DEEP PURPLE: Live In Stockholm 1970 von rls (Ear Music)
Dieser Release gehört zur sogenannten "Official Deep Purple (Overseas) Live Series", obwohl sie kurioserweise gar kein Material aus Übersee beinhaltet - es sei denn, man betrachtet Stockholm als überseeisches Territorium, weil man 1970 ja erst über Polen, die Sowjetunion und Finnland hätte fahren müssen, um die schwedische Hauptstadt auf dem Landweg zu erreichen. Aber vielleicht hat die Einklammerung eine entsprechende Einschränkung zu bedeuten, denn auch das Bonusmaterial dieser Veröffentlichung ist nicht etwa überseeischer Herkunft, sondern stammt sogar vom europäischen Festland, nämlich aus Paris und aus Granada, und ein Werbeflyer für die insgesamt 10 historische Mitschnitte umfassende Serie zeigt als zentrales Cover dasjenige eines Paris-Konzertes 1975. Aber wir wollen uns nicht weiter mit geographischen Erörterungen aufhalten, sondern uns in die faszinierende Welt einer der größten Hardrockbands der Siebziger begeben, die mit ihrem exzellenten 2013er Album "Now What?!" unter Beweis gestellt hat, daß sie noch immer zu guten Taten fähig ist, auch wenn die jugendliche Frische natürlich längst den Weg alles Irdischen ging. Der Stockholm-Konzertmitschnitt, angefertigt vom schwedischen Rundfunk und daher aufnahmetechnisch auf hohem Niveau, stammt vom 12. November 1970, und Deep Purple brachten das Kunststück fertig, einen über zweistündigen Set mit gerade einmal sieben Songs zu füllen, von denen "Into The Fire" zudem mit lediglich vier Minuten den Durchschnitt rapide drückt. Das bedeutet, daß die anderen sechs Songs allesamt wahre Mammutlängen haben müssen, und genau das macht auch den Reiz einer solchen Veröffentlichungsserie aus: Selbst innerhalb einer Tour glich selten eine Abendfassung einer anderen Abendfassung, auch wenn es natürlich festgelegte Rahmenbedingungen gab. CD 2 des Packages läßt erstklassig erkennen, wie das zu verstehen ist, denn "Mandrake Root" eröffnet diese CD mit dem Stockholm-Mitschnitt und ist später noch ein zweites Mal im elf Tage zuvor entstandenen Paris-Mitschnitt zu hören (analoges gilt für "Wring That Neck", das allerdings einmal auf CD 1 und einmal auf CD 2 steht), so daß der Hörer prima Direktvergleiche ziehen kann und feststellen wird, welche Rahmenelemente Gitarrist Ritchie Blackmore und Keyboarder Jon Lord fixiert hatten und in welche Richtungen sie sich von dort aus fortbewegten, um jeweils individuelle Klanglandschaften zu erkunden. Dafür braucht man natürlich exzellente und im Idealfall auch noch gut aufeinander eingespielte Musiker, aber Blackmore, Lord und Drummer Ian Paice waren ja schon seit der Bandgründung 1968 an Bord, und auch Bassist Roger Glover befand sich zum Zeitpunkt der Mitschnitte schon ein Jahr an dieser Position. Am Werk ist also die "klassische" Mark-II-Besetzung, und die hatte als neues Album zu dieser Zeit "In Rock" am Start, das dann auch gleich drei bzw. vier der sieben Songs des Stockholm-Sets stellt ("Black Night" stammt zwar aus der gleichen Schaffensperiode, wurde aber nicht auf dem Album, sondern nur als Single veröffentlicht), allerdings interessanterweise die "kürzeren". "Speed King" eröffnet das Konzert (das eigentliche Showintro ist nicht zu hören, weil die erste CD mit über 79 Minuten schon an der Kapazitätsgrenze kratzt, so daß es aus Platzgründen weggeschnitten wurde), und trotz seiner hohen Grundgeschwindigkeit und der Opener-Position wagt es die Band, den Song nach fünf Minuten fast zum Stillstand zu bringen, bevor er dann wieder Fahrt aufnimmt. Dem zwischen den umgebenden Giganten fast zwergenhaft wirkenden "Into The Fire" folgt "Child In Time", einer der erklärten Lieblingssongs des Rezensenten, wobei hier die Evolution der hohen Gesangspassagen besonders interessant ist: Man kennt vom 1969er Konzert, in dem Lords "Concerto For Group And Orchestra" aufgeführt wurde, die frühe Liveform, in der Ian Gillan die hohen Töne noch mit klarer Stimme singt - ein Jahr später hingegen ist er an dieser Stelle schon am leicht angerauhten Schreien und blieb dann später auch dabei, wie man von der bekannten Version auf "Made In Japan" weiß. Die Stockholm-Version ist im Direktvergleich mit beiden auch etliche Minuten länger, da Lord und Blackmore den Soloteil deutlich ausdehnen und so erst nach über 17 Minuten ins Ziel kommen. In "Wring That Neck" und "Mandrake Root" gönnen sich die beiden Solisten den Spaß, gelegentlich bekannte Themen einzuflechten, und machen dabei nicht mal vor "Jingle Bells" und "White Christmas" halt, obwohl ja erst November war, und auch nicht vor der "Morgenstimmung" aus der ersten Peer-Gynt-Suite, obwohl Grieg nicht etwa Schwede, sondern Norweger war (und beim historischen Verhältnis dieser beiden Länder hätte das durchaus schiefgehen können - eine Analogie findet sich übrigens auch in der Paris-Fassung von "Wring That Neck", wo Blackmore ausgerechnet "Heil dir im Siegerkranz" bzw. "God Save The Queen" intoniert). Aber die Spielfreude sprüht hier förmlich aus jeder Note, und auch wenn es am heimischen Lautsprecher sicherlich schwieriger ist, die Aufmerksamkeit über eine halbe Stunde Instrumentalimprovisation durchzuhalten, als dies in der Konzertsituation vor Ort gewesen sein dürfte, so bietet sich doch genügend Interessantes, um den Hörer bei Laune zu halten. Da "The Mule" 1970 noch nicht geschrieben war ("Smoke On The Water" übrigens auch nicht - nur für den Fall, daß sich jemand fragen sollte, warum es nicht in der Setlist auftaucht), mußte sich Ian Paice etwas anderes für die Einbettung seines Drumsolos einfallen lassen, und hier kommt "Paint It, Black" zum Zuge, bei dem es sich tatsächlich um die Rolling-Stones-Nummer handelt, die aber wenig mehr als eine kurze thematische Rahmung um das besagte Drumsolo abgibt. "Black Night" war die Zugabe des Abends und entläßt ein zufriedenes schwedisches Publikum in die vermutlich dunkle Nacht.
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