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Nightwish, Arch Enemy, Amorphis   14.12.2015   Leipzig, Arena
von rls

Warum das neue Nightwish-Album "Endless Forms Most Beautiful" das schwächste Album der Finnen seit Menschengedenken ist, kann der geneigte Leser im zugehörigen CD-Review nachlesen. Trotzdem erschien ein Besuch der Tour zum Album reizvoll, nicht zuletzt, um zu begutachten, wie die Besetzung mit Floor Jansen live funktioniert, wovon man anhand des Wacken-2013-Livealbums zwar schon eine Ahnung gewinnen konnte - aber in der realen Konzertsituation bieten sich bestimmte Aspekte ja doch nochmal ganz anders dar als selbst auf der Konserve eines Livekonzertes.
Die Anstoßzeit liegt mit 19 Uhr (an einem Montag) relativ früh - als sich der Rezensent 18.50 Uhr der Arena nähert, steht am Westeingang (der den Parkflächen zugeneigt ist) eine riesige Schlange. Ergo versucht er es am Osteingang, aber dort bilden diejenigen, die von der Straßenbahnhaltestelle kommen, eine ähnlich riesige Schlange, die aber, so hat es den Anschein, doch relativ zügig abgefertigt wird. Als er sich 18.55 Uhr am Ende der Schlange anstellt, dringen aus dem Inneren der Arena bereits die ersten Töne von Amorphis, und bis er in der Halle ist, hat das Sextett schon, wie sich später herausstellt, fast drei seiner acht Songs absolviert. Freilich könnte man das Bonmot anbringen, daß die Enttäuschung so wenigstens nicht noch länger ausgefallen ist: Zum einen steht der Rezensent direkt hinter dem Mischpultareal und wird trotzdem mit einem ziemlich üblen Sound gestraft, der zwar den Höhen genügend Transparenz einräumt, die Tiefen aber in einen unangenehmen Klangmulm verwandelt, den hörend zu durchdringen relativ schwer fällt - selbst wenn Tomi Joutsen, der mal wieder ein paar seiner Designermikrofone mitgeschleppt hat, in den Growlgesang wechselt, und das tut er doch ab und zu mal, hört man diese Lautäußerungen kaum aus dem besagten Mulm heraus, sondern vernimmt nur seine gekonnt dargebotenen Klargesangspassagen deutlich (und auch die Backings von Drummer Jan Rechberger). Zum anderen sind sich Amorphis offensichtlich bewußt, daß sie hier vor einem Publikum spielen, das sie zu 95% nicht kennt, und setzen daher zum Leidwesen der Altfans unter den restlichen 5% auf eine Setlist, die ausschließlich die jüngsten Alben berücksichtigt und die Klassiker der "Tales From The Thousand Lakes"-/"Elegy"-Ära völlig außen vor läßt. Selbst als letzter Song, der von Tomi mit großem Brimborium angekündigt wird und als "Stargast" Nightwish-Marco am zweiten Frontmikrofon sieht, kommt nicht ein erhoffter goldener Oldie, sondern "nur" "House Of Sleep". Zwar sind die jüngeren Amorphis-Alben, soweit der Rezensent das beurteilen kann (er besitzt nicht alle), keineswegs schlecht, sondern bieten teilweise sogar ziemlich starken Düstermetal mit 70er-Hardrock-Schlagseite, aber die musikhistorische Relevanz der Frühwerke geht ihnen leider völlig ab, und selbst auf die relativ kurze Zeit des vom Rezensenten erlebten Gigs fällt auf, daß sich die Stücke ziemlich ähneln. Das ist diversen Enthusiasten und auch einem Teil der indifferenten Masse in der ziemlich gut gefüllten Arena allerdings herzlich egal, und so können Amorphis doch einiges an Applaus einfahren, der zumindest in spieltechnischer Hinsicht, soweit man das bei diesem Klangbild entschlüsseln kann, auch verdient ist.
Setlist Amorphis:
Death Of A King
Sacrifice
Hopeless Days
Bad Blood
The Smoke
Silver Bride
The Four Wise Ones
House Of Sleep

Arch Enemy gehörten um die Jahrtausendwende zu den Bands, die den heutigen Rezensenten zu der Theorie animierten, melodischer Death Metal sei live wenig beglückend, wenn man die Gitarren nicht hört. Das ist an diesem Abend partiell auch noch so: Von vielen Rhythmusgitarrenparts der Herren Amott und Loomis bleibt (zumindest vom Standplatz des Rezensenten aus gehört, der sich mittlerweile vor dem Mischpultareal befindet) in den ersten sechseinhalb Songs im Tiefengewummer nicht viel übrig. Kurioserweise findet der Soundmensch während "Under Black Flags We March" dann den richtigen Dreh, und schon nimmt der Dröhnfaktor hörbar ab, der Staunfaktor dagegen deutlich zu. Neuzugang Loomis zeigt sich mit Bandgründer Amott jedenfalls bestens eingespielt, und auch der andere Neuzugang, nämlich Sängerin Alissa White-Gluz, macht eine prächtige Figur - optisch jedenfalls dann, als sie ihre seltsamen Schulterklappen Marke Fred "Nietenpapst" Otto abgelegt hat und die geräumige Bühne außerdem zu ausgiebigen Gymnastikübungen nutzen kann (außerdem war sie beim Friseur und hat die Farbe gewechselt), stimmlich zumindest dann, wenn man ihre Limitierung aufs extreme Fach (bei ihren bekannten anderweitigen Talenten) nicht als Limitierung empfindet. Erwartungsgemäß konzentrieren sich die Erzfeinde auf ihr neues Album "War Eternal" (das bisher einzige mit White-Gluz am Mikrofon) und bedenken auch den Vorgänger "Khaos Legions" noch reichlich, lassen aber mit dem uralten "Ravenous" gleich an Position 3 die Altanhänger nicht ganz leer ausgehen (und für die Demonstration der Amott-Loomis-Doppellauffähigkeiten ist dieser Song in der Tat ein exzellentes Beispiel). Daß überwiegend Midtemposongs im Set stehen, dürfte der Annahme geschuldet sein, das Nightwish-Publikum (das Arch Enemy ebenfalls zu 95% noch nicht kennen dürfte) wäre mit zu brettharten Nummern überfordert, wobei diese unter den anfangs gegebenen Soundverhältnissen auch völlig im Klangmatsch versumpft wären. "War Eternal" und "Ravenous" zählen trotzdem zu den Highlights des Sets, der etwas unglücklich ohne Ankündigung mit dem vom Band eingespielten "Enter The Machine" endet.
Setlist Arch Enemy:
Khaos Overture
Yesterday Is Dead And Gone
War Eternal
Ravenous
Stolen Life
You Will Know My Name
As The Pages Burn
Under Black Flags We March
Avalanche
No Gods, No Masters
Nemesis
Enter The Machine

Die neue Nightwish-CD startet bekanntlich ohne großes Intro-Brimborium, und ebenjenes Szenario erlebt man auch in der Einleitung des Konzertes, das erwartungsgemäß mit dem Albumopener "Shudder Before The Beautiful" eröffnet wird, und dessen erste drei Minuten gehören bekanntlich zum Stärksten, was auf der Scheibe zu hören ist. Live macht das nicht weniger Spaß, und auch die Band selber scheint solchen zu haben, wenn sich Emppu Vuorinen zu Tuomas Holopainens Keyboardriser begibt und sich beide freundschaftlich zu duellieren beginnen. Der Soundmensch hat offenbar zunächst die richtigen Einstellungen gefunden und zaubert einen erfreulich ausgewogenen Klang aus den Boxen, dazu kommt noch eine Handvoll Pyros - so könnte es weitergehen. Geht es allerdings nicht, und das gleich in mehrererlei Hinsicht: Ein Blick nach unten in Richtung Setlist offenbart, daß auch einige der eher durchschnittlichen Tracks der neuen Scheibe den Weg ins Programm gefunden haben, und auch der Soundmensch beginnt irgendwann gegen Setmitte am Rad zu drehen, so daß man "7 Days To The Wolves" erst am Refrain erkennt und auch das an Markanz nun kaum überbietbare Keyboardintro von "Storytime" praktisch nicht wahrnehmbar ist, zumindest nicht am Standplatz des Rezensenten, der sich mittlerweile weiter vorn befindet, und zwar an einer Stelle, von der aus die Strecke zur Bühne ungefähr der halben Strecke zum Mischpult beträgt. Kurioserweise kommt "Alpenglow" dazwischen relativ klar rüber, und auch nach "Storytime" tritt wieder ein Wandel zum Besseren ein. Keinen Wandel zum Besseren dagegen erfährt ein anderes Problem: Bekanntlich ist Floor Jansen zwar durchaus vielseitig, aber doch am ehesten als Metalsängerin arriviert und steht damit in direkter Konkurrenz zu Marco Hietala, was Komponist Holopainen auf der CD dadurch zu umgehen versucht hatte, daß er Jansen im wesentlichen in weicheren, "poppigeren" Stimmlagen besetzte. Live agiert die Holländerin nun aber auch in diesen Nummern durchaus etwas expressiver als in den Studiofassungen, aber damit gerät sie in Bereiche, in denen sie sich mit Hietala nicht mehr ergänzt, sondern die beiden sich gegenseitig behindern. Das ist ein strukturelles Problem, das logischerweise an diesem Abend auf der Bühne nicht gelöst werden kann, sondern nur grundsätzlich (oder aber grundsätzlich ignoriert werden kann). Immerhin schafft es die Sängerin, die kleinen Probleme beim Erreichen der Höhenlagen, was in "Ever Dream", dem ersten älteren Song, nur unter großem Kampf gelang, zu lösen und in späteren Songs deutlich sicherer zu agieren, wenn sie vor derartigen Aufgaben steht. Und Holopainen (oder wer auch immer die Setlist zusammengestellt hat) hält einige für sie bereit, beginnend gleich mit "Wishmaster". Außerdem gönnt er der Anhängerschaft zwei Überraschungen. Zunächst erklingt an Position 6 ein Song, mit dem wohl niemand gerechnet haben dürfte: "While Your Lips Are Still Red", anno 2007 B-Seite der "Amaranth"-Single gewesen und als Bonustrack sowohl auf einigen Editionen von "Dark Passion Play" als auch auf der "Made In Hong Kong (And In Various Other Places)"-Livescheibe verbraten (und auf der russischen "Greatest Hits"-Doppel-CD von 2008 zu finden). Mutmaßt man erst, daß das eine Umziehgelegenheit für Jansen sein könnte, wie sie bei den beiden Vorgängersängerinnen auch jeweils im Set untergebracht wurde, so geht diese Vermutung gleich in doppelter Hinsicht ins Leere: Jansen bleibt auf der Bühne und singt die Backings, und außerdem zieht sie sich während des ganzen Sets nicht um. Der Song selbst ist hübsch und würde vermutlich als noch hübscher empfunden, hätte man ein reizendes weibliches Wesen an seiner Seite, mit dem man die Aufforderung der Titelzeile wörtlich nehmen könnte (auch wenn das Emotionenpotential von "Slow Love Slow" unerreicht bleibt). Dafür verwandelt sich der Rezensent angehörs der anderen Überraschung in ein wild headbangendes Wesen - er hätte nicht wirklich damit gerechnet, in diesem Leben nochmal "Stargazers" vorgesetzt zu bekommen, den brillanten Opener des exzellenten Nightwish-Zweitlings "Oceanborn", für den langsam die Superlative fehlen. Danach hätte auch Schluß sein können - ist es aber zum Glück nicht, denn eine bärenstarke Fassung von "Ghost Love Score" folgt (Jansen flüstert die einleitenden Zeilen hier eher, was durchaus gut paßt), und zu "Last Ride Of The Day" zuckt das Tanzbein nochmal heftig. Und dann? Holopainen traut sich tatsächlich, "The Greatest Show On Earth" auf die Bühne zu bringen, wenngleich in einer etwas gestrafften Form - und die funktioniert tatsächlich deutlich besser als die hier und da zu langatmige Studioversion, wobei außerdem die letzten acht Minuten eher als eine Art Outro fungieren, bei dem sich die Band feiern läßt und verabschiedet, so daß man außer Zuhören auch noch andere Dinge zu tun hat und die Langeweile der Studioversion anderweitig überwunden wird. Trotzdem hätte Holopainen, wenn er ausgerechnet in der Bachstadt Leipzig spielt, ruhig beide scheinbaren Bach-Zitate drinlassen können ... So stellt eine überwiegend starke zweite Konzerthälfte eine eher mäßige erste Konzerthälfte in den Schatten, und Jansen beweist sich zudem als Konditionswunder, das wie erwähnt ohne Pause problemlos zwei Stunden durchhält. Falls jemand fragt: Ja, Troy Donockley war auch da, aber großartig Akzente gesetzt hat er nicht, während Aushilfsdrummer Kai Hahto einen Deut lockerer zu spielen scheint als Jukka Nevelainen und allein schon dadurch einen positiven Beitrag zum Unterhaltungswert des Gigs leistet (die Band selber hat auch sichtlich Spaß, wenn etwa der Gitarrist seinem Keyboarder einfach mal so eines seiner Manuale abschaltet). Und über Probleme wie eben die beschriebene Lage, wo sich die beiden Stimmen im Wege stehen (was kurioserweise auf dem Wacken-Livealbum deutlich weniger auffiel), nachzudenken bleibt noch genug Zeit bis zum nächsten Konzert oder Studioalbum, so daß man sich die positive Nach-Konzert-Stimmung nicht davon verderben lassen muß.

Setlist Nightwish:
Shudder Before The Beautiful
Yours Is An Empty Hope
Ever Dream
Wishmaster
My Walden
While Your Lips Are Still Red
Élan
Weak Fantasy
7 Days To The Wolves
Alpenglow
Storytime
I Want My Tears Back
Nemo
Stargazers
Ghost Love Score
Last Ride Of The Day
The Greatest Show On Earth



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