www.Crossover-agm.de NIGHTWISH: Showtime, Storytime
von rls

NIGHTWISH: Showtime, Storytime   (Nuclear Blast)

Es könnte zur Tradition bei Nightwish werden, jede Tour auch mit einem Livealbum zu dokumentieren - aber in diesem Falle sind noch andere Faktoren zu berücksichtigen. Bekanntlich ging die Band im Herbst 2012 wieder mal ihrer Sängerin verlustig, als Anette Olzon zunächst vereinzelt (und krankheitsbedingt) durch die Sängerinnen der gerade mit auf Tour befindlichen Vorbands ersetzt wurde und schließlich der Posten von ihr und der Band für komplett vakant erklärt wurde. Floor Jansen, mit After Forever zu einiger Popularität gelangt und nach deren Ende gerade ihr Soloprojekt ReVamp aufziehend, wurde schließlich als Gastsängerin engagiert und bestritt die noch ausstehenden 2012er sowie die anstehenden 2013er Gigs, an deren Ende sie schließlich zum offiziellen Bandmitglied gemacht wurde. Das war freilich noch nicht spruchreif, als der hier mitgeschnittene Gig aufgezeichnet wurde, den die Band als Headliner vor einer riesigen Menschenmenge beim Wacken Open Air im August 2013 spielte und der sowohl in der vorliegenden Doppel-CD-Variante als auch auf DVD (und als Kombipackage) erhältlich ist.
Offensichtlich hatten Nightwish nur 90 Minuten Spielzeit, denn diese ergibt sich in der Summe der beiden CDs ungefähr - die regulären Tourgigs, deren Leipzig-Abstecher am Maifeiertag 2012 der Rezensent miterlebt hat, die noch zur Albumpromo von "Imaginaerum" dienten und wo noch Anette sang, waren aber deutlich länger gewesen. Gemäß einer Ansage ist der Wacken-Gig allerdings als Jubiläumsshow gedacht gewesen (Frage wäre nur, wofür - in chronologischer Hinsicht würde sich allenfalls das 15jährige Albumjubiläum des Debüts "Angels Fall First" anbieten, aber Material von diesem taucht in der Setlist gar nicht auf, und eigentlich ist es ja auch schon Ende 1997 erschienen, nicht 1998), und aufgrund des Sängerinnenwechsels sind ja sowieso alle Konzepte erstmal auf den Prüfstand zu stellen gewesen. Ergo wird auch die Setlist ziemlich umgekrempelt. Klar, etliches "Imaginaerum"-Material verbleibt natürlich trotzdem im Set und häuft sich vor allem gegen Ende hin, aber ansonsten fliegen auch noch alle älteren "Zusatzsongs", die nicht zur Unverzichtbar-Sorte gehören, raus und werden durch andere ihrer Art ersetzt. So kommt "Ever Dream" mal wieder zum Zuge, aber die größere Überraschung vom "Century Child"-Material dürfte die Ausgrabung von "Bless The Child" sein, dem dann gleich noch "Romanticide" folgt, das in der Livefassung etwas mehr Überzeugungskraft entfaltet als in der Studioversion und zudem von Marco Hietala mit einer sehr anschaulichen Ansage eingeleitet wird, in der er dem Publikum ein Beispiel für einen klassischen Romantizid bringt. Ältester Beitrag der Setlist ist allerdings "She Is My Sin", mit dem auch nicht unbedingt zu rechnen gewesen wäre und das hörbar für große Begeisterung im Publikum sorgt - Material vom Debüt und auch von "Oceanborn" bleibt allerdings wieder mal unberücksichtigt, und da die Spielzeit begrenzt ist und die Auswahl schon der Eigenkompositionen schwergefallen sein dürfte, verzichten Nightwish auch auf "Over The Hills And Far Away". Dafür finden allerdings noch zwei "Once"-Highlights den Weg zurück auf die Bühne, die auf der letzten Tour weggefallen waren: "Dark Chest Of Wonders" gibt einen kapitalen Opener ab (die CD enthält übrigens kein Intro o.ä. - gab's keins, oder wurde es weggeschnitten? Augenzeugen glauben sich an ersteres zu erinnern), "Ghost Love Score" erntet am anderen Ende des regulären Sets gewaltigen Jubel, bevor das Showende in der Struktur dem von 2012 gleicht, also "Song Of Myself" ohne das Spoken-Word-Outro (wer die DVD besitzt, kann sicherlich auch ergründen, ob wie damals auf der Tour die Outro-Texte auf das Backdrop projiziert wurden), "Last Ride Of The Day" und schließlich "Imaginaerum" als Outro vom Band, das auf der CD interessanterweise länger ausgefallen ist als auf der DVD (und wo man kultigerweise eine Ordneranweisung dringelassen hat, wo die Leute zur anderen Seite geschickt werden). Dazu kommt wie bemerkt auch im Hauptset noch etliches an "Imaginaerum"-Songmaterial (die mittelprächtige Single "The Crow, The Owl And The Dove" fehlt positiverweise), während die andere Anette-Scheibe, "Dark Passion Play", wieder nur zwei Songs stellen darf, nämlich "Amaranth" und das Instrumental "Last Of The Wilds", bei dem auch das andere später zu einem vollwertigen ernannte Bandmitglied glänzen darf: Troy Donockley spielt diverse Blasinstrumente und erzielt hier interessante Wirkungen, wird aber ansonsten vom Soundgewand meist nicht sonderlich pfleglich behandelt, was vielleicht das einzige Manko in dieser Hinsicht darstellt (einige Samples kommen auch eher leise, aber das macht nichts). Interessanterweise hat Tuomas Holopainen bei Schnitt und Mix die Verantwortung komplett abgegeben (was sehr untypisch für ihn ist) und sie an Marco und dessen Tarot-Bandkollegen Janne Tolsa übertragen.
Die große Frage ist nun aber: Wie schlägt sich Floor Jansen? Im Gegensatz zu ihren beiden Vorgängerinnen muß sie ja vorläufig ausschließlich mit Material zurechtkommen, das nicht auf ihre Stimme zugeschnitten ist, wenngleich ihre Verpflichtung zumindest nicht völlig ins Blaue hinein geschah - schließlich waren After Forever anno 2002 mal als Support von Nightwish auf Tour gewesen und hatten nicht nur bei Kollege Mario einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Ein Dreivierteljahr gemeinsames Musizieren hat allerdings auch im vorliegenden Fall offenbar schon gewirkt: Floor wirkt hundertprozentig integriert, die Duettpassagen mit Marco kommen auf den Punkt, und man hatte offensichtlich auch eine Menge Spaß beim gemeinsamen Erarbeiten, wie der "Whoa"-Einwurf in "Wish I Had An Angel" beweist. Freilich muß sich der Hörer nun wieder an einen völlig anderen Gesangsstil gewöhnen: Nach einer (Mezzo-)Sopranistin und einer Melodic-Rock-Sängerin haben Nightwish nun eine Metal-Shouterin am Mikrofon stehen, die die Vocals mit viel mehr Energie, aber trotzdem melodisch klare Linien fahrend intoniert. In "Dark Chest Of Wonders" versucht sie anfangs kurz ins operatische Fach überzuwechseln, gibt das aber schnell auf und konzentriert sich auf das, was ihr am besten liegt (in "Ghost Love Score" beherrscht sie dann allerdings auch die Sopranlagen prima!). Einen riesigen Stimmumfang und wie gesagt enorme Stimmkraft bringt sie auch noch mit (man höre mal den Duettschrei im Finale von "Romanticide"!), und nur hier und da muß sie aufpassen, gegen die in ihrer tieferen Tonlage spielenden Instrumente durchsetzungsfähig zu bleiben. Manche Songs klingen mit ihrer Stimme gewöhnungsbedürftiger als andere (das vom Publikum beeindruckend mitgesungene "Amaranth" liegt ihr zumindest strophenseitig offenbar nicht so richtig), aber generell weiß die Leistung zu überzeugen, und man dürfte nur dann unzufrieden sein, wenn man entweder eine Tarja- oder eine Anette-Kopie als neue Sängerin erwartet hat, denn das ist Floor beides nicht und versucht das auch gar nicht erst. Was Tuomas Holopainen für diese Stimme in Zukunft für Musik schreiben wird, bleibt gespannt abzuwarten, aber sie könnte seiner Ankündigung, wieder etwas basischeres Material zu schreiben, durchaus entgegenkommen. Nur ein Problem müssen Nightwish noch lösen: Floor ist nicht nur stimmlich eine Riesin, sondern auch körperlich - die neuen Bandfotos im enorm bilderreichen Booklet wirken diesbezüglich eher unsicher bzw. unglücklich, der Schnappschuß auf dem Cover umgeht das Problem geschickt. Apropos Cover: Das Wacken-Publikum in dessen Hintergrund dürfte noch echt sein, aber die Gebirgslandschaft am Horizont paßt nicht wirklich zu Schleswig-Holstein ... Und wenn wir gerade beim Thema Fotos sind: Das Publikumsfoto auf der ersten Digipack-Wandlungsseite gibt den Zeitgeist des Jahres 2013 perfekt wieder, wenn man sich vergegenwärtigt, wie viele der gereckten Hände da Smartphones tragen ...
Zusammenfassend ist hier ein sehr interessantes Tondokument entstanden, das definitiv Laune macht und den nicht Dabeigewesenen in eine gewisse Vorfreude versetzt, diese Musikerkombination bei nächster Gelegenheit auch einmal live zu erleben - und das ist ja eigentlich der Hauptzweck eines Livealbums. Die DVD enthält nach dem Wacken-Gig noch zwei Songs von einem Konzert aus Buenos Aires sowie eine zweistündige Tourdokumentation.
Kontakt: www.nightwish.com, www.nuclearblast.de

Tracklist:
CD 1:
Dark Chest Of Wonders
Wish I Had An Angel
She Is My Sin
Ghost River
Ever Dream
Storytime
I Want My Tears Back
Nemo
Last Of The Wilds

CD 2:
Bless The Child
Romanticide
Amaranth
Ghost Love Score
Song Of Myself
Last Ride Of The Day
Outro: Imaginaerum
 




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