www.Crossover-agm.de NIGHTWISH: Over The Hills And Far Away
von rls

NIGHTWISH: Over The Hills And Far Away   (Drakkar Records)

Kein neues Studioalbum von Nightwish, sondern ein Zwischendurch-Release, bei dem sich wie bei fast allen Aktionen dieser Art natürlich die Frage nach dem Sinn stellt. Ich meine, ich als Journalist hab' die CD umsonst in den Briefkasten gelegt bekommen, und die entscheidende Frage ist halt immer, ob ich bereit wäre, dafür im Bedarfsfalle auch x DM über den Ladentisch zu schieben (das vergessen viele Kollegen mitunter). Nun haben Nightwish bekanntermaßen gleichermaßen den Vorteil wie die Bürde, eine meiner absoluten Lieblingscombos zu sein, so daß ich mich einerseits über jedes neue Lebenszeichen von ihnen freue, andererseits aber auch höchste Anforderungen an das gebotene Material stelle.
Wollen wir mal sehen, wie die Ausbeute auf "Over The Hills And Far Away" ausfällt. Wem der CD-Titel bekannt vorkommt, dem darf ein gutes Gespür bescheinigt werden, denn es handelt sich beim Titeltrack tatsächlich um eine Coverversion. Der olle Led Zeppelin-Track ist es allerdings nicht, den sich Tuomas & Co. vorgenommen haben, sondern der auch schon 14 Jahre alte von Gary Moore - eine Idee, die Thyrfing auch gerade erst hatten, wobei ich allerdings keiner Seite Inspirationsdiebstahl vorwerfen will. Da ich die Thyrfing-Version nur vom Hörensagen kenne und "Wild Frontier" auch gerade nicht zur Hand habe, unterlasse ich das Anstellen tiefergehender Vergleichsanalysen, sondern beschränke mich auf die Aussage, daß dieser Track in der vorliegenden Version im Nightwish-Repertoire problemlos als Eigenkomposition durchgehen könnte, und das ist eines der größten Komplimente, die ich in diesem Zusammenhang verteilen kann. Der trockene, blitzgescheit nach vorn arbeitende Rhythmus führt gar dazu, daß ich durchs Büro zu springen beginne, wie ich es seit "The Riddler" nicht mehr getan habe, so daß halb Sachsen von Erdbeben erschüttert würde, wenn ich den Körperumfang der Wildecker Herzbuben besäße. Einfach nur genial, selbstverständlich von allen Instrumentalisten und auch von Tarja erstklassig in Szene gesetzt und letztlich feinstes Entertainment, über dessen Darbietung auf der nächsten Tour sicher nicht nur ich hocherfreut wäre. Dank des Mitgrölrefrains ist der Song zudem kneipentauglich, der leider nicht im Booklet zu findende Text lädt zu allem Überfluß auch noch zum Philosophieren ein - kann es einen kompletteren, multifunktionaleren Song geben? Ich glaube nicht. Also weiter, ehe die Pferde völlig mit mir durchgehen. "10th Man Down" und "Away" sind zwei neue Songs, aufgenommen im Winter 2000/2001 und stilistisch weniger an den von mir so innig geliebten Superbombast von "Oceanborn" als vielmehr an die etwas kontrolliertere Linie von "Wishmaster" anknüpfend, dabei aber zumindest der ersten Hälfte letztgenannter Platte überlegen. "10th Man Down" nimmt nach eher verhalten ausgeschmücktem Anfang einen konsequenten Weg in Richtung "bombastisch-orchestraler Power Metal" (ich vermeide bewußt den Terminus "Speed Metal"), fährt bekannte Nightwish-Trademarks wie den tiefen, aber kaum angerauhten Männergesang auf und entwickelt sich zu einem abwechslungsreichen Track mit typisch Nightwish-mäßiger kompositorischer Substanz. "Away" entfernt sich ebenfalls nicht von den Nightwish-typischen Konventionen, sondern stellt eine Orchestralhalbballade dar, die ich in meinem Ranking hinter dem wohl unübertreffbar bleibenden "Swanheart", etwa auf gleichem Level mit "Walking In The Air" und klar vor dem Meterwaren-mäßigen "Two For Tragedy" ansiedeln würde. Tarja legt mal wieder pfundweise romantisch angehauchte Emotionen vor, die von ihren Kollegen dankenswerterweise nicht zerstört werden, obwohl das letzte Supportprozentchen, diesen Song zum Dahinschmelzer Nummer 1 zu machen, ebenfalls fehlt. Trotzdem dürfte sich auch "Away" zum Dauerbrenner im Bereich "Kuschelmetal" entwickeln, wogegen prinzipiell natürlich nichts einzuwenden ist (aus bekannten Gründen ist der Selbstversuch unterblieben). Mit "Astral Romance" folgt ein Song, den man allein aufgrund seines Titels ebenfalls in die Kuschelmetal-Ecke stecken könnte - nichts wäre indes falscher als das, denn hier geriete man ganz gewaltig aus der meditativ-zärtlichen Stimmung und würde vielmehr wieder wild bangend durchs Zimmer pogen. Die Originalversion stammt vom 97er Nightwish-Debüt "Angels Fall First", und auch die Neuaufnahme unterstreicht, daß die Band seinerzeit noch ein wenig mehr in die Gothic-Richtung geschielt hat, was speziell an der einleitenden Melodik, aber auch an Tuomas' Keyboardteppichen festzumachen wäre. Gegen Ende entwickelt sich "Astral Romance" allerdings zu einem Meisterstück melodisch-orchestralen Speed Metals (hier setze ich den Begriff bewußt ein), das eindrucksvoll unterstreicht, daß Nightwish seinerzeit noch völlig ohne störende kompositorische Routine, Erwartungsdruck oder andere, weniger bewußt, aber sicher unterbewußt wirkende Elemente agieren konnten, denn es nimmt den unbekümmerten, frischen, drauflosspielenden Aspekt, der "Oceanborn" so genial machte, vorweg. Vom Feinsten ist das, einfach nur vom Feinsten, und "Astral Romance" erzielt folgerichtig neben dem Titeltrack den zweiten Big Point dieser CD.
Eine Option wäre gewesen, diese vier Songs als Maxi herauszubringen (was in Finnland auch so geschehen ist), aber Nightwish bzw. das Label wollten lieber Nägel mit Köpfen machen (neben künstlerischen Überlegungen dürften auch finanzielle und strukturelle Aspekte eine Rolle gespielt haben). So wurden noch sechs Tracks dazugepackt, Livemitschnitte des Abschlußkonzerts der "Wishmaster"-Tour im Dezember 2000 in Tampere. (Zwar assoziiert das Cover eine Aufnahme bei einem Open Air, aber im Dezember in Finnland ein solches durchzuführen grenzt wohl doch ein wenig an suizidale Neigungen; außerdem paßt die Felskulisse im Hintergrund auch nicht so richtig dazu, sieht das doch eher aus wie ein Ausschnitt des Langkofels, und der steht in den Dolomiten in Italien.) Im Gegensatz zu einigen Kollegen, die dem Material einen zu glattpolierten, arg nachbearbeiteten Charakter attestierten, neige ich eher zur Ansicht, hier sei nicht mehr allzuviel nachgeschliffen worden, liegt doch Emppus Gitarre bei den Lead-Rhythmus-Übergängen sympathischerweise ab und an mal leicht daneben, schwankt auch in der soundlichen Dominanz etwas (wobei logischerweise Tarjas bravouröser Gesang und Tuomas' nicht ganz den Studiozustand kopierende Tastenarbeit im akustischen Mittelpunkt des Geschehens stehen), und Tarjas Vibrato (hört mal das abschließende "Deep Silent Complete"!) besitzt ebenfalls einen mehr als natürlichen Touch. Ich bin allerdings bei der Show nicht dabeigewesen und unterlasse deshalb jegliche exakten Schlußfolgerungen. Dafür kann ich was zur Setlist sagen, und es könnte in meinem Augen bezeichnend für die Weiterentwicklung Nighwishs sein, daß sie ausgerechnet solche Tracks ausgewählt haben, die sich der eher kontrollierten Musizierweise verschrieben haben, womit sie für mich etwas weniger beglückend ausgefallen sind als Exempel Marke "Stargazers" (sollte ich den Begriff "schwach" verwenden, so sei angemerkt, daß "schwach" im Zusammenhang mit Nightwish soviel wie "immer noch 95 % aller anderen Metalbands überlegen" bedeutet, wenn man das bisherige Schaffen der Finnen zugrunde legt). Ich verweise auf die Rezension von "Wishmaster", warum ich "The Kinslayer", "Wishmaster" und "She Is My Sin" zur schwächeren, "Deep Silent Complete" aber zur superben Kategorie zähle. Aufschlußreich ist auch die Wahl der "Oceanborn"-Stücke, hat man doch mit "Walking In The Air" und "Sacrament Of Wilderness" die neben "Passion And The Opera" einzigen leicht abfallenden Stücke gewählt und dafür Wunderwerke wie "The Pharaoh Sails To Orion", das zumindest in Engelsdorf am 13.10.2000 zur Setlist gehörte, außen vor gelassen. Dies geschrieben habend, erinnere ich mich aber wieder an die beiden neuen Stücke, die auf "Over The Hills And Far Away" zu hören sind, und hoffe inständig, daß die Band es schafft, unbeeinflußt und ohne Druck in dieser Richtung weiterzuarbeiten, um mit dem nächsten regulären Studioalbum die "Oceanborn"-Steilvorlage durch Ausschaltung aller winzigen Schwächeanfälle zu einem perfekten Werk weiterzuentwickeln.
"Over The Hills And Far Away" gibt's übrigens auch im Digipak, der die sechs Livetracks zusätzlich als Video enthält. Zudem ist für DVD-Fetischisten ein solches Medium namens "From Wishes To Eternity" erhältlich, das komplette Tampere-Konzert sowie einen Stapel Extras enthaltend. Als Video ohne weitere Extras gibt's das Tampere-Konzert schlußendlich auch noch. Dumm nur, daß die vier anderen Tracks von "Over The Hills ..." bis "Astral ..." dort und auch auf der DVD wohl nicht vertreten sein dürften. Letzten Endes wird der Interessierte also auf jeden Fall doppelt zur Kasse gebeten, will er das Komplettpaket haben, und das stößt mir ein wenig sauer auf. Klar, niemand wird gezwungen, sich diese Medien zuzulegen, aber gerade bei einer hochgradig beliebten Band wie Nightwish, die beinahe eine Sogwirkung auf die Anhänger ausübt, ärgern mich solche Verhaltensweisen ein wenig. Das musikalische Urteil "Mit den dargelegten Abstrichen exzellent" wird von derartigen strukturellen Überlegungen aber nicht beeinträchtigt.
 




www.Crossover-agm.de
© by CrossOver