www.Crossover-agm.de TOURNIQUET: Microscopic View Of A Telescopic Realm
von rls

TOURNIQUET: Microscopic View Of A Telescopic Realm   (Metal Blade Records)

Thomaskirche zu Leipzig irgendwann im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts: Thomaskantor Bach sitzt an der Orgel und übt eine seiner fetten Toccaten ein. Plötzlich öffnet sich die schwere Eichentür knarrend, und einer von Bachs Vorgesetzten betritt den heiligen Raum. Kraftvolle Akkorde schweben durch den Äther und erreichen so auch das Ohr des Hinzugekommenen, lösen in dessen Großhirn aufgrund von Verständnisschwierigkeiten aber eine akute Abwehrreaktion aus. Folgerichtig stürmt er die Treppe hinauf, erreicht die Orgelempore und brüllt den Kantor an, was für teuflische Musik er im geheiligten Raum der Kirche zu spielen wage. Bach kann sich nicht mit rationalen Argumenten gegen den Vorwurf wehren, aber er wankt und schwankt nicht. Er spürt, hier fest bleiben zu müssen (ähnlich wie Luther zwei Jahrhunderte vor ihm: "Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen"), um seine Vision des Gotteslobs durch Musik weiter nach seinem eigenen Gestus in Töne gießen zu können. Folgerichtig seine Antwort: "Ich habe nur Noten in Gruppen angeordnet. Warum Sie denken, das sei schlecht, weiß ich nicht und kann das nur mit einem Achselzucken beantworten."
Aus diesem Szenario, das sich mit wechselnden Protagonisten auch heute noch des öfteren zuträgt, haben Tourniquet einen Song namens "Besprinkled In Scarlet Horror" gemacht und diesen gleich an den Anfang ihres achten kompletten Albums (wenn man die Best Of "Collected Works" von 1996 und die "Acoustic Archives" von 1998 mitzählt) gestellt. Und dieser 7:40 min kurze Song verdeutlicht in eindrucksvoller Weise, was einen in den anderen zehn Tracks noch erwartet. Die mittlerweile zum Trio geschrumpften Tourniquet haben ihre Wurzeln eindeutig im Mittachtziger-Thrash Metal, unternehmen von diesem Fundament aus aber Ausflüge in alle möglichen und unmöglichen Richtungen und schaffen es zu guter Letzt auch noch, die riesige Ladung Fremdeinflüsse so in ihre hochkomplexen Songs einzurühren, daß aus der Mischmaschine ein einheitliches Konglomerat von allerhöchster Qualität herauskommt. Good Old Bach hätte schon an besagtem Opener seine helle Freude gehabt, vor allem an den Gitarren, die durch die Gegend fließen und melodiösieren bzw. riffen, daß ihnen nichts, aber auch gar nichts Widerstand entgegensetzen kann - bis der ruhige Schlußpart erklingt, der von traumhaften Flötenparts untermalt wird und Sänger Luke Easter Gelegenheit gibt, unter Beweis zu stellen, daß er außer thrashigem Gebell, hardcorigem Geshoute und klassischen rauhen Power Metal-Vocals auch das sanfte Fach herausragend beherrscht. Das folgende, genau sechs Sekunden kürzere "Drinking From The Poisoned Well" geht mehr in die traditionelle Power Metal-Richtung und besticht in erster Linie durch Aaron Guerras Riffarbeit, die aber auch hier von kurzen Einsprengseln wie Mickey Mouse-artigen Parts oder völlig jenseits von Gut und Klaus Meine angesiedeltem Gepfeife unterbrochen wird. Der "nur" 6:14 min lange Titelsong glänzt mit Wishbone Ash-mäßigen Gitarren, die über Blastbeats gelegt werden, und einem Gastvocalpart vom allseits beliebten Mortification-Steve. Er leitet über zum ersten absoluten Höhepunkt der Scheibe, nämlich "The Tomb Of Gilgamesh", das alle Stärken Tourniquets in einem siebeneinhalbminütigen Song bündelt, noch Celloparts zu der bisherigen Supersuppe hinzufügt und in hundert Jahren als Kulturgut vom Schlage Beethovens oder eben Bachs gelten wird.
Einen solchen Song übertrifft man nicht mal eben im Vorübergehen, und daher stagniert das Qualitätslevel in den folgenden Songs, wenn auch auf einem Niveau, für das andere Bands ihre Frauen, Manager und Schwiegermütter meistbietend verkaufen würden. Die nächste Bergkuppe, die sich über das umliegende Hochland erhebt, ist erst mit Song acht, dem Instrumental "Immunity Vector", erreicht. Spätestens dieser Song müßte angesichts der überdeutlichen bachösen Ausrichtung der Gitarrenläufe jedem Verehrer des Thomaskantors, also allen voran den Herren Andi "Lightmare" Gutjahr und Ingve Johan "Yngwie" Malmsteen, einen Orgasmus nach dem anderen verschaffen, und alle anderen genießen eben nur allgemein die Spielfreude, die einmal mehr prächtigen Melodien oder die formadiblen Flöten. Die nächsten beiden Songs halten dieses Niveau wiederum nicht ganz, aber dann ist schon der abschließende Höhepunkt in Sicht, ein Achttausender mit majestätisch-erhabenem Ausdruck, schneebedeckten Flanken und dunklen Felsenrippen unter einem postkartenblauen, von ein paar weißen Wolken gestreichelten Himmel: "The Skeezix Dilemma Part II - The Improbable Testimony Of The Pipsisewah", ein zehnminütiges Melodiegespeede ohnegleichen, mit Breaks, die so genau eingepaßt sind wie die Bestandteile einer 1850er Original Glashütter Uhr aus der Werkstatt von Ferdinand Adolf Lange, das einen weiteren der zahlreichen Gründe darstellt, warum Drummer und Hauptkomponist Ted Kirkpatrick spätestens nach seinem hoffentlich noch fernen Ableben schleunigst heiliggesprochen werden sollte, wie es mein Kollege Robert Pöpperl im Rock Hard und im Legacy schon vorgeschlagen hat.
Wer so intelligente Musik schreibt, muß natürlich intelligente Texte dazuliefern. Aber hat jemand ernsthaft erwartet, daß sich die Herren Kirkpatrick und Easter da Blößen geben würden? Sicher nicht. Soziale Themen werden mit religiösem Gedankengut gekoppelt und unter das Thema eines passenden Bibelspruches gestellt. Daß der Titelsong - und damit quasi die ganze Platte - unter dem kürzlich Jahreslosung gewesenen "Was nützt es dem Menschen, wenn er die Welt gewinnt, sich selbst verliert und Schaden nimmt?" steht, ist da nur noch das letzte Tüpfelchen auf dem riesigen i, das die drei Kalifornier mit dieser meisterhaften Platte zusammengezimmert haben. Wer schon immer mal wissen wollte, wie es klingt, wenn Iron Maiden, Apocalyptica, die Fallin' Oaks, Nightwish, Slayer, Wishbone Ash, Dream Theater und Destruction gemeinsam Bach-Fugen nachspielen, der sollte diese knapp siebzigminütige CD unbedingt sein eigen nennen, und wer auf ebenso kraftvolle wie fragile, gleichermaßen eingängige wie hyperkomplexe, dito traditionsbewußte wie originelle Musik steht, der sollte sich mit Höchstgeschwindigkeit in den nächsten Plattenladen begeben und zwei Exemplare von "Microscopic View Of A Telescopic Realm" kaufen - eins für den eigenen Plattenschrank, eins für den Ortspfarrer mit dem Auftrag, diese Band möglichst bald in deutsche Konzertvenues respektive Kirchen zu holen (ich hab' zwar keine Ahnung, wie die das Material zu dritt umsetzen wollen, aber egal). Denn merke: "Wisdom calls from these halls"!
Kontakt: www.metalblade.de, www.tourniquet.net
 



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