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Xandria, Lacrimas Profundere, Scavanger   18.10.2013   Leipzig, Hellraiser
von rls

Computertechnische Probleme im Büro des Hauptarbeitgebers des Rezensenten und deren zeitaufwendige Behebung führen dazu, daß der Rezensent erst 21.15 Uhr im Hellraiser eintrifft und dort feststellen muß, daß Scavanger offenbar pünktlich 20.30 Uhr angefangen und ihren Auftritt auch bereits beendet haben. Pech für die Band, über die somit keine Liveberichterstattung erfolgen kann, Pech aber auch für den Rezensenten, denn die jüngste Scavanger-Platte "Between The Devil And The Sea" war durchaus hörenswert, so daß ihm da durchaus etwas entgangen sein kann (wobei er als Kompensation im Autoradio auf der Anfahrt den Schlußteil einer Messe von Ferdinando Paër und den Beginn von Johann Gottlieb Naumanns großer Vertonung des Psalms 103, zwei absolute Konzertraritäten, geboten bekommt).
Das erste und bisher auch letzte Liveerlebnis von Lacrimas Profundere liegt für den Rezensenten fast genau ein Jahrzehnt zurück - im Oktober 2003 spielten die Bajuwaren als Support von Amorphis in Glauchau. Paradoxerweise läßt sich ein Teil des Fazits von damals auch auf das neue Liveerlebnis übertragen: Vom Songmaterial her agiert die Band viel zu unauffällig, um bei Nicht-Fans Aufmerksamkeit zu erregen. Keine Ahnung, ob das jüngere Studiomaterial aufregender ausgefallen ist (die Tour bewirbt das aktuelle Album "Antiadore", und seit "Ave End" sind auch noch etliche weitere Alben erschienen, die der Rezensent allesamt nicht besitzt), aber zumindest in den ersten drei Vierteln des Sets limitiert sich das Quintett in den Songs selbst: Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Zwischenspiel-Refrain lautet das eisern durchgehaltene Schema, und das zumeist nur wenige Takte umfassende Zwischenspiel als Solo zu bezeichnen traut man sich gar nicht, weil man dadurch beim Hörer Erwartungen wecken würde, die zumindest in der Livesituation ganz und gar nicht erfüllt werden. Im Gegensatz zu 2003 ist die Keyboarder-Planstelle nicht besetzt, und der Bassist holt die Keyboardklänge aus einem elektronischen Gerät hinter sich, was natürlich den Spontaneitätsfaktor zwangsweise in Richtung Null senkt. Unglücklicherweise sind diese Keyboards im Gesamtsound auch noch sehr weit hinten angesiedelt, was die Entscheidung, ob sie den oftmals sehr repetitiv gestrickten Riffs einen Gegenpol entgegensetzen, unmöglich treffbar macht. Immerhin wird die Klangwand der ersten Songs nach einer Weile wenigstens so transparent, daß man außer Gesang, Drums und einheitlichen Klangflächen auch noch Gitarren, einen Baß und hintergründig eben auch ein paar Keyboardgeräusche hört, wobei die zurückhaltend gewählte Lautstärke lobend erwähnt sei. Ebenfalls zu punkten weiß der Sänger mit seiner relativ tiefen und ausdrucksstarken Stimme, wohingegen er eine Weile braucht, um einen Draht zum Publikum aufzubauen, in dem sich übrigens ohrenhörlich etliche beinharte Anhänger der Band befinden, die meisten davon weiblich. Einen stringenten Auftritt zu liefern haben Lacrimas Profundere allerdings in zwei Dekaden Übungszeit noch nicht gelernt - zwischen den Songs entstehen immer wieder Lücken, die niemand überbrückt, und den Übergang aus dem Intro in den Hauptset so holprig zu gestalten muß man auch erstmal schaffen. Kurioserweise nutzen sie auch nur die in Bühnenblickrichtung rechten zwei Drittel der Fläche aus, wobei Gitarrist Oli allerdings durch eine Bänderdehnung gehandicapt ist und deshalb gemessenen Schrittes über die Bühne schleicht. Aus Dankbarkeit, daß er trotzdem auftritt, will ihm sein Sänger übrigens den Song "Mass Killing" widmen, und alle anderen Bandmitglieder sind damit einverstanden, nur Oli selber nicht, und so einigt man sich schließlich auf "Disappear". Seltsamer Witz, wenn es denn einer war. Im letzten Setviertel legen Lacrimas Profundere übrigens einen Schalter um, spielen ihre variableren Songs - und schon macht neben dem Tanzbeinschwingen, was man auch zu den simplen Gothic-Rock-Stücken prima tun konnte, auch das Zuhören mehr Spaß. Den Publikumsreaktionen nach zu urteilen ist die fast poppige Stromlinienförmigkeit der ersten drei Viertel des Sets allerdings nicht als Problem angesehen worden. Zwei Zugaben beenden ein irgendwie seltsames Konzert, von dem der sonnenbebrillte und fleißig posende Bassist mit seinem Down-Shirt am längsten im Gedächtnis bleibt.
Als Anhänger von Phil Anselmos Schaffen outet sich auch der Instrumentenkollege von Xandria, allerdings mit einer anderen Facette: Er trägt ein Pantera-Leibchen mit dem "Cowboys From Hell"-Motiv. Im Set der Bielefelder hinterläßt das freilich keine akustisch vernehmbaren Spuren, sieht man vielleicht von "Soulcrusher" ab, einem in thrashige oder gar melodeathige Regionen vorstoßenden Song, der dramaturgisch geschickt hinter der Ballade "The Dream Is Still Alive" plaziert worden ist, allerdings wie diverse seiner Setkollegen auch seine Inspirationsquelle recht deutlich offenbart: Für die Grundidee (nicht jedoch ihre weitere Ausgestaltung!) hat Nightwishs "Master Passion Greed" Pate gestanden. Und man ertappt sich während des ganzen Gigs bei ähnlichen Spurensuchen und wird auch durchaus fündig, etwa in "Blood On My Hands", das kurioserweise Manowar und Gary Moore einflußtechnisch miteinander kreuzt, oder "Valentine", das ein Nightwish-Outtake von "Century Child" oder "Once" sein könnte und strukturell nicht nur einmal an "End Of All Hope" erinnert. Die Nightwish-Vergleiche, so vermutet man zunächst und noch bis einige Tage nach dem Gig, werden Xandria allerdings so schnell nicht wieder loswerden - sie haben nämlich eine neue Sängerin an Bord, und die sieht nicht nur unverschämt gut aus, sondern bewegt sich in ähnlichen stimmlichen Regionen wie Frau Turunen-Cabuli in ihrer Spätphase bei Nightwish. Heißt praktisch: Manuela Kraller führt einen relativ kraftvollen Mezzosopran mit gewisser Neigung zum Sopranfach ins Feld und ähnelt auch vom Timbre her Tarja ziemlich stark, soweit man das anhand des einmaligen Liveerlebnisses so definitiv sagen kann. Das aktuelle Album "Neverworld's End", das Manuela bereits eingesungen hat, besitzt der Rezensent bisher nicht und kann daher nichts Genaues zur Stimme im Studiokontext sagen. Besagtes Album stellt übrigens den Set fast im Alleingang - von seinen zwölf Songs fehlen lediglich "Call Of The Wind" und "A Thousand Letters", und statt ihrer finden ganze drei ältere Songs aus der Ära mit Lisa Middelhauve am Mikrofon den Weg ins Konzert: das folkangehauchte "The End Of Every Story" und die beiden Mini-Hits "Now & Forever" und (natürlich) "Ravenheart". Altfans hätte eine solche Aufteilung natürlich sehr säuerlich aufstoßen können, aber erstens sind von denen wohl nur wenige anwesend, die nicht auch das neue Material schätzen, und zweitens ist dieses neue Material durchaus stark genug, um begeisterungsfähig zu sein, wenngleich man hier und da durchaus immer noch das Gefühl hat, die Band schöpfe ihre Möglichkeiten bei weitem noch nicht aus. Zudem kopieren Xandria das Problem Lacrimas Profunderes beim Übergang vom Intro in den Hauptset, wenngleich in abgeschwächter Form, und sie haben geraume Zeit mit Soundproblemen zu kämpfen, auch weil die Regler deutlich weiter oben stehen als bei Lacrimas Profundere und Drummer Gerit zudem auch gelegentlich deutlich höhere Schlagzahlen abrufen muß. Vor allem mit dem Lauterdrehen der gerade solierenden Gitarre hat's der Soundmensch bisweilen nicht ganz so. Dafür entschädigt aber die zumindest sicht- und spürbare Spielfreude, und mit der neuen Sängerin hat man zudem einen Sympathikus an Bord, der man die gelegentlich überschnappende Stimme in den Danksagungen (die hatte Lisa übrigens auch) nicht übelzunehmen geneigt ist. Zusatzpunkte gibt's für die persönliche Begrüßung eines aus Israel (!) angereisten Fans in bajuwarisch durchwirktem Englisch und für das engagierte Stageacting, das bei den langen dunklen Haaren beim Headbangen natürlich einen reizenden optischen Aspekt ergibt. Das erwähnte "Ravenheart" schließt den Hauptset ab, aber zum stärksten Song gerät diesmal das große Epos "Nomad's Crown", das den Zugabenblock einleitet, wonach das speedige "Lost Elysion" den leider soundtechnisch nochmal völlig in die Binsen gehenden Rausschmeißer eines in der Gesamtbetrachtung erneut starken Gigs markiert. Vor 13 Jahren haben Nightwish übrigens mal in der gleichen Location gespielt ...
P.S.: Daß es der vorletzte Gig mit Sängerin Manuela ist, wird auf der Bühne zu keiner Zeit thematisiert - sie verläßt die Band nur wenige Tage später im Guten, um sich anderen Projekten zu widmen, und zugleich wird mit der Niederländerin Dianne van Giersbergen (weder verwandt noch verschwägert mit Ex-The-Gathering-Frontelfe Anneke van Giersbergen) auch schon ihre Nachfolgerin bekanntgegeben. Mal hören, wie sich ihre Stimme zu Nightwish verhält ...

Setlist:
A Prophecy Of Worlds To Fall
Valentine
The End Of Every Story
Blood On My Hands
Forevermore
Euphoria
Cursed
The Dream Is Still Alive
Soulcrusher
Now & Forever
Ravenheart
--
Nomad's Crown
Lost Elysion



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