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von ta

ENSLAVED: Ritiir   (Nuclear Blast)

Die Krise der Musikindustrie hat ja diverse Folgen gezeitigt. Jüngst trennte sich das Branchenmagazin Rock Hard von drei langjährigen festen Mitarbeitern. Für ein kleines ehrenamtliches Online-Magazin wie CrossOver stellt sich diese Frage natürlich nicht, aber auch hier bekommt man Veränderungen mit - denn die ersten Einsparungen betreffen häufig das Bindeglied zwischen Musiker und Kritiker, die Promo-Abteilung, bspw. was das Pressen vom Promo-CDs betrifft. Auch Rockbands mussten neue Wege zur Finanzierung ihrer Alben suchen, weil die Zeiten von Produktionen im 100.000er-Bereich (von Megasellern abgesehen) vorbei sind. Selbst eine weithin bekannte Band wie Marillion finanziert ihre Alben heutzutage über Crowdfunding. Die eingebrochenen Plattenverkäufe wurden ja ohnehin vor Jahren bereits auf Konzertkarten umgelegt.
Manche dieser Folgen stimmen nachdenklich, aber das alles ist kein Grund für vorschnellen Pessimismus. Eine unvermeidbare Folge von derlei Krisen, die mir jedoch Kopfzerbrechen bereitet, ist die Monopolisierung, in diesem Fall die der Musikindustrie: der Ticketverkäufer, der Konzertveranstalter, der Plattenfirmen. Viele gute Bands wandern zu den Branchenriesen unter den Plattenfirmen ab, weil die Indie-Labels nicht mehr so gute Deals versprechen können. So sind diverse Speerspitzen aus dem Todesblei-Sektor in den letzten Jahren von sympathischen und in ihrer Sparte durchaus großen Indie-Krachlabels wie Earache, Relapse und Regain Records bei Nuclear Blast gelandet: Nile, Behemoth, Belphegor, Suffocation, Decapitated. Und ich weiß nicht, welcher Faktor hier welchen bedingt hat, und möchte auch nicht unnötig verschwörungstheoretisch argumentieren, aber im Rahmen des Labelwechsels haben sämtliche der genannten Bands m.E. auch musikalisch ein wenig Widerspenstigkeit und Rauheit eingebüßt.
Mit "Ritiir" geben nun auch Enslaved - vorher bei Indie Recordings - ihren Blast-Einstand und das erste, was ich spürte, als ich "Ritiir" in den CD-Schacht warf, war also Angst. Angst um eine visionäre Band, die sich nicht an irgendwelchen Standards orientiert, sondern sie setzt. Und "Thoughts Like Hammers", der Opener dieses Albums, bestätigt diese Angst ein klein wenig: Mit metallischem Grundriff, dem Wechsel aus Grutles Krächzen und dem Gesang von Larsen und Krautrock-Passagen hier und da zeichnet der Track genau die Linie weiter, die der formidable Vorgänger "Axioma Ethica Odini" vorgezeichnet hat. Also lehne ich mich etwas enttäuscht zurück und pegle mich auf "Axioma Ethica Odini", Teil 2, ein.
Und was soll ich sagen? Das folgende "Death In The Eyes Of Dawn" macht meine Theorie zunichte, wandelt zwischen verträumtem Post Rock, Death-Metal-Growls, sonderbar flirrenden Gitarrensoli und einer schwarzmetallischen Interpretation von 70s-Prog, steckt voller Leben und Ideen. Nicht direkt eine neue Vision, aber eine unglaublich breite Materialaufstellung, die von jedem der letzten vier Alben etwas mitbringt, aber am Ende total organisch klingt.
"Veilburner" ist etwas weniger detailreich, enthält aber prinzipiell ähnliche Zutaten und wird im Lauf seiner Dauer interessanterweise gleichzeitig schneller und verträumter, was natürlich am diesmal sehr weichen Larsen-Gesang liegt. "Roots Of The Mountain" überrascht mit bösen Uptempo-Beats und schrillen Synthesizern. Und da sind sie wieder, die Traum-Sequenzen mit Larsen, inklusive androgyner Schluchzer. Auch das ist eine Entwicklungslinie, die sich aus "Axioma ..." fortsetzt: Den Clean-Gesang bauen Enslaved immer selbstbewusster ein.
Der Titeltrack "Ritiir" gehört sonderbarerweise zu den schwächeren Tracks, ist in seinen Tonartwechseln und verschrobenen Kraut-Riffs sehr uneingängig und kommt nicht richtig in die Gänge. Und jetzt, mit Albumhalbzeit, ist es Zeit für ein erstes Resümee: Enslaved haben mit "Axioma ..." ihre Linie gefunden, soll heißen: ihre Balance, die Balance aus Prog, Black und Indie. Und mit "Ritiir" geht es ihnen nicht darum, etwas Neues, darüber hinaus Weisendes zu entwickeln. Doch Enslaved wollen auch nicht stagnieren. Deshalb wagen sie ganz viele Blicke nach links und rechts und verändern mit jedem Song etwas den Fokus, nähern sich mal dem einen, mal dem anderen Pol stärker an.
In "Materal" ist das der Black Metal. Das ist zumindest in seiner ersten Hälfte der schwarzmetallischste Track, den Enslaved seit Ewigkeiten aufgenommen haben: mit richtigen norwegischen Leads, breiten Moll-Riffs und fast durchgängig gekreischt. Das ist zugegebenermaßen schon ein recht großer Schritt zur Seite, den ich so nicht erwartet hätte.
Und er ist nichts gegen "Storm Of Memories". Dieser Track weist bis zur göttlichen "Monumension"-Scheibe zurück, ergeht sich in minutenlangem, zutiefst psychedelischem und klangvollen Gedudel, das etwas an alte King Crimson erinnert und nimmt erst nach und nach Song-ähnliche Strukturen an, wobei stilistisch extremer Wildwuchs angesagt ist und neben Blastbeats und schwelgerischen Space-Leads auch die Death-Growls wieder auftauchen. Sehr zerfahrener und mutiger Track. Die konstatierten Blicke nach links oder rechts sind keine schnellen Huscher, sondern ausführliche Betrachtungen.
Beim abschließenden "Forsaken" dann nochmal: Death-Growls. OK, das ist jetzt so häufig gewesen, dass es kein Zufall mehr sein kann. Prinzipiell ein steinharter Abschluss mit enorm viel dunkler Atmosphäre, tollen Dark-Ambient-Passagen, einem Hauch bösem Doom und nullkomma gar keinem verträumten Klargesang, sondern in einem Minimal-Arrangement mit Sprechstimme ausklingend. Äußerst unversöhnlich. Ich bin baff.
Das Ergebnis ist, dass es kein Ergebnis gibt. "Ritiir" lässt sich nicht auf einen Punkt bringen. Es führt fort, was "Axioma ..." ausgemacht hat, wird aber mit fortlaufender Spielzeit auch immer wilder und experimentierfreudiger. Es fordert zur Theoriebildung auf, weil es quasi zyklisch angeordnet ist: Über zwei, drei Songs verteilt findet man ein Merkmal, das man als hervorstechend wahrnimmt, aber kaum will man eine neue Entwicklungslinie konstatieren, wird genau dieses Merkmal plötzlich für den Rest des Albums zurückgenommen. Enslaved spielen mit Hörererwartungen und führen einen an der Nase herum. Sie nehmen manche Spitzen - wie den Black Metal, den Death Metal und das Psychedelische - so extrem mit wie lange nicht, um sich im nächsten Moment handzahm, melancholisch und selbstverloren zu geben. Und am Ende drehen sie den Spieß nochmal komplett um und lassen ausgerechnet das Element ihres Sounds unter den Tisch fallen, das man nun wirklich für unabdingbar für neue Enslaved gehalten hat und welches gerade eben noch alles dominierte: Larsens sanfte Stimme.
Dieses Album ist angriffslustig und widerspenstig. Und wenn dieses Review Verwirrung ausdrückt, dann weil "Ritiir" Verwirrung provoziert. Damit ist "Ritiir" viel, aber zumindest dieses eine nicht: das Album, was ich nach dem Wechsel zu Nuclear Blast erwartet habe. Dafür mein allergrößter Respekt.
Kontakt: www.myspace.com/enslaved, www.nuclearblast.de

Tracklist:
1. Thoughts Like Hammers
2. Death In The Eyes Of Dawn
3. Veilburner
4. Roots Of The Mountain
5. Ritiir
6. Materal
7. Storm Of Memories
8. Forsaken



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