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GAMMA RAY: Heading For The East
von rls

GAMMA RAY: Heading For The East   (Ear Music/Edel)

Kai Hansen war mit Helloween in den Achtzigern bereits in Japan auf Tour gewesen und hatte mit dem melodischen (Speed) Metal der Kürbiscombo dort offene Türen eingerannt. Insofern läge die Idee nahe, auch seine neue Band Gamma Ray dort auf die Bühne steigen lassen, meinte ein findiger Konzertveranstalter und buchte vier Shows in Osaka, Nagoya und Tokio. In letztgenannter Stadt fanden gleich zwei statt, beide ausverkauft und beide mitgeschnitten: Eine Videoveröffentlichung war geplant, die im Verbund mit der "Heaven Can Wait"-EP das Interesse an der Band, die mit "Heading For Tomorrow" ein exzellentes Debütalbum vorgelegt hatte, weiter befeuern sollte. Nun hatten Gamma Ray vorher erstmal Line-up-Probleme zu lösen gehabt: Zum einen beruht ihr Sound definitiv auf zwei Gitarren, so daß ein zweiter Gitarrist gebraucht wurde - ergo wurde Dirk Schlächter kurzerhand auf diese Position befördert, ein Mann, der von Haus aus eigentlich Bassist und in dieser Funktion auch auf "Heading For Tomorrow" gastweise zu hören war, in den Jahren bis 1997, als er dann doch zurück an den Baß wechselte, allerdings unter Beweis stellte, daß er die Rolle neben Hansen durchaus souverän auszufüllen wußte. Für Mathias Burchardt brauchte man allerdings auch noch einen Ersatz, wobei hier nicht das gleiche Prinzip zum Einsatz kam: Tammo Vollmers hatte auf "Heading ..." einen Song als Gast eingetrommelt, aber nicht er, sondern der bei Holy Moses arbeitslos gewordene Uli Kusch wurde der neue Gamma-Ray-Schlagzeuger. Verstärkt um Gastkeyboarder Jörn Ellerbrock, machte sich diese Mannschaft also auf, um unter Beweis zu stellen, daß der positive Eindruck des Albums auch auf die Bühne gebracht werden kann.
Nimmt man den im Dezember 1990 als Video erschienenen und nunmehr auch als Doppel-Audio-CD erhältlichen Mitschnitt als Maßstab, so darf dieser Beweis definitiv als erbracht gelten. Zwar muß Ralf Scheepers an einigen Stellen arg kämpfen, um alle geforderten Höhen zu bringen (höre "The Silence" als Exempel), aber das ist auch schon das einzige Manko der reichlich 80 Minuten Musik (die Modesünden auf dem Bandfoto braucht man ja nicht unbedingt zu betrachten). Gamma Ray zeigen sich spielsicher und vor allem enorm spielfreudig, was schon im dem "Welcome"-Intro folgenden "Lust For Life" überdeutlich wird, wenn sie dem auch in der Studioversion schon elektrisierenden mehrteiligen Hauptsolo einen gleichlangen, nicht weniger elektrisierenden Solospot vorschalten, also die Instrumentalzauberei gleich mal verdoppeln. "Free Time" bekommt ein Blues-Intro vorangestellt, in den Song selbst pflanzt die Band, allen voran Ellerbrock, dann aber Boogie-Elemente ein, was der Nummer einen ganz besonderen Touch verleiht. Wie gut die Truppe schon eingespielt ist, zeigt sich, daß im Mitsingteil dieses Songs alle problemlos auch auf die abseitigsten Vorsängermomente Scheepers' eingehen und rechtzeitig abstoppen. Die Vorliebe für Medleys kommt bereits in dieser frühen Bandphase zum Tragen, wenn "Ride The Sky" den Schlußteil von "Hold Your Ground" angefügt bekommt - und dann ist ja da noch "Heading For Tomorrow". Auf späteren Touren nicht selten mit "Dream Healer" in einem Medley gekoppelt (so 1993, als der "Lust For Live"-Mitschnitt entstand), variierte die Länge des Studio-Vierzehnminüters sehr stark und erreichte auf der legendären 1995er Tour mit Morgana Lefay über 20 Minuten, während die erwähnte 1993er Fassung unter 10 Minuten blieb. Anno 1990 aber erklingt zumindest im hier festgehaltenen Mitschnitt "Heading For Tomorrow" in purer Fassung und mit stolzer Länge von knapp 24 Minuten, dabei stets so spannend bleibend, daß man nicht auf die Idee kommt, hier hätte einfach ein Element zur Spielzeitstreckung eingefügt werden müssen: Hansen ist ein Kind der Siebziger, und ab und zu kommt jenes dann eben auch mal musikalisch zum Vorschein. Selbiges trifft übrigens auch auf "Who Do You Think You Are?" zu, den neben dem Titeltrack einzigen gespielten Track der "Heaven Can Wait"-EP, der nicht nur im Titel an Deep Purple erinnert, sondern gleichfalls musikalische Ahnungen der Siebziger hervorruft, umgesetzt allerdings in bandtypischen Melodic Metal. Ansonsten wird das "Heading For Tomorrow"-Album komplett durchgespielt, sieht man vom Uriah-Heep-Cover "Look At Yourself" und der ersten Hälfte von "Hold Your Ground" ab, und da das selbst unter Hinzunahme von "Who Do You Think You Are?" und diversen Songverlängerungen noch keinen abendfüllenden Set ergäbe, ist klar, daß noch einiges Helloween-Material hinzutritt, wie der gewitzte Leser einige Zeilen weiter oben auch schon festgestellt hat. Diese Nummern kommen en bloc hinter der Ballade "The Silence", zunächst "Save Us", dann "I Want Out" und zum Schluß das bereits erwähnte "Ride The Sky", das über "Hold Your Ground" dann den Bogen zurück zum Gamma-Ray-Material schlägt. "Ride The Sky" ist aber auch noch aus einem anderen Grund bemerkenswert, denn hier singt Hansen selber, was er gleich danach als zweite Stimme von "Money" nochmal tut. Das ist strukturell doppelt wichtig, zum einen als Bindeglied zwischen den alten Helloween-Tagen und der Gamma-Ray-Zeit ab 1993, als er in "Heal Me" erstmals wieder im Studio ans Frontmikrofon trat und das dann auch live reproduzierte, wie auf "Lust For Live" nachzuhören ist, zum anderen dahingehend, daß im Review oder im Material des "Heading For Tomorrow"-Re-Releases möglicherweise etwas nicht stimmt. Dort wurde behauptet, "Space Eater" sei in der Japan-1990-Fassung enthalten, und es singe dort Kai Hansen - im hiesigen Mitschnitt aber ist in dieser Nummer definitiv Scheepers am Mikro, so daß es sich entweder um einen Irrtum handelt, oder der Mitschnitt stammt vom anderen der Tokio-Gigs (oder einem quellenmäßig bisher unbelegten Mitschnitt der beiden anderen Gigs). Interessant ist die Sache noch aus einem anderen Grund: Auf dem Re-Release war auch eine knapp achtminütige Fassung von "Heading For Tomorrow" mit Finale von "Dream Healer" enthalten, die ebenfalls von der Japantour 1990 stammen sollte, was musikhistorisch beachtenswert gewesen wäre, da "Dream Healer" ja erst auf dem 1991er Folgealbum "Sigh No More" veröffentlicht wurde. Auch hier bleibt natürlich die Option offen, daß Gamma Ray auf einem der drei anderen Gigs so etwas ausprobiert haben - in den knapp 24 Minuten auf "Heading For The East" kommt das "Dream Healer"-Finale jedenfalls nicht vor. Vielleicht ist's aber auch einfach ein Datierungsfehler im Booklet des genannten Re-Releases. Mit dem Doppel-CD-Re-Release von "Heading For The East" läßt sich aber ein anderer Fehler aufklären. Der Backcovertext verspricht "Over 80 minutes of music", und diesen Text hat der Layouter offensichtlich auch aufs Backcover von "Lust For Live" übernommen, obwohl dort nur 57 Minuten Musik zu hören sind.
Wie auch immer: Man darf diskutieren, ob ein Liverelease nach nur einem Studioalbum unbedingt notwendig gewesen ist - ohne Diskussion festzuhalten ist aber, daß sich Gamma Ray hier in musikalischer Höchstform präsentieren und mit ihrer ansteckenden Spielfreude einen interessanten Gegenpol zu der phasenweise eher verkopft-nachdenklichen Musik auf dem Folgealbum "Sigh No More" setzen. Wer "Heading For The East" bereits als DVD-Re-Release oder gar als originale VHS-Kassette (samt entsprechender Abspielmöglichkeit) besitzt, wird sicherlich nicht zwingend einen neuerlichen Kauf vornehmen müssen, aber wem es weniger auf die visuelle und mehr auf die audiophile Komponente ankommt, der bekommt hier 82 Minuten lang einen weiteren Beweis, warum melodischer Speed Metal so begeisternd sein kann.
Kontakt: www.gammaray.org, www.ear-music.net

Tracklist:
CD 1:
Welcome
Lust For Life
Heaven Can Wait
Space Eater
Free Time
Who Do You Think You Are?

CD 2:
The Silence
Save Us
I Want Out
Ride The Sky/Hold Your Ground
Money
Heading For Tomorrow
 




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