www.Crossover-agm.de NIGHTWISH: Endless Forms Most Beautiful
von rls

NIGHTWISH: Endless Forms Most Beautiful   (Nuclear Blast)

Ein bißchen sorgenvoll hatte man ja schon länger dreingeblickt: Immer wenn man glaubte, Tuomas Holopainen hätte mit einem neuen Nightwish-Album ein nicht mehr zu übertreffendes Werk geschaffen, zog der finnische Chefzauberer auf der nächsten Scheibe wieder neue Geniestreiche aus dem Hut. Aber wie lange würde das noch funktionieren? Der akute Schwächeanfall auf seinem Soloalbum "The Life And Times Of Scrooge" machte dann einerseits deutlich, daß Holopainen auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut (und kein Quasi-Computer, der auf Knopfdruck neue Meisterwerke ausspuckt) ist, ließ andererseits allerdings auch neue Sorgenfalten auf der Stirn des Hörers entstehen: Bleibt der Ausrutscher einmalig? Beflügelt die neue Sängerin Floor Jansen das Nightwish-Schaffen vielleicht sogar zu abermaligen, bisher unerreichten Höhen?
Die Antwort ist ein zweimaliges Nein. Holopainen hatte angekündigt, in Zukunft wieder etwas basischere Stücke für Nightwish zu schreiben, und der nach wenigen Sekunden gesprochenem Intro losflitzende Opener "Shudder Before The Beautiful" assoziiert zunächst, daß den Worten auch Taten folgen würden. Nimmt man nur die dem Intro folgenden reichlich drei Minuten als Maßstab, so könnte man in der Tat Hoffnungen auf ein abermaliges Meisterwerk hegen, das zudem nach Minute zweieinhalb eine gehörige Überraschung bereithält: Wann hat man bei Nightwish zum letzten Mal ein derartiges Gitarre-Keyboard-Exzelsior-Duell klassischer Ausprägung gehört? Die Antwort fällt schwer, die Qualität als außerordentlich zu bezeichnen umso leichter. Bei Minute dreieinhalb ist es allerdings mit der Herrlichkeit vorbei, und es zeigt sich ein Problemfall, der sich, wie sich nach Komplettdurchlauf erweist, durch gute Teile des Albums zieht: Man hat zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl, daß sich Holopainen kompositorisch im Kreise dreht und bestimmte Ideen schon auf Vorgängeralben umgesetzt hat - und zwar dort besser. In "Shudder Before The Beautiful" betrifft das im abgestoppten Part ab Minute dreieinhalb das Finale von "Master Passion Greed", das hier überdeutliche Spuren hinterläßt. "Yours Is An Empty Hope" leiht sich Ideen von "Dark Chest Of Wonders", "Planet Hell" und abermals "Master Passion Greed", die Orchesterzusammenbrüche in "The Greatest Show On Earth" gab es in "The Poet And The Pendulum" schon mal (und dort viel spannender), und "My Walden" ist leider nur die kleine und unattraktivere Schwester von "I Want My Tears Back" mit keltischem Appendix und völlig konfusem Finale geworden, während "Élan" an der Kreuzung von "Nemo" und "Last Of The Wilds" scheitert. Zwar können Selbstzitate durchaus zum Stilmittel werden, aber im Nightwish-Kontext dürfte diese Theorie wenig Anhänger besitzen, und auf "Endless Forms Most Beautiful" findet sich unglücklicherweise wenig, was diese Theorie rechtfertigen würde - mal abgesehen von dem Fakt, daß das die betreffenden Songs zwar erklärbar, aber auch nicht besser macht. Überhaupt finden sich neben einigen wenigen Highlights diesmal erstaunlich viele Stücke, die zwar soliden Orchestermetal bieten, aber das übliche Nightwish-Niveau ziemlich weit verfehlen (auch wenn 99% aller anderen Bands sie immer noch mit Kußhand übernehmen würden). "Edema Ruh" (unspannendes Pendant zu "The Riddler", trotz teilweise schöner Gitarrenarbeit Emppu Vuorinens) und das Instrumental "The Eyes Of Sharbat Gula" (nimmt die Langatmigkeit des als übernächstes analysierten Folgesongs vorweg) rauschen am Hörer vorbei, während ihn der Balladenversuch "Our Decades In The Sun" eher aufregt: Der Balladenteil für sich genommen ist nicht schlecht, der progressiv verschachtelte Einschub auch nicht, aber mit diesen beiden Teilen ist definitiv etwas zusammengewachsen, was nicht zusammengehört. Gar als überambitioniert muß der 24minütige Albumcloser "The Greatest Show On Earth" bezeichnet, den es auf der zugehörigen Tour in einer gekürzten Fassung zu hören gab - und die war deutlich spannender als die teilweise arg langatmige Albumfassung, auf der man sich mühsam von einzelnen interessanten und teilweise mitreißenden Passagen zu den nächsten ebensolchen handelt und in der Darstellung der menschlichen Kulturevolution mit Freude die beiden versteckten Scheinbar-Bach-Zitate entdeckt (erst das gar nicht von Bach, sondern von Christian Petzold stammende G-Dur-Menuett aus dem "Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach" und dann die vielleicht auch nicht von Bach stammende Toccata d-Moll, interessanterweise nicht mit ihrem allgemein bekannten Intro, sondern einer Passage aus dem weiteren Verlauf), aber sich insgesamt eher gepflegt langweilt. Klar, hier steckt ein Konzept dahinter (die kurze Geschichte der Evolution nach Richard Dawkins, der auch als Märchenonkel zu hören ist), aber das macht die 24 Minuten auch nicht spannender, vor allem die beiden letzten Teile (die sich noch über sieben Minuten hinziehen) nicht; das Prinzip des Ausklingenlassens eines Epos hatte Holopainen schon mit "Song Of Myself" perfektioniert, und auch der nette Orchesterbombast um Minute 20 herum rettet nichts mehr. Dagegen lassen sich die Highlights der 79 Minuten an den Fingern einer Hand abzählen: der besagte halbe Opener "Shudder Before The Beautiful" und die drei sich allesamt von ihren Refrains her erschließen lassenden "Weak Fantasy", "Alpenglow" (könnte der Hit der Platte werden und erinnert an beste Zeiten um die Jahrtausendwende, ohne diese aber krampfhaft herbeizuzitieren) und der Titeltrack, wobei allerdings auch hier festzuhalten bleibt, daß sie den Glanztaten der vergangenen Alben auch nach der bisherigen Reifezeit und einem Nightwish-Intensivhörwochenende mit dreimaligem Durchlauf der Doppelscheibe (CD 2 der Digipackedition enthält wie gewohnt die Scheibe als Instrumentalversion, wobei hier und da die Backing Vocals draufgelassen wurden, was etwa die Einarbeitung in den Refrain des Titeltracks erleichtert) nicht Paroli bieten können. Vielleicht ändert sich diese Einschätzung mit weiteren Durchläufen noch; sie ist auch bisher nicht statisch gewesen (so hat "Weak Fantasy" erst nach seiner Livedarbietung auch in der Studiofassung einen "Wachstumsschub" erlebt).
Bleibt die Frage zu beantworten, wie sich die beiden Neuen im Nightwish-Camp schlagen. Kai Hahto ersetzt bekanntlich den unter akuter Schlaflosigkeit leidenden Jukka Nevalainen zumindest temporär am Schlagzeug und macht seinen Job ohne Ausfälle. Spannender ist die andere Personalie, nämlich wie Holopainen Floor Jansen eingebunden hat. Nach einer klassischen und einer Pop- hat er nun ja eine Metalsängerin, die allerdings zumindest in gewissen Grenzen auch die beiden anderen Fächer beherrscht. Nach dem Durchhören ist man allerdings reichlich ernüchtert: Irgendwie hat man das Gefühl, als wisse der Komponist noch nicht so recht, was er mit dieser Stimme anfangen soll, und limitiert sie daher vorerst vorsichtig auf einen im besten Fall als neutral zu bezeichnenden Gesangsstil, der auf alle, die die Stimmvielfalt dieser Frau kennen, erstmal wie eine kalte Dusche wirkt. Außer im leicht angerauhten Refrain von "Weak Fantasy" und der Bridge von "Alpenglow" darf Jansen nur in "The Greatest Show On Earth" an zwei Stellen abermals aus dieser Normallage ausbrechen (einmal in seltsamem, aber reizvollem erzählendem Gestus, einmal angerauht). Zumindest umgeht Holopainen mit dieser Limitierung seiner Sängerin einen Fallstrick: Er hat ja schon einen leicht angerauhten Metalsänger in der Band, nämlich Marco Hietala - und wenn Jansen etwas expressiver agiert, was sie live gelegentlich tat, dann ergänzen sich die Stimmen nicht, sondern behindern sich gegenseitig. Kurioserweise agiert Hietala in seinen relativ wenigen Gesangsbeiträgen des Albums aber auch noch relativ zurückhaltend, was dann wieder zur Gefahr von Redundanzen führt (höre den völlig ins Leere laufenden Refrain von "Edema Ruh" als abschreckendes Beispiel). Klar, das sind Probleme, für die andere Bands ihren Manager und ihre Großmütter verkaufen würden - aber von Nightwish erwartet der Hörer alles überstrahlende Meisterwerke, und obwohl "Endless Forms Most Beautiful" in seiner Gesamtheit als gutes, streckenweise sehr gutes Orchestermetalalbum durchgeht und mit einem anderen Bandnamen auf dem zwar detailreichen, aber kaum Einzelheiten erkennbar machenden Cover nicht weit von einer Sensation entfernt wäre, so ist es im Nightwish-Kontext doch nur weit hinten einzusortieren. Erwähnt werden muß zudem das zwar klare, aber seltsam drucklose Soundgewand - beim Rezensenten muß die Anlage jedenfalls eine komplette Stufe weiter aufgedreht werden als bei "Imaginaerum" und gar zwei als beim schon wieder mehr als zehn Jahre alten Seraphim-Album "Ai", um gleiche Lautstärke im Wohnbüro zu erzeugen, und wenn man vergißt, den Pegel bei der nächsten eingeworfenen CD wieder herunterzuregulieren, wundert man sich, warum selbst eine anderthalb Jahrzehnte alte Eigenproduktion wie "Demons To Some...Angels To Others" von Pagan Angel so viel Druck macht ... Detail am Rande: Am Ende der Instrumentalversion beschwert sich Holopainen/Dawkins, warum man nicht mal eben einfach nur ein Stück Musik komponieren dürfe. Darf er ja. Nur hat sein Zaubererhut diesmal offenbar unten ein Loch, durch das ein gutes Stück der Genialität herausgefallen ist, und es bleibt eine spannende Frage, ob er sie bis zum nächsten Album wiedergefunden hat. Derweil analysieren Nightwish-Anhänger "Endless Forms Most Beautiful" weiter, während Einsteigern eher zu einem der Vorgängeralben geraten sei.
Kontakt: www.nightwish.com, www.nuclearblast.de

Tracklist:
CD 1:
Shudder Before The Beautiful
Weak Fantasy
Élan
Yours Is An Empty Hope
Our Decades In The Sun
My Walden
Endless Forms Most Beautiful
Edema Ruh
Alpenglow
The Eyes Of Sharbat Gula
The Greatest Show On Earth

CD 2:
Instrumental Version
 




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