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BLIND GUARDIAN: At The Edge Of Time
von rls

BLIND GUARDIAN: At The Edge Of Time   (Nuclear Blast)

Blind Guardian hatten es nach dem von Fans und Bandmitgliedern gleichermaßen geliebten Meisterwerk "Imaginations From The Other Side" anderthalb Jahrzehnte recht schwer, ihre eigenen Ansprüche mit denen ihrer Anhänger in Einklang zu bringen. Nach etlichen Versuchen dämmerte ihnen dann, daß sie keine Progmetalband sind und deshalb auch nicht versuchen sollten, eine zu sein. Der daraufhin gestartete Versuch, die eigenen Fortschrittsambitionen mit anderen Mitteln umzusetzen, führte anno 2006 zu einem ebenfalls eher zwiespältigen Ergebnis - daß in der 2010er Livesetlist mit "Fly" nur noch ein einziger Song dieser Scheibe steht, spricht für die Selbsterkenntnis des gescheiterten Experiments. Wie nun weiter? Um keine vollständige Back-to-the-roots-Kehrtwende vollziehen zu müssen, spielen Blind Guardian auf ihrem neunten Studioalbum nun eine Trumpfkarte aus, mit der sie bisher eher selten gearbeitet haben: Orchestermetal heißt das Stichwort, das als Ergebnis zwei etwa neunminütige Epen erbrachte, welche "At The Edge Of Time" quasi rahmen und bei der Strukturanalyse in Verbindung mit dem Albumtitel ganz eigentümliche Gedanken nach vorne bringen. "Sacred Worlds" (manchem schon aus dem Kontext eines Computerspiels bekannt) und "Wheel Of Time" erweisen sich in der Gesamtbetrachtung dann auch als die absoluten Highlights des Albums, und daß beide in der aktuellen Livesetlist auftauchen, obwohl damit schon fast 20 Minuten Spielzeit gefüllt sind, spricht dafür, daß auch die Band um die Qualitäten weiß. Hier ist alles logisch durchstrukturiert, hier paaren sich die bekannte Detailverliebtheit der Band und die Möglichkeiten der musikalischen Umsetzung und erzeugen einen Nachkommen, der möglicherweise richtungsweisend für die weitere Arbeit der Band sein könnte, ohne daß sie nun ausschließlich auf diese Trumpfkarte setzen wird. Aber zudem erkennt man ein Phänomen: Die zweite CD des Digipacks enthält "Wheel Of Time" als "Orchestral Version", was von der Bezeichnung her nicht ganz stimmt, da auch die Band mitspielt und lediglich der Gesang als markanter Bestandteil fehlt. Und wenn man diese Variante hört, stellt man völlig überrascht fest, daß diese neun Minuten Musik problemlos auch auf die zweite CD von Nightwishs "Dark Passion Play"-Digipack gepaßt hätte, der das komplette Albummaterial in Instrumentalversionen enthalten hat. Das Booklet enthält keine Informationen, wer das Orchestermaterial arrangiert hat (es sei denn, die Bezeichnung "Music Contractor" bei Petr Pycha sollte darauf gemünzt sein, aber das wäre eher anzuzweifeln), aber Pip Williams und N.N. haben zumindest einen sehr ähnlichen Stil, wie man Orchestermetal inszeniert. So bleibt eigentlich Hansi Kürschs Stimme der einzige Bestandteil, der "Wheel Of Time" zum originär als solchem erkennbaren Blind Guardian-Stück macht, was freilich nichts Schlechtes ist, denn eine solch markante Stimme hätte sicher jede Band gerne in ihren Reihen.
Freilich löst auch diese Stimme das Grundproblem der anderen acht Songs nicht, die sich da zwischen den beiden Eckpfeilern hin und her manövrieren. Blind Guardian haben versucht, Experimente dort weitgehend auszublenden und ein Stück weit zurück zu ihren Wurzeln zu gehen. Geradlinig durchgespielte und wiederholte Melodiebögen über schnellen Stakkatodrums wie an einigen Stellen in "Tanelorn (Into The Void)" hat man jedenfalls längere Zeit nicht im Schaffenskontext der Band gehört, und allein der Songtitel geht hier schon als Rückblende durch, denn auf "Somewhere Far Beyond" befand man sich ja noch auf der "Quest For Tanelorn". Der Versuch, ähnliche Meisterwerke zu erschaffen wie damals, kann in diesem Falle als zumindest partiell geglückt betrachtet werden, wenn man das Grundproblem der modular austauschbaren Songparts ausklammert: Auch hier hätte man sich nicht wundern müssen, wenn statt des tatsächlich erklingenden Refrains plötzlich nochmal der von "Sacred Worlds" intoniert worden wäre, der nicht schlechter oder besser an die betreffende Stelle gepaßt hätte. Aber in dem Song liegen zumindest noch Spannung, Energie und Spielfreude, was man nicht von jedem der Folgetracks behaupten kann, die bisweilen wie am Reißbrett kalkulierte und ideenseitig erstarrte Komplexe wirken. "Valkyries" etwa braucht bis zum chorunterstützten Refrain, um wenigstens etwas Leben eingehaucht zu bekommen, während eine Ballade wie "Curse My Name" mit ihrer völlig ideenlosen Anlage den diversen Highlights der Bandgeschichte in dieser Sparte keinesfalls das Wasser reichen kann, was man schon beim ersten Hören der restlos ausgelutschten Intromelodie (ein im Folkbereich fast klassisch zu nennendes Thema, dem die Band keinerlei neue oder zumindest interessante Seiten abgewinnen kann) ahnt. Der Speed von "A Voice In The Dark" kaschiert da wenigstens noch mancherlei (und der Song selbst ist auch noch einer der besten auf dem Album und kann mit "Tanelorn [Into The Void]" durchaus mithalten), aber speziell die midtempolastigen Sachen wie "Control The Divine" oder "Road Of No Release" langweilen sich durch ihre jeweils fünf bis sechs Minuten Spielzeit, und da kann nicht mal das eher mäßig ausgeprägte Rollenspiel im letztgenannten Song, das wie nicht konsequent zu Ende gedacht und ohne Vertrauen in die Fähigkeiten diverser Gäste, die man da hätte einbinden können, wirkt, etwas retten; auch das durchaus interessante Hauptsolo und die leicht mediterran wirkenden Akustikgitarrenparts des erstgenannten Tracks retten die Aufmerksamkeit nicht mehr vor dem weiteren Erlahmen. Sicher, kompetent eingespielt ist das alles, aber eben viel zu routiniert und oftmals ohne den nötigen Esprit. Wie das geht, wenn richtig viel Herzblut drinsteckt, zeigen die beiden rahmenden Orchestermetaltracks, während große Teile des restlichen Albums (nämlich im wesentlichen die sechs Innentracks, die ja noch einmal von den durchaus starken "Tanelorn [Into The Void]" und "A Voice In The Dark" gerahmt werden) ähnlich schnell in der Vergessenheit verschwinden werden wie große Teile der letzten beiden Alben der Band. Sicher: Viele andere Bands würden in ihrem Schaffen auch diese Songs als Highlights deklarieren dürfen, aber bei Blind Guardian liegt der Maßstab anhand der Meisterwerke der Vergangenheit eben doch etwas anders an. Interessantes Detail am Rande: Die Band und Produzent Charlie Bauerfeind gehen den Trend des Immer-lauter-Masterns nicht mit, sondern bleiben auf einem eher mäßigen Lautstärkelevel - wenn man nacheinander "At The Edge Of Time" und die Karel Gott-Best Of "Weißt du wohin" im Player hat, schlägt die Pegelanzeige bei identischer Position des Lautstärkereglers für die Gott-Scheibe stärker aus ...
Wer sich den Digipack des Albums zulegt, bekommt neben einem hübschen Faltdetail noch eine zweite Scheibe. Die enthält die erwähnte "Orchestral Version" von "Wheel Of Time", eine Pre-Production-Fassung von "Sacred Worlds" (der u.a. noch weite Teile des Orchesterintros fehlen) und drei weitere Songs des Albums in Demoversionen, wobei sich "Tanelorn (Into The Void)" und "A Voice In The Dark" gar nicht so sehr von den regulären Albumversionen unterscheiden, was für die exakte Vorbereitung der Band spricht, aber eben auch ein Grund für die strukturelle Erstarrung sein kann, während "Curse My Name" hier eine Minute kürzer, aber auch nicht begeisternder ist. Wer die Besetzungsliste im Booklet gelesen hat und sich wundert, wo Drummer Frederik Ehmke denn Dudelsack spielt, der wird im einzigen komplett unabhängig vom regulären Album auf der Zusatz-CD enthaltenen Song fündig: "You're The Voice", eine Coverversion von John Farnham, die hier ähnlich viel Hörspaß macht wie in der Fassung der Red Hot Chilli Pipers. Zudem bekommt man hier noch das Video zu "Sacred" und eine 19minütige Studiodokumentation, die vielleicht manche Frage beantworten hilft, warum bestimmte Dinge auf dem Album so klingen, wie sie eben klingen. Kaufenswert ist "At The Edge Of Time" aufgrund der beiden (oder meinetwegen vier) Highlights auf der regulären Scheibe jedenfalls zweifellos, aber auf ein nächstes Meisterwerk aus der Krefelder Bombastmetalschmiede müssen wir nun nochmal x Jahre warten ...
Kontakt: www.blind-guardian.com, www.nuclearblast.de

Tracklist:
CD 1:
Sacred Worlds
Tanelorn (Into The Void)
Road Of No Release
Ride Into Obsession
Curse My Name
Valkyries
Control The Divine
War Of The Thrones
A Voice In The Dark
Wheel Of Time

CD 2:
Sacred Worlds (Pre-Production Version)
Wheel Of Time (Orchestral Version)
You're The Voice (Radio Edit)
Tanelorn (Into The Void) (Demo)
Curse My Name (Demo)
A Voice In The Dark (Demo)
Sacred (Video)
A Journey To The Edge Of Time (Studio Documentary)



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