diese, als sei es der Beginn des ersten Wochenendkonzertes und nicht das Ende des letzten. Auch Mosley darf kurz vorm Finale nochmal richtig Gas geben. 135 Minuten (Prog) Rock vom Feinsten stehen auf dieser ohne Wenn und Aber erwerbenswerten Doppel-CD, die im Hörgenuß nur durch ein merkwürdiges dezentes Knistern getrübt wird. Sollte da tatsächlich beim Herstellen des Masters etwas schiefgelaufen sein?
Kontakt: www.ear-music.net, www.marillion.com

Tracklist:
CD 1
Gaza
Waiting To Happen
Lucky Man
This Strange Engine
Pour My Love
Neverland
Invisible Ink

CD 2
Montréal
Power
Sounds That Can't Be Made
The King Of Sunset Town
The Sky Above The Rain
Garden Party



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