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HIM, Paradise Lost   20.02.2008   Leipzig, Haus Auensee
von rls

Eine in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerte Tourkonstellation. Zum einen erinnert die historische Zusammensetzung an die 2007er Tour von Trivium und Annihilator, wo ebenfalls die erfolgreichen Jungspunde die im Fokus der breiten Masse weniger präsenten Stiloriginatoren als Support mitgenommen hatten, was im vorliegenden Fall dazu führte, daß der Großteil der Besucher noch im Kindergartenalter gewesen sein dürfte, als Paradise Lost mit ihrem zweiten Album "Gothic" eine Stilrichtung miterfanden, die von der dankbaren Menschheit späterhin Gothic Metal genannt werden sollte. Der kometenhafte Aufstieg von HIM fiel in eine Periode, als Paradise Lost ihre Altfans aus dem Metallager zum Großteil erfolgreich verprellt, aber auch nur wenige neue Gothicfans hinzugewonnen hatten, während HIM von der traditionell starken finnischen Rockbasis aus und gestützt auf Vorarbeiten von Bands wie Sentenced oder (allgemeiner bezogen) Stratovarius das schafften, was den Briten stets verwehrt blieb: Sie wurden massenkompatibel - mit allen Vor- und Nachteilen, die ein solcher Status so mit sich bringt. Paradoxe Parallelen tun sich allerdings auf, wenn man die jeweils aktuellen Longplayer der Band betrachtet, die beide phasenweise stärker nach anderen Bands klingen als nach den Schöpfern selbst, was allerdings der Materialqualität nicht geschadet hat: Das die alte metallische Härte zu guten Teilen wiedergewinnende starke "In Requiem" von Paradise Lost geht streckenweise als deathmetallischste Amorphis-Platte seit "Tales From The Thousand Lakes" durch, während HIMs "Venus Doom" titelgemäß einige Doomelemente einbaut, die allerdings keineswegs aus dem Black Sabbath-Fundus stammen, wie Kollege Peter Matzke in seinem Livereview der Leipziger Volkszeitung behauptet (dieses Attribut trifft auf einige der Riffs zwar zweifellos zu, aber diese Argumentation geht am eigentlichen Ziel vorbei), sondern aus dem von Type O Negative.
Sei's drum - der Konzertabend war ausverkauft, und das führte zu Problemen: Die Parkplatzsuchenden richteten nördlich des Haus Auensee ein mittelschweres Verkehrschaos an, so daß der Rezensent das vermutlich einzig Richtige tat, sein Auto in anderthalb Kilometern Entfernung in eine Seitenstraße stellte und am Stau vorbei zum Veranstaltungsort lief. Das hatte allerdings den Nachteil, daß er den Anfang von Paradise Lost verpaßte, die setlistbezogene Argumentation also auf leicht tönernen Füßen steht. Zumindest im gehörten Teil des Sets brachten es die Briten fertig, ihr Frühwerk komplett außen vor zu lassen, und die Halle schien dieser Linie durchaus folgen zu wollen, indem beispielsweise "One Second" für einen deutlichen Stimmungsabschwung sorgte (weil's halt offenbar zu wenig Leute kannten) und einzig "The Last Time" von den Songs "früheren" Datums für lauteren Applaus sorgte, was allerdings auch an seiner Stromlinienförmigkeit und damit einhergehenden kinderleichten Nachvollziehbarkeit gelegen haben könnte. Hingegen schien das neue Album durchaus bekannt zu sein, wenn man die Reaktionen auf den Titeltrack als Maßstab nimmt - generell wurde der Auftritt der Band mindestens anständig beklatscht. Headbanger befanden sich übrigens genau drei in der Halle, von denen zwei auf der Bühne standen (die Gitarristen Greg und Aaron, wobei der letztgenannte bekanntlich aufgrund mangelnder Haarpracht keinen optischen Effekt erzeugen kann), der dritte war der Rezensent. Generell machte die Band einen etwas lockereren Eindruck als auf ihrer 2007er Herbsttour, wenngleich sie natürlich nach wie vor weit davon entfernt ist, zu einer mitreißenden Bühnencombo zu werden. Vor allem Fronter Nick war allerdings deutlich besser drauf als damals und kommunizierte ausgiebig und humorreich mit dem Publikum, wenngleich dieses aufgrund seines fürchterlichen Akzents wohl allenfalls die Hälfte verstanden haben dürfte (eine Frage wie "Does anybody know who we are?" ist der Band im gegebenen Kontext keineswegs als beleidigtes Altrockstargehabe, sondern als ironische Reflexion der gegebenen Konstellation anzurechnen). Auch die Spielfreude wußte durchaus zu überzeugen, der Sound tat es nur bedingt, denn von Gregs Melodielinien war zumeist nur wenig zu erahnen, was dem Material einen guten Teil seines Reizes nahm. So blieb es letztlich beim anständigen Be- und Mitklatschen, und wie man das Wort "Zugabe" ausspricht, wußte das Publikum offensichtlich nicht (was man an dieser Stelle auch noch anders hätte deuten können, aber die hier gebotene Deutung fand später bei HIM eine paradoxe Bestätigung).
HIM hatten auf ihrer neuen Scheibe nicht nur Type O Negative zitiert, sondern generell einen Schwung für ihre Verhältnisse äußerst sperrig konzipierter Tracks untergebracht, und die beiden ersten Songs ihres Sets machten die Spannweite für die nächsten anderthalb Stunden klar: "Passion Killing Floor" als Opener ist einer dieser Songs, die den HIM-typischen Gothic Rock in fast progressive Gefilde lenken, finstere New Yorker Ahnungen transportieren und trotzdem noch ein paar für diese Band klassisch zu nennende Elemente beinhalten - "Wings Of A Butterfly" an zweiter Stelle markierte das andere Extrem, nämlich einen typischen stromlinienförmigen Gothic Rocker, fastfoodkompatibel, wenngleich technisch erstklassig umgesetzt und zweifellos prinzipiell unterhaltsam. Der Rest des Sets lavierte zwischen diesen beiden Polen hin und her, wobei die Schlagseite tendenziell eher in zweitbeschriebener Richtung anzusiedeln war. Dem Publikum war's überwiegend recht, und für einen nicht geringen Teil der Anwesenden war eh nur "Viiiilllllllllleeeeee" interessant - Herr Valo hätte vermutlich auf der Bühne auch das Telefonbuch von Cottbus vorlesen können und hätte ähnlich frenetische Reaktionen geerntet. Zu Wort kommen ließ ihn das Gekreisch (das in seiner Gesamtzusammensetzung etwas tiefer wirkte als das bei Negative in Leipzig 2006, wobei diese Einschätzung auch durch andere Raumverhältnisse und die dortige geringere absolute Publikumskopfzahl verschoben sein kann) unmittelbar nach den Songs jedenfalls kaum - man verstand seine (allerdings auch ziemlich nuscheligen - who is Dylan?) Ansagen folglich nicht, was zu der skurrilen Situation führte, daß Ville durch den Lärm hindurch "Wicked Game" ansagte und plötzlich anstelle des zu erwartenden lauthalsigen Jubels Stille eintrat. Gesanglich konnte der Fronter über weite Strecken überzeugen (obwohl er beileibe nicht alle Töne traf), auch die in den erwähnten Doompassagen geforderten tiefen Passagen al gusto Pjotr Ratajczik bekam er ansprechend hin - zumindest soweit man das vernehmen konnte, denn der Soundmensch geruhte in einem generell recht klaren und auch nicht überlauten Klangbild zwei Menschen weitgehend ins klangliche Abseits zu stellen. Daß der eine der Keyboarder war, kann man sich anhand der argumentativen Hinführung denken, aber daß auch Villes Stimme so weit in den Hintergrund gemixt würde, daß der paradoxe Höreindruck entstand, man würde etwa "It's All Tears" als Instrumentalversion darbieten, das überraschte dann doch gehörig (der Rezensent testete mehrere Stellen in der Halle, aber das Klangbild unterschied sich nicht wesentlich). Zumindest auf die Textkenntnis des Publikums konnte sich Ville allerdings verlassen, überließ diesem also immer wieder mal ein paar Bridges oder Refrains, was dann im gemeinschaftlich geshouteten "This life ain't worth living" in "Join Me" gipfelte. Überraschung hier allerdings: Man hatte diesen Song keinesfalls dort erwartet, wo er in der Setlist stand, nämlich schon an Position 4, und auch "Wicked Game" und "Right Here In My Arms" waren erstaunlich früh im Set positioniert worden, so daß nach hinten heraus ein wenig die "Hitluft" auszugehen drohte. Die Anzahl der Headbanger in der Halle reduzierte sich übrigens auf zwei, von denen der eine auf der Bühne stand (der Bassist, der mit seinen sauber gesetzten Backingvocals nicht selten den Leadgesang übertönte, während der ebenfalls Backings singende Keyboarder wie schon mit seinem Hauptinstrument im akustischen Abseits landete), der andere war wiederum der Rezensent. Zumindest ein paar andere Metaller müssen sich auch noch in der Halle befunden haben, wobei sich eines dieser Individuen nicht mit Ruhm bekleckerte: Ein einzelner "Slayer!"-Zwischenruf in einer der Kreischpausen ist witzig - die permanente Wiederholung dieses Zwischenrufs in der zweiten Sethälfte, sogar während der gelegentlichen balladesken Elemente innerhalb der Songs, ist peinlich. Keiner wird schließlich gezwungen, zu HIM-Konzerten zu gehen, genauso wie keiner gezwungen wird, sich Tokio Hotel oder Tony Marshall live anzutun. Und wenn wir einmal bei launeverderbenden Faktoren sind, seien die Raucher rechts vorn, sowohl unten auf dem Hallenboden als auch oben auf der Galerie, auch noch gebrandmarkt, die entweder noch nichts davon gehört hatten, daß sich das geltende Rauchverbot auch auf Konzerthallen erstreckt, oder (was wahrscheinlicher ist, denn die Nichtraucherschilder hingen gut sichtbar an den Türen) dieses unsympathischerweise einfach ignorierten - zwar waren's insgesamt sicher nicht mehr als 10 von weit über 2000 Besuchern, aber man ahnt gar nicht, in welchem Maße es diese 10 schaffen können, die vergleichsweise saubere und angenehme Luft in der Halle zu verpesten (wenn Ville meint, auf der Bühne rauchen zu müssen, muß man das als Publikum noch lange nicht als Freibrief ansehen). Sei's drum - das Konzert selber bot gute Unterhaltung, wobei auch mal angemerkt werden muß, daß HIMs Musik ohne das exzellente Drumming von Gas Lipstick, der selbst die Doompassagen noch mit einer spannenden Dynamik auszustatten weiß, vermutlich nur halb so reizvoll wäre. Der Drummer war übrigens auch der einzige, der bei den beiden Verabschiedungen nach dem regulären Set bzw. dem zweisongigen Zugabenblock so etwas wie Fannähe versprühte, also nicht einfach mit einem knappen Winken in der Kabine verschwand, wie das seine vier Mitmusiker taten. Und apropos Zugabe: Das Publikum, zu guten Teilen offensichtlich kaum konzerterfahren, wußte nicht so richtig, wie man eine Zugabe einfordert und wie man vor allem die Zugabeforderungen über einen gewissen Zeitraum aufrechterhält - daß bei weit über 2000 Besuchern nach vielleicht einer halben Minute Applaus und "Zugabe"-Rufen plötzlich eine halbe Minute Stille (!) eintritt und sich ein solcher Rhythmus noch mehrmals, wenngleich in knapperen Zeitintervallen wiederholt, hat der Rezensent so auch noch nie erlebt; daß sowas eine Band nicht gerade zu außerplanmäßigem Dienst verlockt, ist klar. Aber irgendwie paßte auch dieses Detail ins eigenartige Gesamtbild des Konzertes, dessen Pausenmusikauswähler abschließend noch lobend erwähnt werden sollte. Man ist es ja auf Metalkonzerten gewöhnt, in den Pausen mit Musik eines stilistischen und/oder qualitativen Status beschallt zu werden, mit dem offenbar der Zweck verfolgt wird, das davor respektive danach auf der Bühne Gebotene in einem vergleichsweise umso helleren Licht erstrahlen zu lassen - hier dagegen wurde man mit alten Klassikern von The Cult verwöhnt. Schön, "Sun King" oder "Sweet Soul Sister" mal wieder gehört zu haben.



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