www.Crossover-agm.de STRESS: Amazon, First Metal Attack!
von rls

STRESS: Amazon, First Metal Attack!   (Metal Soldiers Records)

In der Historie des Speed Metal gab es einige Pioniere, denen die musikalische Welt keinen größeren Erfolg gönnte und die erst von der musikalischen Nachwelt für ihre Pioniertaten gewürdigt werden. Hierzu zählt die Kanada-Fraktion, also Exciter und Anvil, deren Bekanntheitsgrad immer gewissen Beschränkungen unterworfen war (was sich im Falle von Anvil erst 2009 mit dem über sie gedrehten Film ändern sollte), und auch eine Band wie Riot beispielsweise konnte aufgrund verschiedener Umstände nie richtig von ihren frühen Taten profitieren, genießt aber heute noch einen gewissen Kultstatus. Nicht mal diesen kann man allerdings Stress zuschreiben, zumindest nicht außerhalb ihrer brasilianischen Heimat - welchen Bekanntheitsgrad sie heute in Brasilien haben, wagt der Rezensent nicht zu beurteilen. Aber zumindest das Prädikat der ersten veröffentlichten Metal-LP Brasiliens kann ihnen wohl keiner streitig machen. Das 1982 erschienene Teil war selbstbetitelt, enthielt acht Songs und kratzte in den beiden ersten Songs "Sodoma E Gomorra" und "A Chacina" tatsächlich den metallischen Geschwindigkeitsrekord des Jahres zumindest an. Dieser Proto-Speed Metal enthielt darüber hinaus noch fieses Gekreisch und spitze Schreie von Bassist/Sänger Roosevelt, führt allerdings in der Gesamtbetrachtung des Albums dann doch ein wenig in die Irre. Von den sechs anderen Songs erreicht nämlich keiner mehr diese Entfesselungsregionen, lediglich "O Viciado" und "Mate O Réu" vermögen noch ansatzweise aufzuschließen. Statt dessen revitalisieren Stress mit "O Oráculo Do Judas" auch gleich noch den Doom Metal, konzipieren das erste und das letzte Drittel von "O Lixo" in einem schwingenden Dreiertakt, können hier und da ihre musikalischen Wurzeln im Siebziger-Hardrock nicht verleugnen und zeigen sich ansonsten insbesondere von der NWoBHM beeinflußt, was anno 1982 ja noch auf nahezu jede ernstzunehmende Metalkapelle zutraf. Der Bandvorgänger Pinngo D'Água wurde bereits anno 1974 geggründet, drei Jahre später wechselte man den Namen in Stress, und wiederum fünf Jahre dauerte es bis zum Release ebenjenes selbstbetitelten Albums, das vom portugiesischen Kleinlabel Metal Soldiers Records nun in einer um gleich neun Bonustracks erweiterten und mit obenstehendem Namen versehenen Fassung vorliegt, während ein früherer Re-Release nur einen hatte, nämlich "Inferno Nuclear", der auch einer des hiesigen Nonetts ist und den einzigen Track eines 1984 eingespielten Demos bildete. Keyboarder Leonardo war da schon nicht mehr in der Band, allerdings hatte er schon auf der LP nahezu nichts mehr zu tun gehabt und trat nur an den zwei Stellen, die am deutlichsten in die Siebziger zurückverwiesen, nach vorn: mit Orgelklängen in "Stressencefalodrama" und mit einem soundlich auf Tony Careys Zeiten bei Rainbow zurückverweisenden Introthema in "2031", das im Hauptsolo dann nochmal wiederkehrt. Live hatte er vermutlich noch wichtigere Funktionen auszuüben, nämlich in den ausladenden Gitarrensoli für Klangfülle zu sorgen, da Stress damals nur über einen Gitarristen verfügten - Leonardos Ersatz wurde dann allerdings kein neuer Keyboarder, sondern ein zweiter Gitarrist. Gute songwriterische Einfälle hatte die Band auf jeden Fall in rauhen Mengen (man nehme nur mal die phantasievolle Gitarrenarbeit her), Energie transportierte sie auch in den weniger schnellen Stücken noch genügend, und zumindest in der hier vorliegenden CD-Fassung ist auch der Sound durchaus hörbar ausgefallen - man erinnere sich: Brasilien 1982! Wäre das Album damals auch in Europa und den USA in größeren Stückzahlen bekanntgeworden, es hätte möglicherweise ein mittelschweres Erdbeben in der Metalszene ausgelöst, und ein gewisser Lars Ulrich hätte vermutlich noch eine weitere Band auf seiner großen Wunschliste stehen gehabt. Aber die angenehmen Nebeneffekte der metallischen Globalisierung von heute waren eben 1982 noch kaum oder gar nicht spürbar, und so sollte es noch Jahre dauern, bis Sepultura und Viper für eine breitflächige Positionierung Brasiliens auf der im Hirn auch des nicht spezialisierten Metalanhängers gespeicherten Landkarte sorgten.
Die neun Bonustracks erlauben, die Karriere der Band nach 1982 schlaglichtartig weiter zu verfolgen. Ein halbes Jahr nach der Aufnahme des genannten "Inferno Nuclear"-Demos hatte die Band offenbar noch keinen zweiten Gitarristen, denn der Rehearsalmitschnitt von "Forcas Do Mal" muß im Solo ohne eine hörbare Rhythmusgitarre auskommen. Auch die anderen sieben Songs sind allesamt Live- oder Radio- bzw. TV-Mitschnitte in leicht schwankender Soundqualität, wobei zwei noch aus dem Jahr 1985 stammen und damit die traditionsgeprägte Frühphase der Band dokumentieren. Interessanterweise haben sowohl "Heavy Metal" als auch "Thunder" englische Songtitel, aber es ist praktisch unmöglich zu entscheiden, on Roosevelt hier außer den Titelworten noch weitere Textteile in Englisch singt oder ob er doch beim Portugiesischen geblieben ist. Auch diese zwei Songs haben übrigens ununterriffte Soli, wobei "Thunder" einige etwas holprige Übergänge enthält, aber durch die Geschwindigkeit alle Zweifel wieder hinwegfegt. Freilich war da die Zeit schon über den Protospeed Stress' hinweggezogen - Bands wie Slayer hatten den Thrash Metal aus der Taufe gehoben, und im Untergrund lärmte schon mancher Act, der den Death Metal vorbereitete. Spätere Inkarnationen der auch heute noch aktiven Truppe (aus der Gründungsbesetzung ist neben dem Bassisten/Sänger auch der Drummer noch dabei) erweiterten das Spektrum etwas, ohne aber ihren Wurzeln ganz zu entsagen. Aber "Nada A Perder", das in einem 1996er Livemitschnitt enthalten ist, klingt vor allem im Intro und in den Strophen so sehr nach frühen Guns'n'Roses, daß es ein klassisches Zeitparadoxon sein müßte, würde dieser Song aus der Frühphase der Band stammen, als es die Schußwaffenbotaniker noch gar nicht gab - der Halftimegroove weist allerdings schon in die damals moderne Zeit. Das siebeneinhalbminütige "Folha No Vento" wiederum addiert eine Großpackung Blues zur Gesamtmischung und klingt wie eine metallisierte Version von Led Zeppelin, die noch zu Zeiten des Bandvorgängers Pinngo D'Água einen starken Einfluß auf die damaligen Teenager ausgeübt hatten, während der Rehearsalmitschnitt von "Estrela Azul" ein deutliches Festhalten an den traditionsmetallischen Werten, die es ja gerade 1995 doch recht schwer hatten, offenbart, Halftimegroove von "Nada A Perder" hin oder her. Die beiden Songs aus dem 21. Jahrhundert machen die traditionelle Linie dann auch mehr als deutlich, wobei in "A Tua Mae É Moca" Roosevelt mittlerweile etwas tiefer shoutet und bisweilen etwas an Dmitri Warschawski von Tschornij Kofje erinnert, allerdings hier und da ein klein wenig neben der Spur liegt. Einen zweiten Gitarristen gibt es übrigens auch hier nicht - Stress arbeiten heutzutage als Trio mit den beiden bekannten Gesichtern und dem Schleudersitzposten an der Gitarre. Der Re-Release ist vorbildlich ausgestattet, was nicht nur an den neun Bonustracks, sondern auch am opulenten Booklet festzumachen wäre - das enthält zahlreiche alte Fotos, die Lyrics der acht Albumsongs und des 1984er Demosongs sowie eine Bandhistory bis 1984, geschrieben vom Drummer, allerdings in portugiesischer Sprache. Aber mit verstehendem Lesen bekommt man das meiste trotzdem zusammen, und aus musikalischer Hinsicht lohnt sich der Erwerb natürlich sowieso. Zu diesem Behuf frage man Rainer Krukenberg von www.metaleros.de, ob er noch ein Exemplar auf Lager hat.
Kontakt: www.myspace.com/stressbrasil, metal.soldiers.2008@gmail.com

Tracklist:
Sodoma E Gomorra
A Chacina
2031
O Oráculo De Judas
Stressencefalodrama
O Viciado
Mate O Réu
O Lixo
Inferno Nuclear
Forcas Do Mal
Heavy Metal
Thunder
Estrela Azul
Nada A Perder
Folha No Vento
A Tua Mae É Moca
Coracao De Metal



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