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GAMMA RAY: Heading For Tomorrow
von rls

GAMMA RAY: Heading For Tomorrow   (Ear Music/Edel)

Zu "Erstes Mal"-Geschehnissen entwickelt man ja nicht selten eine Art verklärten Rückblick, aber in diesem Fall gehen der "Erstes Mal"-Charakter beim Rezensenten und die musikhistoriographische Bedeutung der rezensierten CD durchaus Hand in Hand. Man schrieb das frühe Jahr 1992, als die erste Stereoanlage, ein Gerät der Firma Schneider, ins Zimmer des späteren Rezensenten einzog und in der Funktion als Musikwiedergabegerät einen Soundwave-Kassettenrecorder ablöste, der mit Doppelkassettendeck und zuschaltbarem Extra-Baß durchaus auch schon recht fortschrittlich gewesen war. Selbiger Kassettenrecorder existiert übrigens heute noch, und zumindest der Radioteil ist auch noch funktionsfähig, wie ein unlängst durchgeführter Test ergab - die Schneider-Anlage hingegen hielt nur reichlich drei Jahre und wurde 1995 durch den Vorgänger der jetzigen, seit 2003 im Dienst befindlichen Philips-Anlage abgelöst. Nun hatte die Schneider-Anlage neben einem Plattenspieler und einem Doppelkassettendeck auch noch einen CD-Player, ergo lag der Schluß nahe, daß die noch ziemlich am Anfang stehende und bisher ausschließlich LPs und MCs umfassende Tonträgerkollektion ab sofort auch mit CDs bestückt werden müsse. Die waren seinerzeit im Vergleich mit LPs um 50% teurer, aber schon damals kam der Jäger und Sammler hier und da auch an Schnäppchen. Beim Disc-Center in Weikersheim beispielsweise wurden damals sogenannte Cut-Out-Versionen sehr preiswert verkauft - sozusagen künstlich hergestellte Mängelexemplare, bei denen man mit mechanischen Mitteln die Platten- oder CD-Hülle leicht beschädigt hatte (eine Praxis, die im Tonträgerhandel heute ausgestorben ist, im Buchhandel, obwohl dort aufgrund des Preisbindungsgesetzes eigentlich illegal, aber noch anzutreffen ist, wenn man normalen Exemplaren einen Stempel "Mängelexemplar" aufdrückt, sie aber nur durch diese Stempelung zu ebensolchen macht). Und siehe da, beim Disc-Center war u.a. die "Heading For Tomorrow"-CD von Gamma Ray im Angebot (für 6,99 oder 7,99 DM). Gamma Ray, das wußte man, waren die neue Band von Ex-Helloween-Gitarrist Kai Hansen, und da bis auf die erst später hinzugestoßene "Walls Of Jericho"-Scheibe das komplette Helloween-Achtziger-Werk auf LP bereits in der Sammlung stand (also die selbstbetitelte Mini-LP, die beiden "Keeper"-Scheiben und der "Live In The UK"-Konzertmitschnitt) und für musikalisch ausgesprochen reizvoll befunden worden war, fiel die Entscheidung leicht, diese CD zu bestellen - und so fand sie als erster versilberter Tonträger (auch wenn er sich dann als Cut-Out-Version entpuppte) Eingang in die hiesige Sammlung, erwies sich als den hohen musikalischen Erwartungen problemlos standhaltend, ward ergo in den Folgejahren fleißig gehört und dürfte bei einer hypothetischen Zählung sicherlich eine der meistgehörten Scheiben des Bestandes überhaupt sein. Ergo kennt der heutige Rezensent noch heute praktisch jeden Ton der originalen 54:26 Minuten auswendig und schätzt "Heading For Tomorrow" als ein Meisterwerk des melodischen Speed Metals, das gemeinsam mit "Somewhere Out In Space" zugleich die Speerspitze des Gamma-Ray-Schaffens darstellt.
Original erschienen war die Scheibe allerdings schon zwei Jahre bevor sie beim späteren Rezensenten Einzug hielt, nämlich im Februar 1990. Ein Vierteljahrhundert später hat sich Kai Hansen nun aufgemacht, das Frühwerk aus ebenjenem Jubiläumsanlaß in remasterten und um zahlreiche Boni erweiterten Digipack-Re-Releases neu zugänglich zu machen, wobei sich auch schon das Coverartwork unterscheidet. Die LP soll damals mehr oder weniger grau ausgesehen und noch mit dem großen Schriftzug "Kai Hansen" versehen gewesen sein (ohne Bandname), die CD-Fassung besitzt ein blaues Cover, auf dem Hansen und die zweite Stütze der Gamma-Ray-Frühzeit, Sänger Ralf Scheepers, mit Sonnenbrillen etwas unmotiviert in die Gegend blicken. Die Struktur dieser beiden Köpfe übernimmt das neue Cover, allerdings als Baumruinen, während die Umgebung (samt des aktuellen Bandlogos) komplett neu eingefügt wurde, allerdings einige Elemente enthält, die man auch schon von anderen Gamma-Ray-Artworks her kennt (beispielsweise die ekstatischen Engel). Musikalisch kommt das Ganze als Doppel-CD daher, wobei die erste CD zunächst die zehn regulären Albumtracks enthält. Zu denen erübrigen sich ausführliche Analysen sicherlich: "Heading For Tomorrow" wäre phasenweise durchaus als "Keeper Of The Seven Keys Part III" ansprechbar (nicht zu verwechseln natürlich mit dem Projekt, das Helloween dann anno 2005 unter dieser Bezeichnung starteten), enthält allerdings durchaus einige Elemente, die im Helloween-Kontext weniger erwartbar gewesen wären, worunter vor allem eine gewisse Siebziger-Schlagseite fällt, die später dann wieder aus dem Gamma-Ray-Schaffen verschwand, hier allerdings nicht nur im Bandnamen (vom Birth-Control-Signaturlied inspiriert, das dann auf dem dritten Gamma-Ray-Album "Insanity & Genius" auch gecovert wurde), sondern speziell im vierzehnminütigen Titeltrack mit seinen endlosen Instrumentalpassagen, die vermutlich zumindest teilweise per Jamsession entstanden sind (sie kommen nicht selten mit einer Gitarre aus, entsprechen also der damaligen Quartettbesetzung mit nur einem Gitarristen, nämlich Hansen selbst), in auffälliger Weise in den Vordergrund tritt. Hierzu paßt die Coverversion des Albums perfekt - am originalen Scheibenende erklingt nach dem Titeltrack noch Uriah Heeps "Look At Yourself", zwar metallisch gehärtet, aber originaltypische Elemente wie die Hammondorgel oder die schräg-hohen Backings durchaus nicht außen vor lassend. Auch "Free Time" fällt etwas aus dem Albumrahmen - Scheepers schrieb diesen Midtempo-Gute-Laune-Rocker ursprünglich für seine alte Band Tyran' Pace. Ansonsten herrscht allerdings melodisches Speedbusiness as usual: "Lust For Life" und "Hold Your Ground" markieren die Geschwindigkeitsobergrenze, das stampfende "Space Eater" wurde mit einigen Raumeffekten ausstaffiert und erlöste später eine serbische Band, die einen Namen suchte, mit "The Silence" ist eine schöne Ballade dabei, "Money" läßt trotz ernster Thematik (es geht um Plutokratie) den Humorfaktor Helloweens aufleben, und "Heaven Can Wait" stellt den eingängigen "Hit" der Platte im treibenden Midtempo dar, der in Japan gleich noch als Titeltrack einer EP ausgekoppelt wurde. Im Land der aufgehenden Sonne kam "Heading For Tomorrow" extrem gut an und verfehlte die Spitzenposition der Albumcharts nur um einen einzigen Platz - die dort erhältliche CD-Fassung enthielt noch einen Extra-Track, nämlich "Mr. Outlaw", ebenfalls eine Scheepers-Komposition, diesmal im Speedtempo und mit einigen der bekannten furiosen Hansen-Soli ausstaffiert, wobei allerdings auch Bassist Uwe Wessel einen kurzen Solospot zugewiesen bekommt. Ebenjener Track findet sich auch auf CD 1 des vorliegenden Re-Releases, und ihm folgen noch zwei Tracks der "Heaven Can Wait"-EP, beide aus Hansens Feder: "Sail On" setzt in den Strophen auf Akustikrock und weist damit schon auf den Stilwandel voraus, der sich auf dem Zweitwerk "Sigh No More" dann weit umfangreicher Bahn brechen sollte - auch der ganze Song ist deutlich weniger zupackend als das Albummaterial, wenngleich keineswegs schlecht. Interessanterweise stammt er songwriterisch nicht etwa aus jener Zeit zwischen den beiden Alben, sondern ist einer der fünf frühesten Gamma-Ray-Demotracks aus dem Jahr 1989. In "Lonesome Stranger" schließlich, auch so ein Alttrack, versucht Hansen den mysteriösen Charakter von "Follow The Sign" (vom ersten "Keeper"-Album) zu revitalisieren, ihn im Intro aber zugleich auch mit Humor anzureichern, was ganz klassisch scheitern muß, während der ganz leichte Western-Touch dieses ruhigen Instrumentalstücks ebenso überzeugt wie die einfach nur schöne musikalische Blumenwiese, die er hier vor dem Hörer ausbreitet, bevor die 67:47 Minuten der ersten CD enden.
Die 68:45 Minuten der zweiten CD setzen die Behandlung des EP-Materials fort, zunächst mit "Who Do You Think You Are?", in diesem Fall kein Alttrack, sondern eine Bandkomposition des zweiten Line-Ups: Uli Kusch hatte Mathias Burchardt am Drumkit ersetzt, und Dirk Schlächter, der gasthalber "Money" als Bassist eingespielt hatte, war als Zweitgitarrist eingestiegen (bekanntlich blieb er der Band bis heute erhalten, wenngleich seit 1997 wieder als Bassist). Der Deep-Purple-verdächtige Titel findet im Intro eine witzige musikalische Entsprechung: Auch die alten Siebziger-Rocker scharwenzelten bisweilen erst etwas um den heißen Brei herum, bevor sie im eigentlichen Song die Geschwindigkeit anzogen (höre etwa "Highway Star" als Beispiel). Und auch der Melodic-Metal-Hauptteil gönnt sich hier einen Rückgriff auf vergangene Jahrzehnte, wenn er etwa einen klassischen Rock'n'Roll-Lauf einbastelt. Hierauf folgt die EP-Version von "Heaven Can Wait", die gewisse Gitarrenlicks mit etwas stärkerer Aufmerksamkeit bedenkt als die Albumversion, aber insgesamt nicht an deren Geschlossenheit kratzen kann (vielleicht liegt das aber auch am Gewöhnungseffekt der Albumversion). Die Instrumentalfassung von "Mr. Outlaw" als letzter EP-Track folgt erst an Trackposition 8 der zweiten CD, davor beginnt zunächst die über diese ganze CD verteilte Aufarbeitung der insgesamt fünf Demosongs, die Hansen 1989 als Vorproduktion in seiner Wohnung eingespielt und auch selbst mit Vocals versehen hatte. Und man staunt durchaus, daß es in den Strukturen kaum noch Änderungen gegeben hat, was für eine exzellente Vorbereitung spricht - interessant ist aber zugleich, wo sich noch Änderungen ergeben haben, am markantesten nämlich im Mittelteil von "Money", der in der Demofassung noch nach "Queen meets Schlümpfe auf Acid" klingt, in der Albumfassung dann aber nur noch nach "Queen meets Schlümpfe". Außerdem klingt der einleitende Teil von "The Silence" in der späteren Albumfassung viel ruhiger und entspannter. Und noch etwas ist markant: Die Demos umfassen "Money", "Sail On", "The Silence", "Heaven Can Wait" und schließlich "Lonesome Stranger", also zum einen ganze drei der späteren Albumtracks und zum anderen nicht mal die markantesten Nummern - Hansen dafür einen Studiofreibrief zu gewähren spricht dafür, daß er damals bei Noise Records ein ziemliches Vertrauen genossen haben muß (wovon auch die Liner Notes sprechen), das er mit dem formidablen Endergebnis (und ähnlich formidablen Verkaufszahlen) dann allerdings auch gerechtfertigt hat. Auf der 1990er Japan-Tour (schon im erwähnten zweiten Line-up) wurden die hier auf CD 2 verewigten Livefassungen von "Space Eater" und "Heading For Tomorrow" mitgeschnitten, steht geschrieben (wer das "Heading For The East"-Video besitzt, kann nachprüfen, ob es dessen Tonspuren sind oder Mitschnitte noch anderer Quelle) - die sind in zweierlei Hinsicht hochinteressant: In "Space Eater" singt nicht Scheepers, sondern Hansen, und die knapp achtminütige Fassung von "Heading For Tomorrow" bekommt als Finale das von "Dream Healer" angefügt, einem Song, der dann auf "Sigh No More" seinen Platz fand, zum Zeitpunkt der Tour dem Publikum also noch komplett unbekannt war. Die letzten beiden Beiträge der zweiten CD sind Karaoke-Versionen von "Heading For Tomorrow" (diesmal in voller Länge) und "Space Eater", beide vermutlich von einer 1997 in Japan erschienenen CD voller solcher Versionen stammend, wobei die Backing Vocals belassen wurden. Hierfür gilt prinzipiell das für die Nightwish-Instrumental-CDs mehrfach Gesagte: Auch hier entdeckt man noch das eine oder andere interessante Element, das in der regulären Studiofassung vom Leadgesang in den Hintergrund gerückt wird, wenngleich die Dichte solcher Elemente hier naturgemäß deutlich geringer ausfällt als bei Nightwish. Die "Lonesome Stranger"-Demofassung (ohne das komische Intro, allerdings auch längst nicht mit so einer schönen Blumenwiese) beschließt die zweite CD und damit auch diesen Re-Release, der dem Freund melodischen Speed Metals endgültig das letzte Argument unter den Füßen wegzieht, wenn er dieses Meisterwerk noch nicht in seiner Kollektion stehen haben sollte - auch wenn es der Besitz des originalen Albums als Grundwert auch tun sollte und man sich von der schieren Menge des Bonusmaterials nicht zum Zweitkauf genötigt fühlen muß. Immerhin ist das, was der Rezensent hier vor sich hat, keine Cut-Out-CD ...
Kontakt: www.gammaray.org, www.ear-music.net

Tracklist:
CD 1:
Welcome
Lust For Life
Heaven Can Wait
Space Eater
Money
The Silence
Hold Your Ground
Free Time
Heading For Tomorrow
Look At Yourself
Mr. Outlaw
Sail On
Lonesome Stranger

CD 2:
Who Do You Think You Are?
Heaven Can Wait (EP Version)
Money (Demo)
Sail On (Demo)
Heading For Tomorrow (Live)
Space Eater (Live)
The Silence (Demo)
Mr. Outlaw (Instrumental Version)
Heaven Can Wait (Demo)
Heading For Tomorrow (Karaoke Version)
Space Eater (Karaoke Version)
Lonesome Stranger (Demo)
 




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