www.Crossover-agm.de TARJA: Luna Park Ride
von rls

TARJA: Luna Park Ride   (earMusic/Edel)

Der Luna Park befindet sich in Buenos Aires und ist u.a. mit einem Stadion bebaut, in welchem am 27. März 2011 ein Tarja-Konzert stattfand, das reichlich vier Jahre später nun auch als Konserve vorliegt, und zwar sowohl als Doppel-DVD als auch als Doppel-CD, wobei beide songtechnisch identisch zu sein scheinen; die folgenden Zeilen wurden auf Grundlage der CD geschrieben. Wer sich zunächst wundert, einem Ende März anberaumten Freiluftgig zu lauschen, der vergegenwärtige sich, daß Buenos Aires auf der Südhalbkugel liegt und zur besagten Zeit dort somit nicht Vorfrühling, sondern Frühherbst herrscht. Trotzdem beginnt das Konzert erstaunlich unterkühlt - nicht was die Publikumsreaktionen betrifft (die sind vom ersten Moment an begeistert), sondern vom Setaufbau her, der gleich mit einer ganzen Reihe eher zurückhaltender Nummern beginnt: Das relativ komplexe "Dark Star" vom damals aktuellen "What Lies Beneath"-Album eröffnet den Mitschnitt (reichlich anderthalb Monate später in Leipzig ist es weiter in den Set hineingewandert), und das vom Debüt stammende "My Little Phoenix" sowie "The Crying Moon", nicht mal auf der regulären Albumedition des Zweitlings, sondern nur in einem speziellen Boxset enthalten, senken das Grundtempo eher noch, wonach der Debüthit "I Walk Alone" auch noch nicht für Beschleunigung sorgt, wenngleich das intensive Finale von "The Crying Moon" durchaus schon für größere Gefühlausbrüche gut gewesen ist. Besitzer der DVD können hier übrigens ergründen, wer das Hauptsolo spielt und mit welchem Instrument das getan wird - Gastmusiker sind im Booklet nicht vermerkt, ergo müßte es entweder Keyboarder Christian Kretzschmar mit einer ganz eigenartigen Wahl in der Soundbibliothek oder aber Cellist Max Lilja mit einem sehr eigentümlichen Verzerrer sein. "Falling Awake" schraubt das Tempo auch noch nicht nach oben, überzeugt aber natürlich mit seinem hymnischen Charakter trotzdem, bevor "Signos" in puren Poprock abgleitet. Wer dieses Stück auf einer mitteleuropäischen Tarja-Veröffentlichung sucht, wird nicht fündig - es handelt sich um eine Coverversion der Band Soda Stereo, die in Argentinien große Popularität genießt (das Stück ist der Titeltrack ihres 1986er Albums), und die hier zu hörende Fassung (auch hier im ersten Teil scheinbar, im Finale dann eindeutig wieder mit stark verfremdetem Cellosolo Liljas) wirkt wie eine basische Poprock-Vorstufe zur Eigenkomposition "Little Lies", die gleich im Anschluß erklingt und im Verbund mit dem zupackenderen Schlußteil von "Signos" das Energielevel der Show deutlich nach oben schraubt, wo es dann auch bis zum Schluß bleibt, was Ruhepunkte wie die Halbballade "Underneath" natürlich nicht ausschließt. An der Gitarre hören wir in diesem Mitschnitt nicht Alex Scholpp, sondern Julian Barrett, und den Baß bedient Living-Colour-Tieftöner Doug Wimbish, der sich zugleich mit dem Keyboarder die Backing Vocals teilt - DVD-Besitzer können gleich in "Dark Star" nachschauen, wer von beiden dort die Rolle des in der Studiofassung aktiven Phil Labonte einnimmt. Nicht mit auf der CD gelandet ist Mike Terranas Drumsolo, sofern es denn stattgefunden hat - generell stellt sich die Frage, ob der ganze Gig auf der Scheibe gelandet ist, denn die ist mit reichlich 68 Minuten nicht gerade überfüllt. Aber es kann natürlich sein, daß es sich nicht um einen Headliner-Sologig, sondern um eine Einbettung in ein Festivalprogramm mit entsprechender Spielzeitbegrenzung gehandelt hat. Das Booklet gibt hierzu keine Auskunft, auch anhand der Fotos ist das nicht eindeutig zu entscheiden, aber das zentrale Foto im Booklet macht zumindest deutlich, daß enorm viele Besucher anwesend waren. Spannend bleibt auch die Frage, von wo aus der Mitschnitt vorgenommen worden ist, da man immer wieder Rufe einzelner Fans sehr deutlich hervorgehoben hört, was beinahe für einen Bootleg sprechen würde, der nachträglich offiziell herausgebracht wurde - aber dafür ist die Soundqualität eigentlich schon wieder zu gut. Fragen über Fragen ...
Eine andere Frage stellt sich bei jedem Tarja-Gig: Welches Nightwish-Repertoire nimmt die Chanteuse in die Setlist auf? Wer den Leipzig-Gig vom Mai 2011 noch im Ohr (oder schnell das Review nachgelesen) hat, der staunt Bauklötze, und zwar gleich in doppelter Hinsicht: "End Of All Hope", "High Hopes" und "The Siren" finden sich allesamt nicht unter den hier konservierten fünfzehn Songs - dafür aber "Wishmaster" als Setcloser und als zweiter Bauklotz die ultimative Nummer des Nightwish-Frühwerkes, die auch den Rezensenten damals zum Anhänger dieser Band stempelte: "Stargazers". Und das hat selbst Holopainen erst wieder 2015 mit Nightwish live gespielt. Die hier zu hörende Fassung bekommt durch Liljas Cello, das der einleitenden Keyboardfanfare eine zweite Stimme beigibt, einen relativ eigentümlichen Charakter, macht aber natürlich immer noch jede Menge Hörspaß und bereitet prima den Weg für eine völlig abgepfiffen-heftige Version von "Ciaran's Well", die sich vom Debüt-Mitläufer zum gut eingepaßten Orchestermetalstandard entwickelt hat und daher prima vor "In For A Kill" paßt, den Belastungstest für die Stimme der Chefin, ob sie auch im fortgeschrittenen Stadium eines Gigs die geforderten extremen Höhen im titelgebenden Motiv noch mit der gebotenen Leichtigkeit erreicht. Beim ersten Mal wirkt sie an diesem Abend noch leicht angestrengt, aber die anderen Einsätze kommen dann tadellos. Um die Partystimmung auf hohem Niveau zu halten, greifen Tarja und ihr Begleitquintett dann noch in die Achtziger zurück, spielen aber nicht etwa die "Poison"-Coverversion, die vom Debütalbum "My WinterStorm" bekannt ist, sondern Ankie Baggers "Where Were You Last Night" (anno 2004 mal Single-B-Seite von Nightwishs "Wish I Had An Angel"), in das die Refrains von Belinda Carlisles "Heaven Is A Place On Earth" sowie Bon Jovis "Livin' On A Prayer" eingeflochten worden sind. "Let's have some fun with the Eighties" fordert die Chefin, und das Publikum folgt ihr offensichtlich willig, was auch für den Rest des konservierten Gigs zutrifft, der aus "Die Alive", "Until My Last Breath" (dessen Einleitung ahnen läßt, daß davor etwas herausgeschnitten worden ist) und dem erwähnten "Wishmaster" besteht, womit Tarja auch die Geschwindigkeitsfanatiker glücklich gemacht haben dürfte, die in ihrem eigenen Repertoire zu damaliger Zeit nur bedingt fündig werden konnten, von "Die Alive" vielleicht mal abgesehen. Wie mehrfach geschrieben bleibt die Frage offen, welche Bestandteile des Gigs der Nichtdabeigewesene in diesen 68 Minuten nicht zu hören bekommt - aber auch so entsteht das Bild eines unterhaltsamen, stark gespielten Orchestermetalgigs, wobei das Orchester, vom Solocello abgesehen, hier bekanntlich aus der Konserve kommt, was aber nicht entscheidend stört. Einige Anhänger dürften sich wie beschrieben allenfalls über den etwas schwerfälligen Einstieg gewundert haben ...
... aber denjenigen kann auf der zweiten CD geholfen werden, die als Bonusscheibe deklariert ist und mit 69 Minuten bei 14 Songs sogar länger läuft als die eigentliche Hauptscheibe. Versammelt sind hier Livemitschnitte aus fünf Gigs der Jahre 2010 bis 2014, chronologisch sortiert und nur in einigen wenigen Fällen Überschneidungen mit dem Buenos-Aires-Gig aufweisend. Statt dessen bekommen wir etwa vom Masters-Of-Rock-Gig anno 2010 nach "In For A Kill" und "I Walk Alone" noch "The Archive Of Lost Dreams" und "Crimson Deep" geboten, zwei "What Lies Beneath"-Nummern, die anno 2011 in Leipzig nur im Akustikblock (erstere) oder gar nicht (letztere) im Set auftauchten. Zusätzlich ist die zeitliche Struktur zu erwähnen: "What Lies Beneath" war zu diesem Datum noch gar nicht veröffentlicht und das Material der Anhängerschaft somit noch komplett unbekannt - aber "In For A Kill" funktioniert als offensichtlicher Showopener trotzdem bestens, denn wenngleich in so einem Fall natürlich intensives Lauschen Pflicht ist, läßt sich das Publikum auch gleich im Intro zum Mitklatschen animieren. Die Stimme der Chefin ist auch schon warm - bereits der erste hohe Titeleinsatz sitzt wie eine Eins, wohingegen im weiteren Verlaufe der knapp 70 Minuten dieser zweiten CD, speziell in den etwas zu breit angelegten tiefen Gesangspassagen der letzten drei Songs, auch einige suboptimale Momente zu hören sind, die verdeutlichen, daß auch eine hervorragende Mezzosopranistin eben nur ein Mensch ist. Die starken Betonungsakzente auf "kill", die hier zu hören sind, gab es in dieser Form in Buenos Aires schon nicht mehr. "The Archive Of Lost Dreams" wird allerdings auch in Vizovice als sanfte Ballade dargeboten, und "Crimson Deep" täuscht anfangs auch Zurückhaltung an, entwickelt sich aber schrittweise bis in ein riesiges Bombastfinale, das seine Wirkung nicht verfehlt. Ein Jahr später spielte Tarja auf dem Summer Breeze Open Air in Dinkelsbühl, und die drei von dort vertretenen Beiträge ergänzen neben "Until My Last Breath" zwei markante Nummern, die beide nicht in Buenos Aires, wohl aber in Leipzig gespielt worden waren: "I Feel Immortal", Singleauskopplung aus "What Lies Beneath" (schon merkwürdig, daß ausgerechnet die in Argentinien nicht zum Zuge gekommen war - aber vielleicht wurde sie dort gar nicht ausgekoppelt), sowie "The Siren", das hier im Vergleich zum Original den Sirenengesängen noch gleichartige des Cellos beifügt. Wer die Rolle Marco Hietalas als männlicher Gesangspartner übernimmt, sollte der DVD-Besitzer wiederum leicht ergründen können; zudem ist er auch in der Lage festzustellen, ob die Buenos-Aires-Besetzung auch alle fünf Gigs von CD 2 bestritten hat, denn für diese gibt das Booklet keine Besetzungslisten an, und auf den Positionen von Gitarre und Baß sind ja durchaus nicht immer die gleichen Personen an Bord gewesen. "Until My Last Breath" entfaltet in der direkten Gegenüberstellung hier noch einen etwas lockereren, gleichzeitig aber noch zupackenderen Gestus als in Buenos Aires - nicht zuletzt ob solcher Vergleichsmöglichkeiten ergibt diese CD-Erweiterung Sinn. Fraglicher hingegen ist die Hinzufügung von zwei der drei 2014er Gigs: Die drei Songs aus dem Tele-Club in Swerdlowsk, äh, Jekaterinburg hätten sich als Ergänzung etwaiger Liveveröffentlichungen mit Material der "Colours Of The Dark"-Tour eher angeboten (es sei denn, es wollte unbedingt jemand das eher mäßig unterhaltsame "Damned And Divine" mit seinen hier völlig deplazierten Achtziger-Keyboards im Refrain, die eher an das Geräusch einer Nebelmaschine oder Pyrofontäne erinnern und das eher in unangenehmer Manier tun, auf der hiesigen Scheibe haben), und Gleiches gilt für die CD 2 abschließenden ebenfalls drei Songs vom Summer Breeze 2014, denn "Die Alive" fügt der Buenos-Aires-Version eher wenig Erhellendes hinzu. Die jeweils zwei nicht genannten Songs stammen von "Colours Of The Dark" und sind natürlich allesamt klasse, gehören aber eigentlich nicht ins Repertoire von Momentaufnahmen aus der "What Lies Beneath"-Epoche. Hochgradig sinnvoll hingegen ist die dritte (bzw. in der CD-Folge zweite) 2014er Ergänzung: In Wacken sangen Van Canto bei "Anteroom Of Death" mit, und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten gerade in den komplexen Passagen dieses Songs nutzt die Arrangementfraktion natürlich weidlich aus, so daß der Song vier Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dadurch eine einzigartige Livequalität gewinnt und bekanntlich außerdem periodisch in die "richtige" Epoche gehört. Andererseits will sich der Fan natürlich auch nicht über die aperiodischen Zugaben beschweren, denn immerhin bekommt er sie kostenlos dazu, und die Qualität stimmt wie beschrieben zumindest bei drei dieser vier Songs auch (nur "Neverlight" knistert hier und da merkwürdig, als ob da beim Mastern was schiefgegangen wäre - oder sollte das ein gewolltes perkussives Element sein?). Optisch überzeugt der Doppel-Digipack auch - daß man ihn nicht vernünftig in einem üblichen 60er-CD-Regal archivieren kann und mal wieder eine Sonderlösung finden muß, ist ein Ärgernis, über das sich der Rezensent aufzuregen geneigt sein könnte, wüßte er nicht, daß er diesbezüglich tauben Ohren predigt. Musikalisch haben wir jedenfalls einen überzeugenden Zwischendurch-Release der Ex-Nightwish-Chanteuse vorliegen, der Appetit sowohl auf weitere Studiotaten als auch Liveerlebnisse macht. Für letztere liegt dem 2015 erschienenen Package noch ein Werbeflyer für die Weihnachts-Solotour durch fünf deutsche Kirchen bei und erinnert den Anhänger nochmal daran, daß ein mit einer merkwürdigen Sorte von Humor ausgestatteter Booker den Gig in der Leipziger Paul-Gerhardt-Kirche auf den gleichen Abend gelegt hat, an dem auch Nightwish in der Arena gespielt haben, die sicherlich noch immer große Schnittmenge der Anhängerschaft damit zu einem unangenehmen Entweder-Oder zwingend. Schade drum.
Kontakt: www.tarjaturunen.com, www.ear-music.net

Tracklist:
CD 1
Dark Star
My Little Phoenix
The Crying Moon
I Walk Alone
Falling Awake
Signos
Little Lies
Underneath
Stargazers
Ciaran's Well
In For A Kill
Where Were You Last Night/Heaven Is A Place On Earth/Livin' On A Prayer
Die Alive
Until My Last Breath
Wishmaster

CD 2
In For A Kill
I Walk Alone
The Archive Of Lost Dreams
Crimson Deep
I Feel Immortal
The Siren
Until My Last Breath
500 Letters
Damned And Divine
Neverlight
Anteroom Of Death
Never Enough
Die Alive
Victim Of Ritual



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