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Die h-Marillion - Discographie-Check
von ta anno 2015

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Die Discographie von Marillion ist hochinteressant. Im Jahr 1979 als Tolkien-beeinflusste Instrumentalband gestartet, wurden die Alben der 80er Jahre wegweisend für den britischen NeoProg. Mit dem Sängerwechsel von Derek William "Fish" Dick zu Steve "h" Hogarth 1988/1989 endete eine goldene und stilistisch einheitliche Ära. Seitdem stehen Marillion für alles, nur nicht Einheitlichkeit. Ausrichtung wie auch Qualität der Alben unterscheiden sich mitunter extrem. Den Sprung von Götterklängen zu Schund schafft die Band problemlos von einem Album zum Nachfolgealbum. Die Experimentierfreude von Marillion brachte wahrhaft Großes hervor, aber auch völlig Belangloses.
Was die Band in der inzwischen mehr als 25-jährigen h-Ära auszeichnet, ist, dass sie immer in die Vollen geht: Wenn es bedrückend und traurig wird, dann erreichen Marillion dabei eine Tiefe wie keine andere Band und schreiben die schwermütigsten Songs, die es gibt auf der Welt. Wenn sie poppig sind, dann mit richtig viel Schmalz und Gesäusel. Und wenn ausgefallene Ideen eingeflochten werden, wird es schnell doppelbödig und ironisch. Egal wie man zu den einzelnen Ergüssen von Marillion steht, es ist unmöglich, von dieser Konsequenz nicht ein klein wenig beeindruckt zu sein.
Im Ergebnis sind die Alben von Marillion in meiner Wahrnehmung entweder richtig gut oder völlig daneben, Top oder Flop - es gibt keine Mittelklasse, nur Welt- und Oberklasse oder Scheiß. Und das macht die Band besonders.
Die Inhomogenität der h-Ära verdient einen Leitfaden, der hiermit - natürlich ganz subjektiv - zur Debatte gestellt wird. Aufgenommen sind nur die regulären Studioalben, also keine Remix-, Akustik- und Live-Alben.

WELTKLASSE

Brave (1994, EMI)
Brave
Als "Brave" erschien, hatten Marillion nach dem "Holidays In Eden"-Reinfall einiges an verlorenem Boden wieder gutzumachen. Und das taten sie mit überwältigendem Ergebnis. Das geradezu betont antikommerzielle Konzeptalbum über ein weggelaufenes Mädchen ist reine Magie, intensiv, düster, aber auch zärtlich und zerbrechlich. Wenn "Living With The Big Lie" mit seinen Gitarrenflageoletts einsetzt, überkommt einen die Gänsehaut meterdick und mit "The Great Escape" enthält das Album einen Klassiker auf Ewigkeit, ein Feuerwerk an wunderschönen Melodien, das einem Tränen der Rührung in die Augen treibt.

Afraid Of Sunlight (1995, EMI)
Afraid Of Sunlight
Wer über "Afraid Of Sunlight" spricht, kommt an einem Song unmöglich vorbei: "Out Of This World" ist ein Werk von Götterhand, eines der Stücke, die auf einer Skala bis 10 einfach eine 11 bekommen müssen, ein Lied, zu dem man mit dem Glas Rotwein in der Hand aus dem verregneten Fenster schaut und nichts mehr spürt außer Schmerz und Verlust. Den konkurrenzlosen Jahrhundertsong beiseite gelassen, bietet "Afraid Of Sunlight" bei stilistisch breiter Aufstellung von kunstvollem Pop über Prog bis hin zu Absurdem ein konstant hohes Niveau, so klug komponiert und arrangiert, das kein Moment flach wirkt. Anspieltipp: "Cannibal Surf Babe", der etwas andere Surfrocksong.
Anekdote am Rand: "Out Of This World" handelt vom 1967 im Coniston Water tödlich verunglückten Motorbootfahrer Donald Campbell. Der Song inspirierte den Profitaucher Bill Smith dazu, in dem See nach dem Unglückswrack Campbells zu suchen - ein Unterfangen, das schließlich von traurigem Erfolg gekrönt war: Am 8. März 2001, 34 Jahre nach dem Unglück, wurde die Bluebird geborgen, übrigens in Gegenwart mehrerer Marillion-Musiker [hier der Link zu Steve Hogarths Bergungsbericht: http://web.archive.org/web/20010814234611/http://www.marillion.com/band/hogarth/bluebird.html]

Marbles (2004, Intact Records)
Marbles
"Marbles" ist der Start- und Höhepunkt des Marillion-Alterswerks, ein Album von einer derart tiefen Emotionalität, das es einem die Sprache verschlägt. Als "Marbles" 2004 erschien, musste ich über Wochen jeden Tag eine Stunde eher aufstehen, um dieses Album vor der Arbeit hören zu können. Die das Album umschließenden Longtracks "The Invisible Man" und "Neverland" sind die Referenzsongs und verzweifelte Kunstwerke, die ganz tief eingehen. Durch die nahtlosen Übergänge und die eingestreuten "Marbles"-Intermezzi ist das Album die ätherischste Veröffentlichung von Marillion. Wer sich auf diesen Sog von Album einlässt, den lässt er niemals wieder los.
"Marbles" erschien auf Anraten der EMI Group, die für den Vertrieb zuständig war, als (durchaus gut ausgewählte) Einzel-CD. Sammler brauchen natürlich die Doppel-CD mit zusätzlichen Songs, von denen der 17minütige Träumer "Ocean Cloud" sicherlich der bemerkenswerteste ist.

OBERKLASSE

Seasons End (1989, EMI)
Seasons End
Das erste Album der h-Ära wurde noch in der alten Besetzung komponiert und schließt in mehrerlei Hinsicht an die Fish-Ära an: Die Produktion ist 80er-lastig und auch die Songs sind teilweise eine - wenngleich um etwas Pomp beraubte - Fortführung der ersten vier Alben. Qualitativ schwankt es hierbei beständig zwischen gutklassig und Oberhammer, wobei auf der Haben-Seite unbedingt die vielschichtige "Berlin"-Reise, das mit einem gewaltigen Refrain gesegnete Titelstück und "The Space" mit seinem Grande Finale genannt werden müssen.

marillion.com (1999, Castle Communications)
marillion.com
Saxophongebläse, Schmusegesäusel, wilde Prog-Abfahrten - je nachdem, wo man reinhorcht, kommt auf diesem Album etwas Anderes raus. "marillion.com" ist deutlich anzuhören, dass die Band auf der Suche nach etwas Neuem war. Das Album verkörpert Orientierungslosigkeit und Wildwuchs, aber auch Mut und Vitalität und ist daher durchweg spannend. Highlights sind u.a. der crazy Opener "A Legacy", das hemmungslos im Ambient lungernde "House" und der dramatisch inszenierte Longtrack "Interior Lulu", aus dessen Ideenreichtum andere Bands ein ganzes Album schmieden würden.

Anoraknophobia (2001, EMI)
Anoraknophobia
Mit "Anoraknophobia" begannen Marillion, Crowdfunding im großen Stil zu betreiben. Über 12.000 Fans finanzierten das Album vor und sicherten der Band dadurch künstlerische Narrenfreiheit. Das Ergebnis spricht für sich: "Anoraknophobia" ist ein sehr gutes, feuriges Album voller geistreicher Einfälle, die von coolen Gitarrenlicks über lässige Grooves und Trip-Hop-Beats bis zu breiten Klangteppichen reichen. Im Vergleich mit dem vorhergehenden "marillion.com" ist das Album einheitlicher, aber jedes Stück entwickelt dennoch seinen eigenen Charakter. "Anoraknophobia" ist der etwas verspätete, ein großes Ausrufezeichen markierende Abschluss der für Marillion schwierigen 90er.

Somewhere Else (2007, Intact Records)
Somewhere Else
"Somewhere Else" wäre eine gute Vorbereitung für "Marbles" gewesen, erschien aber danach und wird daher immer etwas im Schatten von "Marbles" stehen. Die Gangart ist über weite Strecken ähnlich ruhig, aber die emotionale Dichte des Vorgängers wird nicht erreicht, auch wegen einiger cheesy Nervtöter wie "See It Like A Baby", die selbst mit eingeschaltetem Ironiedetektor zu albern sind. Dennoch ist es unmöglich, sich der berührenden Kraft eines Schmerzensbades wie "A Voice From The Past" zu entziehen, und auch unter den geradlinigen Stücken befinden sich mit u.a. "The Other Half" weitere Hochkaräter.

Sounds That Can't Be Made (2012, Intact Records)
Sounds That Can't Be Made
Die Überraschung 2012 und das vielseitigste Album aus dem (bisherigen) Alterswerk von Marillion, dessen Bandbreite Opener und Closer verdeutlichen: Hier ("Gaza") der mit orientalischen Skalen arbeitende Rocker, dort ("The Sky Above The Rain") der um ein einziges Klavierthema gebastelte Traumschwelger. Atmosphärisch ist das Album mal dramatisch, mal entspannt, und die typische Marillion-Melancholie hat etwas Befreites, eine stets mitgemeinte optimistische Wendung. Ein reifes Album, das kein bisschen nach alten müden Männern klingt, aber auf jeden Fall nach Vollprofis. Hut ab.

DER REST

Holidays In Eden (1991, EMI)
Holidays In Eden
Marillions zweites Album mit h ist viel zu banal, um ernstgenommen zu werden. Von der EMI unter Druck gesetzt und mit Chris Neil auf dem Produzentensessel, der zeitgleich u.a. für Celine Dion an den Reglern saß, suchten Marillion nach einer neuen Identität und landeten im Schmuserock. U2 und New Wave Pop scheinen durch mit "Ooo"-Gesangslinien gespickte Belanglosigkeiten wie "Cover My Eyes" und "No One Can". Klar, große Gefühle gehören zu Marillion wie der Anus auf den Pott, aber in derart oberflächliche Arrangements gekleidet kommt leider nur noch die Sülze an und die vertrieb die Prog-Fans anno 1991 in Scharen. Die Grenze zwischen Substanz und Sülze markiert der Opener "Splintering Heart", der zeigt, wie dieses Album hätte klingen können, hätte die Band sich für die Tiefe entschieden, für die sie eigentlich steht.

This Strange Engine (1997, Castle Communications)
This Strange Engine
Dieses Album gehört für viele noch zu den guten 90er-Ausgüssen von Marillion, für mich aber in die Ramschkiste. Zu viel Akustik-Geschrammel ("Man Of A Thousand Faces", "One Fine Day", "80 Days") vergällt einem auch die brauchbaren Momente, die in der gefühlvollen Mitte des Albums "Estonia" und das ruhig-dunkle "Memory Of Water" bieten. Der zerhackstückelte Titeltrack wurde von vielen als Rückbekenntnis der Band zum Prog Rock gelesen, doch alles, was Marillion damit sagen wollten, haben sie zwei Jahre später in "Interior Lulu" auf "marillion.com" spannender und intensiver gesagt. Überhaupt ist "marillion.com" das spannendere und intensivere "This Strange Engine".

Radiation (1998, Castle Communications)
Radiation
"Radiation" ist konkurrenzlos als der größte Stinker in der Discographie der Band anerkannt. Dabei hat das Album durchaus einen interessanten Ansatzpunkt: Steve Rothery und Mark Kelly haben ihre Marillion-Signatursounds ad acta gelegt. Der Gitarrensound ist verzerrt und krachig, die sphärischen, mittigen Klimperklänge fehlen; und statt stimmungsvoller Synthieflächen gibt es alles Mögliche bis hin zu Hammonds. Leider setzt die Band den Ansatz komplett in die Nesseln, indem sie sich an einem Stilbruch versucht, der kein bisschen authentisch rüberkommt. Grunge, Britpop und AOR ergeben ein aufgesetztes Gemisch, aus dem die Songs straight und ohne Höhepunkte geköchelt werden. Tiefpunkt ist der Gesang: Die reduzierten Melodien haben null Merkwert, das verhaucht-pseudoinnige Timbre passt gar nicht zur Stimmfarbe von h und sowas wie die Blues-Nummer "Born To Run" geht sowieso komplett an seinen (im richtigen Bereich exorbitanten) Fähigkeiten vorbei. "Radiation" ist ein Album, bei dem man der Band permanent zurufen möchte: Leute, ihr könnt viel, aber verdammt nochmal nicht alles!

Happiness Is The Road (2008, Intact Records)
Happiness Is The Road 1
Happiness Is The Road 2
100 Minuten gepflegte Langeweile bietet der Doppeldecker "Happiness Is The Road". Wenig an diesem Album wirkt ausgearbeitet - die nicht vorhandenen Songstrukturen, die dahingespielten Gitarrensoli, die trägen Melodien, die saftlosen Synthiesounds, alles macht den Eindruck, in einem Zwischenstadium der Konzeptbildung von der Rohidee zum Song aufgenommen worden zu sein. Das Ergebnis ist ein planloser Leerlauf, den man kurz nach dem Hören schon wieder vergessen hat. Schade, da aus einigen Ansätzen sicher mehr herauszuholen gewesen wäre.









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