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Negative, Jann Wilde & Rose Avenue   04.11.2006   Leipzig, Anker
von rls

Sowas nennt man dann wohl einen kometenhaften Aufstieg. Noch vor anderthalb Jahren kannte kein Mensch in Deutschland Negative, obwohl die Truppe in Finnland schon einige Jahre lang aktiv war und dort mit ihrem Debütalbum "War Of Love" auch schon erste Erfolge einfahren konnte. Dann kam das Album "Sweet & Deceitful" auch hierzulande heraus, die Band spielte Gigs mit ihren schon etwas bekannteren Landsleuten Nightwish, ging im Spätwinter 2006 mit gleichfalls bekannten Landsleuten, nämlich HIM und The Rasmus, erneut on the road (wo sie Kollege Georg zu Gesicht bekam), irgendwann sprang dann auch noch MTV 2 an, und so war dem neuen Album "Anorectic" ein reichlicher medialer Einsatz beschieden, und das Risiko für eine eigene Headlinertour sank in einen zumutbaren Bereich, wenngleich der Rezensent im vorhinein doch etwas Bedenken hatte, ob der Anker in Leipzig (dort spielen normalerweise Acts der Größenordnung von Saxon) nicht doch noch einen Tick zu groß für Negative wäre. Seine Bedenken wurden zerstreut, als er mit etwa 10 Minuten Verspätung in der Lokalität eintraf und mit Mühe noch einen Platz mit halbwegs Sicht rechts hinter dem Mischpult erwischte, da die Masse weiter vorn wie die gewissen Fische in der Büchse gedrängt stand. Die Vorband war schon fleißig am Werkeln, man hatte also offensichtlich recht pünktlich angefangen. Jann Wilde & Rose Avenue nannte sich das Quartett, wobei dem Rezensenten verborgen blieb, wer der vier denn nun der wilde Jann war und wer zur Rosenstraßenmannschaft gehörte. Auffällig war jedenfalls die Kopfgestaltung des Vierers. Während der Bassist und der nicht singende Gitarrist zur Kategorie der Hutträger gehörten, hätte eine Mixtur aus der Haarfarbe des Drummers und der Frisur des singenden Gitarristen einem gewissen Limahl (an den sich der eine oder andere ältere Leser noch mit mehr oder weniger Schrecken erinnern mag) nicht unähnlich gesehen. Warum wir uns hier so lange bei Äußerlichkeiten aufhalten? Weil man darüber fast noch mehr sagen kann als über die Musik, denn über relativ langweiligen Normalorock kam das Kleeblatt leider nicht hinaus, und den spielte es solide, aber ohne jegliche Höhepunkte herunter. Wer die neueren Gluecifer-Platten für besser hält als die alten, mag das vielleicht anders sehen, aber auch ihm dürfte die akute Höhepunktarmut aufgefallen sein, die dafür sorgte, daß man die Truppe nach drei Negative-Songs schon wieder vergessen hatte und allenfalls den reinen Blues, den der Setcloser auffuhr, noch ein wenig im Gedächtnis behielt, eben weil er aus dem Einerlei herausgestochen hatte - nicht etwa weil er so gut gewesen wäre. Ein starker Sänger hätte vielleicht noch ein paar Kastanien aus dem Feuer holen können, aber einen solchen besaß die Truppe auch nicht, vielmehr einen, der akute Schwierigkeiten hatte, die richtigen Töne zu treffen. Das Paradoxon des Gigs nun aber lag darin, daß das Publikum die Truppe abfeierte, als hätte sie soeben den Rock'n'Roll erfunden, und selbst abgedroschenste Gesten wie das Halten der Gitarre in senkrechter Position für ein paar Sekunden mit derartig lautem Gekreisch belohnte, daß seine relative Konzertunerfahrenheit, die man schon am Helligkeitsgrad des Gekreischs erkennen konnte, ein weiteres Mal eindrucksvoll bestätigt wurde. Klarer Fall also: Negative hatten ein fast reines Teeniepublikum angezogen, dessen Altersdurchschnitt durch die Anwesenheit des Rezensenten nur deshalb nicht so stark gehoben wurde, weil sich augenscheinlich auch etliche Eltern und selbst Großeltern darunter befanden, die sich davon überzeugen wollten, was ihre Kiddies denn so Tolles an Negative finden.
Das Schöne an der Tatsache, daß Negative ein sehr junges, unerfahrenes und möglicherweise bisher eher weniger rockorientiertes Publikum anziehen, ist ja, daß sie damit für eine vernünftige musikalische Sozialisation dieser ihrer Anhänger sorgen, was den Punkt des Wertes handgemachter ehrlicher Rockmusik angeht. Handgemacht und ehrlich - diese Attribute trafen auch auf die Vorband zu, nur mit dem Unterschied, daß die dahinterstehende Qualität des Songmaterials halt nicht so überragend ausfällt. In diesem Zusammenhang sind Negative aus anderem Kaliber geschnitzt, denn hier ist wirklich mal eine äußerst fähige Truppe nach oben gelangt, und wie massenkompatibel man auch immer die generellen Songaufbauten gestaltet, wie lasziv Jonne bisweilen ins Mikro schmachtet, die beiden Gitarristen erobern sich spätestens zum Solo das Rampenlicht und zeigen, was wirklich in der Truppe steckt. Das ist das Paradoxon, der scheinbar unmögliche Spagat von Negative: Musikalisch sind sie sowas wie HIM für Erwachsene, imagetechnisch dagegen fahren sie deutlich auf der teeniekompatiblen Schiene. Daß dieser Spagat durchaus kein Ding der Unmöglichkeit darstellt, bewies der gefüllte Anker, auch wenn es das Sextett gegen Ende hin mit der Teeniekompatibilität (das Stichwort Damenunterwäsche soll an dieser Stelle genügen) doch etwas übertrieb. Aber zuvor hatte man anderthalb Stunden lang fleißig gerockt und gegothet, die Alben rauf- und runtergespielt, die halbe Bühne vollgespuckt, zur Abwechslung auch mal die Akustische ausgepackt (obwohl, auch das ist in der Gesamtbetrachtung wichtig, Negative keine "Balladenband" darstellen, die etwa nur wegen einem hausfrauenmitpfeifkompatiblen Song Erfolg haben), aber auch durchaus für eine Band dieser musikalischen Kategorie viel Tempo gemacht - das Ganze übrigens bei nicht überlautem Sound (liebe Heavy Metal-Tontechniker, laßt euch sagen: Es geht doch!), der einzig den Keyboarder praktisch ins akustische Abseits stellte. Dazu eine nicht übermäßig dimensionierte, aber hübsche Lightshow (daß die mit einzeln schaltbaren Lampen besetzten Lichttürme links und rechts von der Bühne ab und zu mal eine 88 aufleuchten ließen, sollte hoffentlich keinen subtilen politischen Hintergrund gehabt haben), viel Bewegung auf der Bühne, zwei Zugaben, minutenlanges Abfeiern, plötzlich wieder aufflammendes Gekreisch, als die Truppe rechts oben über die Galerie abmarschierte, und eine derartige Belagerung des Merchandisestandes, daß der Merchandiser nach kurzer Zeit völlig entnervt war, zumal die Aufforderung, einen Schritt zurückzutreten und sich vernünftig in Reihen anzustellen, von den Teenies erst nach längerer Zeit befolgt wurde - fertig war ein Konzert der dritten Art, musikalisch zweifellos gutklassig und von den Begleiterscheinungen her für den bereits erfolgreich rocksozialisierten Hörer ein Fanal, wie entspannt es doch auf den meisten Metalgigs zugeht. Wenigstens kam keiner auf die Idee, hardcorekompatible Moshpits zu inszenieren, aber dafür wäre an diesem Abend eh kein Platz dagewesen. So konnte der Rezensent, musikalisch gut unterhalten, zu einer annehmbaren Zeit (23.30 Uhr - da geht's ansonsten manchmal erst los, was für nicht ausgeprägte Nachtmenschen nicht das Nonplusultra darstellt) den Heimweg antreten und zog die eine oder andere Parallele zu Geschehnissen zehn Jahre zuvor, als nämlich Type O Negative im Haus Auensee zu Leipzig gespielt hatten - mit dem Unterschied, daß der Altersdurchschnitt des Publikums damals geschätzte zwei bis drei Jahre weiter oben lag.



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