NIGHTWISH: Made In Hong Kong (And In Various Other Places) von rls (Nuclear Blast)
Mal wieder ein Zwischendurch-Release von Nightwish: Ein unvollständiges Livealbum kennt man ja von ihnen schon, nämlich in Gestalt von "Over The Hills And Far Away", das vier Studio- und sechs Livesongs koppelte, wobei allerdings als Finnland-Only-Release auch der komplette Konzertmitschnitt unter dem Titel "From Wishes To Eternity" erschienen war und die Studiosongs dafür als Single herauskamen. "Made In Hong Kong (And In Various Other Places)" nun enthält acht Livesongs und drei Studiofassungen, wobei man festhalten muß, daß die acht Livesongs zu LP-Zeiten spielzeitseitig bedenkenlos ein vollständiges Livealbum ergeben hätten und es auch heute zu CD-Zeiten Livealben gibt, welche deutlich kürzer sind als die hier zu hörenden ungefähr 50 Liveminuten (manche Bands spielen ja auch selbst als Headliner nicht länger ...). Repräsentativ für die Bandgeschichte ist die Auswahl allerdings nicht - man konfrontierte Anette Olzon hier nicht mit original auf Tarja Turunen zugeschnittenem Material, sondern beschränkt sich auf Songs des immer noch als erstklassig einzustufenden Olzon-Debüts "Dark Passion Play". Nun hat der Rezensent die zugehörige Tour auch gesehen (man lese bei Interesse den Livebericht aus Leipzig nach) und stellt zunächst fest, daß offensichtlich die Setlist auf der Welttour etwas variiert worden ist - "Last Of The Wilds" und "7 Days To The Wolves" jedenfalls standen in Leipzig nicht auf der Setlist, die anderen sechs Tracks aber schon. Daß mit zunehmender, nicht nur orchestraler Komplexität die Stücke von Nightwish live immer schwieriger abzumischen sind, dürfte niemandem entgangen sein, und auch die hier verewigte Livefassung von "The Poet And The Pendulum" treibt dem empfindsamen Hörer gerade im Schlußteil die Tränen in die Augen - und zwar zunächst keine Freudentränen; die folgen erst, wenn man erkannt hat, daß auch diese recht angerauhte und von der Balance her vom Studiooriginal teils deutlich abweichende Fassung ihre ganz speziellen Reize hat, etwa in dem perlenden Klavier-plus-Baß-Outro dieses Songs, für das sich besonders Marco Hietala einen Extrapunkt gutschreiben lassen darf. Die Aufnahme ist teilweise so roh geraten, daß man Nightwish geradezu für ihren Mut bewundern muß, so etwas in dieser Form überhaupt herauszubringen. Gerade im Opener "Bye Bye Beautiful" liegen sowohl Anette als auch (und vor allem!) Marco gesanglich teilweise derart neben der Spur, daß man sich kopfschüttelnd fragt, wie der bekanntermaßen perfektionistisch veranlagte Tuomas Holopainen hier entscheiden konnte, nichts auszubessern, sondern das in dieser Form zu belassen. Andererseits spricht gerade das für die Echtheit und Authentizität der Band (die ihr Neider immer wieder gerne absprechen), zumal sich wahre Könner dadurch auszeichnen, daß sie sich schnell fangen: Anette steigert sich in den Folgesongs deutlich und bringt weitestgehend die Leistung, die man von ihr erwartet (das Ungewohnte mancher Passagen erklärt sich hier daraus, daß sie in mehrstimmigen Parts halt nur eine Stimme singen kann und die anderen entweder nur leise oder gar nicht eingesampelt werden), und auch Marcos nächste nicht allein rhythmisch determinierte Gesangseinsätze in "The Islander" zeigen den Mann in guter Form. Ausfälle gibt es freilich immer wieder, und auch hier wurde nichts kaschiert - Anette sich in "The Poet And The Pendulum" auf "shore" hochquälen und dann eine Oktave tiefer sacken zu hören ist schon irgendwie anstrengend, und daß Marco die nächste Zeile gesanglich stützt, war garantiert so nicht geplant. Freilich gibt das Booklet keine Informationen her, wo welcher Song aufgenommen wurde (man verrät lediglich summarisch, daß es in Hong Kong, der Schweiz, Deutschland, Finnland, Österreich und Großbritannien gewesen sei - das hatten Manowar weiland noch anders gemacht und eine exakte Aufschlüsselung gebracht, damit jeder Fan weiß, wo man ihn eventuell mitschreien hören kann ...), und damit bleibt auch unklar, welchen Belastungen die Stimme bis dahin schon unterlegen war. In Leipzig brachte die Schwedin jedenfalls eine nahezu tadelsfreie Leistung - ihren Sympathiefaktor freilich kann man in der Tonkonservenfassung nicht nachverfolgen, dazu bedürfte es einer DVD. Die ist zwar in der vorliegenden Doppelscheibenfassung auch dabei, beinhaltet aber "nur" drei Videoclips (zu "Amaranth", "The Islander" und "Bye Bye Beautiful") sowie eine Tourdokumentation ohne längere Konzertmitschnitte (dafür interessanterweise mit "Moondance" als kurze Klangtapete einer On-the-road-Szene). Zurück zum Audiomaterial: Natürlich sind Nightwish durch die Orchestereinspielungen in der Spontaneität gehandicappt, aber kleine Variationen gönnen sie sich doch immer wieder, und spannend genug ist die Genese von einem Studio- zu einem Livesong vor allem bei der Anwendung der Kunst des Weglassens - hierfür bekommt man etliche schöne Beispiele, so etwa das "leere" Break vor dem ersten Gesangseinsatz in "Bye Bye Beautiful", das auf den ersten Hör zwar ungewohnt wirkt, aber keineswegs stört. Freilich hat auch die Kunst des Hinzufügens ihren Reiz, etwa wenn Anette Hintergrundgesänge hinter Marcos Leads in "Bye Bye Beautiful" und "The Islander" legt, die in der Studiofassung so noch nicht vorhanden oder zumindest nicht aktiv wahrnehmbar waren, hier aber ganz neue atmosphärische Eindrücke ermöglichen. Und der Schlußpart von "The Islander" ab Minute viereinhalb mit seinem von Tuomas simulierten Orchester und seinem rockenden Gestus versetzt den Hörer urplötzlich zehn Jahre in die "Oceanborn"-Phase zurück. Ohrenscheinlich sind bisweilen auch Gastmusiker am Start - auch der Flötist in "The Islander" liegt einsatzseitig nämlich immer mal neben der Spur, ist also live und nicht eingesampelt, was sicher möglich gewesen wäre (und in Leipzig mangels eines Soloflötisten auch umgesetzt wurde), aber rein atmosphärisch natürlich die zweitrangige Lösung darstellt, wenn denn die sonstigen Rahmenbedingungen stimmen. Summiert ergibt sich ein Livemitschnitt mit für Nightwish-Verhältnisse erstaunlich vielen Ecken und Kanten, der Einsteigern wegen ebendiesen nicht zu empfehlen ist, aber Kennern viel Analysematerial bietet und diesen auch jede Menge Hörspaß bereiten dürfte.
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