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Imaginaerum   18.03.2013   Jena, CineStar
von rls

Letztlich ging's dann doch schneller als im CD-Review zu "Imaginaerum - The Score" vermutet: Im März 2013, also vier Monate nach der Premiere in Helsinki, steht der Nightwish-Film an genau einem Tag auf dem Programm zahlreicher Kinos der Bundesrepublik, so unter anderem auch in Jena, wo eine allerdings recht überschaubare Zuschauerzahl sich dafür interessiert, was sich Tuomas Holopainen und Stobe Harju da nun gemeinschaftlich ausgedacht haben.
Eins vorweg: Es ist kein Musikfilm im engeren Sinne. Klar, die Musik spielt schon eine tragende Rolle in der Handlung, aber wer eine Art Banddokumentation (meinetwegen auch "nur" als Mockumentary) erwartet hat, der sieht sich getäuscht. "Imaginaerum" kommt tatsächlich als Spielfilm daher, allerdings natürlich mit doppeltem direktem Bezug zu Nightwish. Erstens kommt die Band an einer markanten Stelle im Film vor, als sie sich in einer Art Horror-Zirkus-Nummer selbst spielt (passenderweise erklingt dort "Scaretale", das interessanterweise in dieser Form gar nicht auf der Soundtrack-CD steht). Zweitens aber, und das ist die wichtigere Komponente, ist die Hauptfigur Thomas Whitman (!!) in überdeutlicher Weise an Tuomas Holopainen angelehnt. Das bedeutet natürlich nicht, daß es sich um einen autobiographischen Streifen handelt, aber "Song Of Myself" hat als Zusammenfassung des Nightwish-Schaffens der letzten anderthalb Dekaden schon die betreffende Richtung gewiesen, die allerdings schon mit "The Poet And The Pendulum" auf "Dark Passion Play" ein deutliches Zeugnis abgegeben hatte. Holopainens Verbindung zur Lyrik von Walt Whitman und der Forderung nach Wahrhaftigkeit der Dichtkunst, die Ralph Waldo Emerson postuliert hatte und die nicht nur von Whitman aufgegriffen worden war, erfuhr auf diesem Album die erste direkte Bestätigung in Form eines Whitman-Zitats im Booklet, und der Nightwish-Chefdenker hat seither konsequent an der Vervollkommnung dieses künstlerischen Konzepts gearbeitet. Natürlich gönnt er sich nach wie vor künstlerische Freiheiten, die mit seinem eigenen Leben wenig oder nichts zu tun haben, aber schon wenn man das Material des Films nach Parallelen zu bestimmten Figuren im Nightwish-Kontext durchsucht, kann man reiche Ernte halten. Daß die Ex-Sängerin Anne gleich wahlweise wie eine gealterte Version von Tarja Turunen oder Anette Olzon aussieht, paßt in diesem Zusammenhang ebenso ins Konzept wie der Schneemann, der auf "Oceanborn" freilich noch in einer anderen Rolle auftauchte und nicht zwingend als entdeckungsfreudige, aber düstere Komponente des eigenen Selbst zu interpretieren war. Aber solche Schwenkungen machen für den Nightwish-Kenner natürlich das Salz in der Suppe aus, und über manche Komponente kann man lange und intensiv philosophieren, auch ohne tiefer ins bisherige Holopainen-Schaffen eingestiegen zu sein. Der Liebhaber der älteren Nightwish-Werke wird lediglich überrascht sein, daß die maritime Komponente und die Ozeanseele, zwei markante Eckpunkte der damaligen Zeit, im Film keine Rolle spielen - aber er ist ja auch nicht als allumfassende Studie angelegt. Dagegen zieht sich das Zirkus-Element, das ja bereits in der Bühnenoptik auf der "Imaginaerum"-Tour sowie musikalisch in "Scaretale" massiv vertreten war, quer durchs Bandschaffen - man erinnere sich an "FantasMic"! Und da Nightwishs Musik heutzutage ein wahrer Stil-Eklektizismus ist, der aber trotzdem irgendwie zusammenpaßt, so darf die Feststellung, daß auch der Film als eklektizistisch zu bezeichnen ist, nicht weiter überraschen.
Über die Handlung soll an dieser Stelle nichts weiter verraten werden. Jedenfalls erschließen sich mit der Zeit viele der Handlungsbögen, und nur das ein wenig pflichtschuldig anmutende Happy-End dürfte für Diskussionen sorgen, wobei man aber durchaus annehmen kann, daß Holopainen das durchaus ernst gemeint hat (die erneute bandinterne Spannung, die im Herbst 2012 zur Trennung von Anette Olzon führte, dürfte er während der Arbeit an dem Film im Jahr zuvor noch nicht so wahrgenommen haben). Zugleich wird der Schlußstrich unter das bisherige Schaffen noch deutlicher gezogen als auf der "Imaginaerum"-CD, und man darf daher gespannt sein, was die nächste Nightwish-CD für den Hörer bereithalten wird. Der Soundtrack zeigt sich übrigens als deutlich ausführlicher, als er letztlich auf der Soundtrack-CD gelandet ist, wobei nicht jede Kürzung dem rein audiophilen Zugang genützt haben wird. Wahlweise schmunzeln oder unwillig den Kopf schütteln wird man im Film selbst, wenn man die bisweilen arg künstlich wirkenden Welten und die durchaus harmonischer lösbare optische Integration der Figuren (beispielsweise in der Szene, als der junge Thomas zum ersten Mal auf die alternde Anne trifft) außen vor läßt, nur über ein Element: Es tobt Schneesturm bei zweistelligen Minusgraden, sogar der Strom fällt aus - und vor dem großen Finale fahren Anne und Gem trotzdem über eine perfekt geräumte Straße zum Krankenhaus ...
Letztlich beantwortet "Imaginaerum" einige Fragen, läßt aber andere offen, viele andere sogar. Wer Holopainens Gedankenwelt zumindest ansatzweise nachvollziehen kann (vollständig wird das nie jemandem gelingen), dürfte hier und da durchaus eine gewisse Faszination nicht verleugnen können, während der "Normalhörer" Nightwishs möglicherweise verwirrter aus dem Film kommt als er hineingegangen ist. Aber diese Deutungsvielfalt ist wiederum als normal anzusehen, und spannend ist der vielleicht 90minütige Streifen, der übrigens Ende Mai 2013 auch auf DVD erscheinen soll, allemal, sofern man nicht generell zur amusikalischen und aphilosophischen Fraktion gehört. Aber solche Menschen dürften Nightwish und damit auch diesen Film wahrscheinlich gar nicht erst kennen ...



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