www.Crossover-agm.de Christliche Popularmusik - Marktphänomen und klingender Zeitgeist
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von Thomas Feist

In Zeiten schwacher Konjunktur der Musikverlage - und einer allgemeinen Klagestimmung der Musikindustrie überhaupt - lohnt es sich besonders, diejenigen Phänomene genauer zu betrachten, die sich gegen den allgemeinen Trend entwickeln. Zu diesen Phänomenen gehört zweifellos die christliche Popularmusik. In ihrem Mutterland, den USA, ist der Bereich "Christian Contemporary Music" (CCM) das am schnellsten wachsende Marktsegment der Plattenindustrie. Und auch wenn hierzulande nur Insider etwas mit dem Begriff CCM oder in seiner deutschen Variante "christliche Popularmusik" etwas anfangen können: Der Trend des Zuwachses am Marktanteil der deutschen Musikindustrie gilt auch für den "deutschen Ableger". Weitere Hinweise auf die zunehmende Relevanz christlicher Popularmusik erhält man, wenn man sich vergegenwärtigt, dass noch nie so umfangreich und vielfältig über sie geschrieben wurde. Seien es wissenschaftliche Artikel in den Bereichen Theologie, Musikwissenschaft, Soziologie, Kulturwissenschaft und anderen Disziplinen oder Werke, die eher journalistisches oder populärwissenschaftliches Interesse verraten: Christliche Popularmusik ist "im Kommen". Flankiert wird diese Beobachtung durch das ebenfalls zunehmende wissenschaftliche Interesse am Aufspüren und der Analyse religiöser Versatzstücken, Symbole und Zitate, die in der Popmusik postmoderner Prägung scheinbar allgegenwärtig sind.
Christliche Popmusik in ihrer Anwendung ist zudem ein wichtiges und bestimmendes Thema der Kirchen und der Religionspädagogik. Beide Institutionen sehen in der Verbindung zeitgemäßen Sounds mit christlichen Texten oder Kontexten ein Modell gelingender Glaubensäußerung zwischen Dogma und Zeitgeist. Verkürzt gesagt ist demnach christliche Popularmusik die unserer Zeit angemessene Form, welche Allgemeingültigkeit biblischer Lehre mit den hochgradig ausdifferenzierten Lebenswirklichkeiten sozialer Akteure synthetisch zu verbinden vermag.
Was ist nun christliche Popularmusik? Ist es die spezifische Ausdrucksform einer religiös konnotierten Subkultur, eine Art "junge" Kirchenmusik, klingender Patchwork-Zeitgeist, mit religiösen Verweisen als ästhetischer Aufwertung versehene Trivialmusik oder einfach eine neue PR-Strategie der Musikindustrie?
Wenn man sich auf die Suche nach dem Ursprung der christlichen Popularmusik begibt, wird man auf zwei unabhängig voneinander stattgefundene Geneseprozesse stoßen. Der erste ist ein Prozess, der mit "Synthese und Säkularisierung" betitelt sein könnte. Er ist in seiner Struktur musikbezogen und beginnt - wie die Popularmusik überhaupt - in der Begegnung zweier Kulturen: der schwarzafrikanischen und der europäischen Kultur in amerikanischem Verständnis. In diesem Kulturmilieu treffen sich Stammesrituale wie Tänze, das ekstatische Anrufen der Geister, der Einsatz von Trancezuständen und das Spielen mit geweihten Trommeln mit christlichem Monotheismus und seiner Liturgie.
Eine wichtige Etappe in diesem Prozess war der Ring Shout - ein religiöser Tanz, der von rhythmisch passenden Gesängen begleitet wurde. Er gilt als musikalische Urform, aus der Gospel, Rock und Soul entstanden. Musikaufnahmen aus dieser Zeit dokumentieren, dass die Ring Shouts Transformatoren für den Bedeutungstransfer weltlicher wie religiöser Begriffe darstellten, ein Phänomen, welches auch heute für Spirituals attestiert werden kann.
Die Ring Shouts etablierten das Call-and-Response-Prinzip. Die Rufe des Predigers als Vorsänger waren vor allem durch Energie und Emotion bestimmt, weniger durch die Inhalte. Diese blieben einfach und wurden ständig wiederholt. Dadurch waren biblische Inhalte vor allem für die Sklaven, die oftmals Analphabeten waren, leichter zu lernen. Noch heute finden wir in den ursprünglich von den Ring Shouts abstammenden Gospels (ein Begriff, der vom Komponisten Thomas Dorsey geprägt wurde) tiefe religiöse Hingabe in sinnlicher, erotischer Verpackung.
Gospels und Spirituals sind die einzigen bis heute erhalten gebliebenen Varianten früher christlicher Popularmusik. Alle anderen Musikrichtungen, die auf den Beginn christlicher Popularmusik zurückzuführen sind, wie der Soul, R'n'B und andere, sind ihre säkularisierten Versionen. Diese zeichnen sich durch Latenz religiöser Potentiale, vor allem Potentiale zur Ganzheitserfahrung und Erfahrung von Entgrenzung, aus, was zum Gegenstand zahlreicher Publikationen zum Thema "Die Religion der Popularmusik" geworden ist. Eine aktuelle Variante früher christlicher Popularmusik ist Praise and Worship, im deutschen Sprachraum auch als Lobpreismusik bezeichnet. Dieses Genre ist in der amerikanischen wie auch der deutschen Musikindustrie die Sparte mit den stärksten Zuwachsraten - ein Anhaltspunkt für die zunehmende Aktualität einer fast zweihundertjährigen musikalisch-religiösen Syntheseform.
Die zweite Wurzel der christlichen Popularmusik ist mit dem berühmten und vielzitierten Ausspruch "Why should the devil have all the good music?" und der Jesus Music der 1960er und 1970er verbunden. Ein wesentliches Merkmal christlicher Popularmusik in diesem Verständnis war von Anfang an, dass Musik als Transportmittel in den Dienst christlicher Verkündigung genommen wurde. Christliche Popularmusik ist demnach weniger durch Musik denn durch textliche Inhalte von anderer Musik abgegrenzt.
Christliche Popularmusik grenzt sich innerhalb der Popmusik vor allem durch eigene kulturelle Felder und eigene Distributionskanäle ab, ist sowohl interpretenbezogen als auch marktgebunden. Im Hinblick auf die Interpreten, die der christlichen Popularmusik zugerechnet werden, sind es biographische oder kontextuelle Details und textlich-inhaltliche Komponenten, die den Einschluss oder den Ausschluss in das Segment zur Folge haben. Eine Reihe kultureller Beobachtungsinstitutionen, zu denen christliche Hitparaden, Rundfunk- und Fernsehstationen, Musikfestivals und Awards gehören, verleihen dem Feld christlicher Popularmusik über ein spezielles Referenzsystem interne wie externe Stabilität.
Die beachtenswerte empirische Quantität christlicher Popularmusik äußert sich nicht zuletzt in einer Fülle von Enzyklopädien, die vor allem den amerikanischen CCM-Sektor beleuchten. Beispielhaft sei hier die "Encyclopedia of Contemporary Christian Music" erwähnt, die über 1900 Musiker und Bands aller musikalischer Richtungen auflistet.
Christliche Popularmusik ist mittlerweile in allen musikalischen Genres des Pop vertreten. Im Mittelpunkt steht nach wie vor der Gospel, die Lobpreismusik und diverse Stilistiken des Adult Orientated Rock (AOR). Daneben gibt es jedoch auch solche ungewöhnlichen Konstellationen wie Christian Black Metal (u.a. Encryptor, Frosthardr, Soul Embraced), christlichen Techno (u.a. Bluetronic, out of tune) oder Christian Hardcore (u.a. Nailed, One Bad Apple). Sie ist ein hochgradig ausdifferenziertes und gleichzeitig in ihrer Komplexität reduziertes Phänomen. Dies deutet darauf hin, dass es sich um ein systemisches Gebilde handelt, welches durch spezifische Kommunikationsmuster mit einer Vielzahl sozialer und kultureller Systeme verbunden ist. In der musikalischen Praxis ist christliche Popularmusik ein hochgradig anschlussfähiges Gebilde, welches emotionale und rationale Faktoren ebenso vermitteln kann wie persönliche, kulturelle, religiöse und gesellschaftliche Parameter. Die zur Untersuchung von Popularmusik bis heute angewandte Methode, lediglich Primär-, Sekundär- bis Quartärkomponenten getrennt voneinander zu betrachten (nach: Rauhe, Hermann: Popularität in der Musik, Karlsruhe: Braun 1974), erscheint christlicher Popularmusik nicht angemessen. Hier sind interdisziplinäre wissenschaftliche Ansätze gefragt, welche statische und prozessuale Operationen einer Musik, die nicht nur mehr ist als Musik, sondern mehr ist als Popmusik, ebenso in den Blick nimmt wie ästhetische, ethische, theologische und ökonomische Bestimmungsweisen.
Nicht nur der Blick auf die Zuwachsraten der Musikindustrie im Bereich christlicher Popularmusik sollte uns also neugierig machen. Auch als postmoderner Sound zwischen Beständigem und Zeitgeist verdient sie unser Interesse.

Weiterführende Links:
www.crossover-agm.de
www.akpop.de
www.jugendkulturen.de

Veröffentlicht in: MusikForum - Zeitschrift des Deutschen Musikrates



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