www.Crossover-agm.de MARILLION: Marbles
von ta

MARILLION: Marbles   (Intact)

I: Es gibt in der Musik Zäsurwerke. Zäsurwerke zeichnen sich gegenüber solchen, die keine sind, dadurch aus, dass sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftauchen. Ein Album, das sich zum Zäsurwerk (im volkstümlicheren Jargon: Klassiker) entwickelt, trifft auf eine Zeit, die einerseits das zu Hörende in dieser Form nicht kennt, aber andererseits bereit ist, es aufzunehmen. (Progressive Platten der Gegenwart scheitern oft am zweiten Punkt.) Ein Musikwerk, das sich zum Klassiker entwickelt, ist im Regelfall in gewissen Maßen progressiv oder zumindest neuartig in seiner Zeit, denn es wird in seiner Zeit bereits als herausragend erkannt und das erreicht man nicht durch Wiederkäuen vorgegebener Strukturen, sondern durch eigene Kreativität. (Ausnahmen sind Alben, deren maßgebender Charakter erst im Nachhinein erkannt wird. Oft genug ist es für solche Alben aber dann zu spät, weil es inzwischen genug Gleichgeartetes gibt.) "Reign In Blood" von Slayer - man entschuldige dieses Beispiel im Rahmen einer Marillion-Rezension, aber die beschränkte Kompetenz des Rezensenten legt Metal-Beispiele eher nahe als andere - entwickelte sich zum Thrash-Klassiker, weil hier ein neuer Maßstab gesetzt wurde. "Operation: Mindcrime" von Queensryche bot erstmalig anschaulich dar, auf welchem textlichen Niveau man sich auch im Metal-Bereich soziopsychologischen Phänomenen nähern kann. Oder außerhalb des Metal: Ein Mammutprojekt wie Pink Floyds "The Wall" umfasste in aller Konsequenz und in einmaligem Aufwand die Medien Tonträger, Geschichte und Film. Die Folge bis heute: Thrasher sprechen von "Reign In Blood" als Referenzplatte und jede progressiv angehauchte Rock/Metal-Band, die ein etwas aufwändigeres Konzeptalbum veröffentlicht, verweist auf "The Wall" oder "Operation: Mindcrime" als anvisierte Qualitätslinie. Es muss jedoch darauf aufmerksam gemacht werden, dass die genannten Alben eben nur darum zum Klassiker werden konnten, weil sie in einem bestimmten Kontext standen, nämlich dem ihrer Zeit oder - präziser - dem ihrer aktuellen Musikwelt. Würden "Reign In Blood" oder "Operation: Mindcrime" heute veröffentlicht werden: Wir hätten es nicht mehr mit potentiellen Klassikern zu tun. (Ich verweise darauf mit solchem Nachdruck, weil in der Rock/Metal-Szene gerne auf dem absoluten Qualitätsstatus einer Platte herumgeritten wird. Es gibt sogar Leute, die der Meinung sind, in den Achtzigern wäre die Qualität der Veröffentlichungen prinzipiell höher gewesen als in den Neunzigern. Dabei ist Qualität eine vollkommen relative Kategorie. Die Neunziger sind musikalisch nicht ärmer als die Achtziger, aber die Möglichkeiten, etwas Bahnbrechendes zu schaffen, sind begrenzter geworden, weil viele Bahnen bereits beschritten oder in ihrer Anlage viel offener gestaltet sind.) Ein Album wird zum Klassiker, weil Vergleichsmöglichkeiten noch nicht in hohem Maße bestehen und nicht, weil es per se von einer Art unermeßlicher Qualität ist. Die südländische Power Metal-Szene der Gegenwart präsentiert Bands, die oft keinen Deut schlechter (wobei dies strenggenommen eine unzulässige Kategorie ist) als Helloween zu "Keeper ..."-Zeiten sind. Zu "Keeper ..."-Zeiten allerdings war die Szene mit solcherlei Musik noch nicht dermaßen vollgepfropft, wie es heute der Fall ist. Auch im Prog-Bereich kann man trotz eines hohen musikalischen Aufwands leicht in der "ferner liefen"-Sparte landen. Die Neunziger sind voller Vergleichsmöglichkeiten und heute ist selten etwas einzigartig, und wenn, schlägt es oft genug eine so extreme Richtung ein, dass die Mehrheit der potenziellen Hörerschaft schon wieder nichts damit anfangen kann (was aber, dies sei angemerkt, nicht viel sagen muss). Sterben Klassiker, Zäsurwerke aus?

II: Warum dieser theoretisierende Exkurs am Anfang einer Plattenrezension? Nun, weil sich das beschriebene Phänomen ohne Probleme von einer ganzen Musikszene auf eine einzige Band und ihr musikalisches Schaffen übertragen lässt. Eine Band, welche einmal ein wegweisendes Album einer gewissen Stilistik produziert hat, wird bei gleichbleibendem Stil ständig an diesem Album gemessen werden, obwohl das völlig unsinnig ist: Was einmal wegweisend war, weil es einen Weg konsequent selbst beschritt, kann nicht auf dieselbe Weise (d.h. in derselben Sparte) erneut wegweisend werden, erst recht nicht, wenn die beschrittenen Wege inzwischen auch Fußspuren vieler anderer Bands aufweisen. Darum ist es nicht erst praktisch, sondern schon theoretisch unmöglich, dass Pink Floyd ein zweites "The Wall", Iron Maiden ein zweites "The Number Of The Beast" oder aber auch Marillion ein zweites "A Childhood's End" komponieren. Aus einer anderen Richtung argumentiert: Von einem Künstler zu verlangen, dass sein neues Album ebenso ausfällt wie ein vorheriges "Klassikeralbum" und auch ebenso gut ausfällt wie das vorherige Produkt, heißt, von ihm zu verlangen, dieselben Emotionen, Empfindungen, Eindrücke im Hörer noch einmal hervorzurufen. Diese sind aber abhängig von eben nicht reproduzierbaren Faktoren der einstigen Gegenwart des "Klassikers": Dem Überraschungseffekt, dem Angewöhnungsprozess, ...
Genug Bands leben trotzdem gut davon, jährlich identische Platten abzuliefern, obwohl sie schon lange nicht mehr in der Lage sind, den Hörer wie "einst" mitzureißen, eine Szene nach vorne zu bringen oder aber am Leben zu erhalten (gute Plattenverkäufe verweisen nicht zwingend auf eine lebendige Szene). Andere Bands schlagen andere Wege ein und provozieren erst gar nicht Vergleiche mit anderen Alben aus der eigenen Discographie, weil sie stilistisch nicht so festgefahren agieren. Dass manche Kritiker (mich nicht ausgeschlossen) trotzdem gelegentlich bis oft Birnen an Äpfeln messen, ist nicht Schuld eben solcher Bands, sondern beruht auf festgefahrenen Hörererwartungen eben jener Kritiker (mich wiederum eingeschlossen) in Bezug auf die betreffenden Musikerformationen.

III: 1. Es gibt ein Grüpplein Musikanten dieser Sparte, ein Grüpplein, das sich darum bemüht, seiner Discographie eine angenehme Wellenform (was an dieser Stelle neutraler als "Berg"- oder "Tal"-Form klingen soll) zu verleihen. Wenig überraschend ist es eben jene Band, der ich diese Plattenkritik widme. Marillion haben eigentlich selten in ihrer zwanzigjährigen Karriere zwei allzu ähnliche Alben hintereinander veröffentlicht. Spätestens mit den Spätneunziger-Alben "Radiation", "marillion.com" und "Anoraknophobia" wurde einigen Fans ob stilistischen Wildwuchses ein gehöriger Schrecken eingejagt, während andere sich schon durch die poppigen Züge der vorvorherigen Schaffensphase (bes. "Holidays In Eden") zum Haareraufen veranlasst sahen. Nun ist just, d.h. vor einigen Monaten, "Marbles" erschienen und natürlich wieder nicht wie ein anderes Marillion-Album ausgefallen. Ich werde also im Folgenden darauf bedacht sein, ins Leere laufende Vergleiche mit anderen Musikprodukten derselben Band zu vermeiden.
2. Eigentlich will man zu diesem Album nichts sagen. Marillion machen Marillion-Musik. Marillion bestehen aus fünf Musikern. Mark Kelly besorgt die dominanten Keyboardteppiche. Hier wird eine ganze Welt kreiert. Unersetzbar. Steve Rothery spielt Gitarrensoli, die nicht von dieser Welt sind. Diesmal viel unverzerrt, viel Akustikgitarre. Unersetzbar. Pete Trewavas pflastert die melodischsten Basslinien seit den Beatles durch dieses Universum und sorgt immer für ein unverzichtbares Harmoniefundament. Ganz klar: Unersetzbar. Ian Mosley ist Schlagzeuger und sein Spiel scheint wie in die vorgegebenen Songfragmente hineingegossen, egal ob es geradlinig (diesmal oft) oder etwas verschroben daherkommt. Unersetzbar, wie dieser Vokalzauberer: Steve Hogarth singt Schmerzen wie kein anderer. Technisch brilliant? Weiß ich nicht, aber eine Stimme, die alle Dämme brechen lässt.
Marillion machen Marillion-Musik. Die mutet immer noch traurig an, so dass man sich hinsetzt und einfach zuhört. Wer Marillion im Hintergrund hört, verpasst nicht weniger als 95%. Das ist keine Übertreibung. Es ist ganz egal, ob in zehn oder mehr Minuten Geschichten vorgetragen werden, die wie von Götterhand komponiert sind, einen Teil in den anderen fließen lassen wie ein klares Wasser ("The Invisible Man") oder mit poppigem Appeal ins Melancholische gelockt wird ("You're Gone"): Marillion-Musik ist unausweichbar. Immer hundertprozentig erlebbar und darum so gut. Der sich in vier Songs durch das Album ziehende "Marbles"-Zyklus scheint tatsächlich so etwas wie der Versuch zu sein, eine Murmel musikalisch wiederzuspiegeln. Ob man das unbegreifbare Ergebnis nun "Electro-Jazz" oder "Ambient-Rock" nennen mag, ist mir ganz egal. Wirklich. Marillion-Musik ist mir aber lieber, weil es nicht unterstellt, dass das hier auch andere Bands fabrizieren könnten.
Immer gegenwärtig ist die enge Verknüpfung von Musik und Wort (exemplifizierbar z.B. an "Angelina"; passend zur ironischen Besingung von "lonely man's best friend" kokettiert der Refrain mit weiblichen Vocalparts). Hogarth, diesmal hundertprozentig der einzige Texter und nur sein unglückliches Privatleben thematisierend, kennt manche Geschichten von Schmerz und Ernüchterung und Liebe und Sex und allem, was einem das raubt, was das Kind noch hat. Vielleicht auch die Phantasie (man registriere die wunderbare Booklet-Gestaltung), aber davon kann hier eigentlich keine Rede sein. "Marbles" ist zweifellos das, was man eine "ruhige" oder "sphärische" Platte nennen würde. Aber auch das sind ja Prädikate, die bei anderen Bands ohne Weiteres beschreibend verwendbar wären. Also der Worte genug.
3. Diese Rezension ist unzureichend, sie hält sich an allzu eindeutigen Aussagen bedeckt, beschränkt den konkret auf das zu besprechende Album gerichteten Teil auf eine eher bescheidene Länge, die herausgepickten Songbeispiele auf die Willkür des Rezensenten und ist so gnadenlos subjektiv, dass es schon weh tut. Man verzeihe mir, dass mir nach mehreren Monaten, in denen ich mit "Marbles" verwachsen bin durch intensiven (sitzen, zuhören, nichts weiter tun - dies ist keine stilisierte Übertreibung) wie auch extensiven (das ganze im Durchschnitt jeden zweiten Tag einmal, auch das kann ich als nicht übertrieben klassifizieren) Hörgenuß, keine größere Distanz und Aussagekraft möglich ist. Man verzeihe mir auch, dass ich "Marbles" hiermit als das beste Album des ganzen Jahres 2004 bezeichne (was eigentlich eine unsinnige Aussage ist, weil es eine quantitativ messbare Vergleichbarkeit mit anderen Bands unterstellt). Für viele wird "Marbles" ein gewöhnliches Album sein können, Musik xy eben. Ich gehöre nicht zu diesen vielen, aus welchen Gründen auch immer. Und wenn ich die abschließende Bemerkung, dass, wer "Marbles" nicht kennt, denkbarerweise Musik in ihrer Breite, Höhe und Tiefe nicht kennt, nicht ebenfalls als Nicht-Übertreibung kennzeichne, dann liegt das ausschließlich an einer selbstoktroyierten Rücksichtnahme auf den letzten Funken einer als objektiv fingierten Betrachtungsweise.
Kontakt: www.marillion.com

Tracklist:
1. The Invisible Man
2. Marbles I
3. You're Gone
4. Angelina
5. Marbles II
6. Don't Hurt Yourself
7. Fantastic Place
8. Marbles III
9. Drilling Holes
10. Marbles IV
11. Neverland
 




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