www.Crossover-agm.de ARIJA: Tscheres Wsje Wremena
von rls

ARIJA: Tscheres Wsje Wremena   (Moon Records)

"Hey, cool, die neue Maiden!" wäre die typische Reaktion wohl jedes Traditionsmetallers nach den ersten Sekunden Höreindruck dieser Scheibe gewesen, hätte man sie ihm zwischen November 2014 und dem 4. September 2015 in einem Blindfoldtest vorgespielt - letztgenanntes Datum bemißt sich aus der Veröffentlichung der "richtigen" neuen Maiden-Scheibe "The Book Of Souls" an ebenjenem Tag, seit dem jeder Maiden-Anhänger weiß, wie sich deren Opener "If Eternity Should Fail" real anhört. Gehört haben wir im hypothetischen Blindfold-Test allerdings den Titeltrack von "Tscheres Wsje Wremena", dem neuen, im November 2014 erschienenen Album von Rußlands Metalhelden Arija, und die bringen in diesem Song mal wieder das Kunststück fertig, Elemente aus dem Schaffen der großen Briten so in ihr eigenes Werk einzubinden, daß man es als Bereicherung und nicht als geistigen Diebstahl empfindet. Besagte eröffnende Gitarrenmelodie über einem Keyboardteppich jedenfalls hätte auf "Seventh Son Of A Seventh Son" einen herausragenden Platz einnehmen können, und mit dem atmosphärischen Break über förmlich schwingenden Drums kommt später noch ein weiterer Part hinzu, der Gleiches für sich beanspruchen könnte, während der Rest des Songs als deutlich eigenständiger durchgeht. Aber es dürfte kein Zufall sein, daß Arija ausgerechnet diesen Song an den Anfang ihres neuen Albums gestellt haben - es ist einer der besten ihrer jüngeren Vergangenheit, eingängig genug, um den Albumeinstieg zu erleichtern, aber anspruchsvoll genug, um auch den anspruchsvollen Metal-Gourmet für einige Zeit zu sättigen. Außerdem gehört er auch zu den schnellsten Songs der jüngeren Schaffensperiode, wenngleich ihm der alles umblasende Charakter des "Krestschenije Ognjom"-Openers "Patriot" fehlt - man hat eher den Eindruck einer Leichtfüßigkeit. Die bleibt in den anderen neun Tracks dann weitgehend aus, aber zu großer Massivität und metallischer Härte gehen Arija auch nicht zurück, sondern inszenieren gediegenen, manchmal angedüsterten, oft leicht progressiv angehauchten, aber stets nachvollziehbar gehaltenen melodischen Metal, selbst wenn man sich an manchen Wechsel erst gewöhnen muß. Hat man diesen Schritt allerdings vollzogen (und in der Encyclopedia Metallum vielleicht auch mal noch einen Blick auf die Songtitelübersetzungen geworfen, falls man der russischen Sprache selbst nicht mächtig ist), wird klar, was der plötzliche Speedausbruch im Hauptsolo von "Nje S-chodi S Uma" soll oder wie sich der atmosphärische Mittelteil von "Wpiki Solnza Na Wodje" erklärt. Letztgenannter macht die Seelenverwandtschaft von Witali Dubinin zu Steve Harris mal wieder besonders deutlich: Die keyboardunterlegten Baßpassagen hätten von dem einen wie von dem anderen stammen können, allerdings treten die Arija-Gitarristen Wladimir Cholstinin und Sergej Popow dann mit Gitarrensounds hinzu, die von den typischen Murray-Smith-Gers-Lagen deutlich unterscheidbar sind. Wem das alles zu progressiv ist, dem servieren Arija "Wremja Satmenii", mit viereinhalb Minuten der kürzeste Song hier, der im Intro mal wieder Maiden-Feeling erzeugt (diesmal in Richtung der Frühphase - es könnte ein Bruder des "Transylvania"-Themas sein) und sich ansonsten relativ geradlinig vorwärtsbewegt. Die Ballade des Albums hört nicht auf den Titel "Angely Njeba", wie man vermuten könnte, sondern steht schon eine Position weiter vorn: "Totschka Njewoswrata" reiht sich problemlos in die Serie der gekonnten Arija-Balladen ein, auch wenn der Grundbeat für eine Ballade schon auffällig hoch liegt und Maxim Udalow zwischen die beiden Refrains nach dem Hauptsolo gar eine hämmernde Bassdrum unter den Verbindungspart legt. Daß zu diesem Song ein Video gedreht wurde, verdeutlicht Arijas Streben nach auch über die Metalszene hinausreichender Aufmerksamkeit, was man ihnen freilich nicht als kommerzielle Auswimpung übelnehmen sollte, denn dazu ist der Song als solcher schlicht und einfach zu gut, und wer ihn nicht mag, bekommt in den anderen neun immer noch genügend metallisches Kraftfutter verpaßt, etwa das erwähnte "Angely Njeba", zweitkürzester Song der Scheibe und bis auf die verschleppte Bridge, das Break zwischen den Hauptsoloteilen und die leicht unmotiviert wirkende Beschleunigung mitten im Refrain einheitlich in einem relativ treibenden Midtempo gehalten, dazu eingängig, problemlos nachvollziehbar und wieder mal mit ein paar Maiden-Elementen spielend, nämlich allen voran der harris-kompatiblen Baßarbeit. Hinter "Ataka Mertwezow" wiederum hätte man eigentlich einen etwas zupackenderen Track erwartet und nicht den kleinen Bruder des Titeltracks. Aber auch hier gibt es mit dem leicht orientalisch angehauchten Hauptsoloteil noch eine Überraschung, und zwar eine der durchaus angenehmen Art, wenngleich es über die Spielzeit von knapp sieben Minuten hin durchaus noch weitere hätte geben dürfen. Die galoppimitierenden Rhythmusgitarren dürften hier programmatisch sein, auch wenn sie mit dem Coverartwork nur bedingt korrespondieren, da das Schlachtroß des Arija-Maskottchens doch ein gutes Stück flotter unterwegs sein dürfte (irgendwo gab's das optisch schon mal in sehr ähnlicher Form - aber wo?). Die allgemein recht düstere Grundgestaltung des Albums, zumindest in der dem Rezensenten vorliegenden ukrainischen Pressung von Moon Records, findet nur in "Gorod" eine musikalische, dort vermutlich eher dystopisch gehaltene Entsprechung - die hellbraun-freundliche CD paßt zwar farblich überhaupt nicht zum Rest der Optik, dafür aber besser zur Musik, wobei es, was bei Arija sonst selten ist, im Closer "Beguschii Tschelowek" fast zirkusartige Elemente zu hören gibt. Aber Zirkusmusik hatte zu Sowjetzeiten ja durchaus ihre ganz eigene Bedeutung, wie wir aus ihrem Einsatz bei Dmitri Schostakowitsch wissen. Nach der epischen Halbballade "Sow Besony", die bei Minute 5 eher unerwartet Fahrt aufnimmt, ist der besagte Closer jedenfalls ein interessantes Gegenstück, zudem neben dem Opener der wohl beste Song des Albums und damit ein perfekter Rahmen um einen allerdings überwiegend auch gut- bis hochklassigen Inhalt, der den guten, in gleicher Besetzung eingespielten Albumvorgänger "Feniks" ein Stück weit übertrifft, allerdings die ganz großen Arija-Klassiker nicht zur Seite schieben kann. Interessantes Detail am Rande: Hatten sich Arija schon bei "Feniks" für Mix und Mastering "westliche" Hilfe geholt, nämlich von Tommy Hansen, so sind sie diesmal nach Skandinavien ausgewichen: Hiili Hiilesmaa erledigte den Mix und Svante Forsbäck das Mastering der fast exakt einstündigen Scheibe, der starken Musik ein ebenso hochqualitatives Klanggewand zur Seite stellend. Ach ja, und Michail Schitnjakow, der nicht mehr ganz so neue Sänger, wirkt bestens integriert und trägt sein Scherflein zur allgemein starken Leistung bei.

21 Monate nach der erstmaligen Veröffentlichung fällt dem Rezensenten in Pjatigorsk eine andere Pressung des Albums in die Hände, und zwar von einem Label namens Art Optimum. Gegenüber der Moon-Pressung hat diese Version einen Nachteil und zwei Vorteile. Der Nachteil: Schon die Moon-Pressung war mit einem Vierseitenbooklet nicht gerade üppig ausgestattet, aber hier gibt es nur noch eine Covercard, und die glänzt rückseitig auch noch mit kompletter Uninformativität, da besagte Rückseite einfach nur die Außenseite der Inlaycard mit Tracklist und Copyrightangaben reproduziert. Dafür ist die CD diesmal farblich mit der Außengestaltung abgestimmt, und - das war der explizite Erwerbsgrund - sie enthält drei Tracks mehr und kommt somit auf über 77 Minuten Spielzeit. Ganz unbekannte Songs sind die drei Boni aber auch wieder nicht. Zunächst erklingt die oben gelobte Ballade "Totschka Njewoswrata" als Fassung mit Orchester, und daß Arija auch sowas können, haben sie in der Vergangenheit ja bereits unter Beweis gestellt. Nur im Mittelteil verwechselt der Arrangeur mal kurz Dramatik mit Hektik, und die erwähnte Aussagelosigkeit des Booklets verhindert genauere Nachforschungen, welches Orchester denn hier beteiligt war bzw. ob es überhaupt eins aus Fleisch und Blut war oder eines, das sich von elektrischem Strom ernährt. Der Emotionsfaktor des Songs bleibt aber trotz aller diesbezüglicher Erörterungen hoch genug. Schlußendlich erklingen der Titeltrack sowie "Gorod", also die beiden Albumopener, noch in Instrumentalfassungen - auch solche "Karaokeversionen" sind im Schaffen Arijas bereits bekannt (man erinnere sich an den Soundtrack zu "Dalnoboistschiki-2", der ausschließlich aus derart aufbereiteten Nummern bestand, die allerdings damals noch eine Neueinspielung erfuhren, während im vorliegenden Fall sicherlich die originalen Albumspuren unter Weglassung des Gesangs genutzt wurden), wobei "Tscheres Wsje Wremeni" aber erstaunlicherweise auch in dieser Form als Instrumentalstück funktionieren würde, was nicht als Affront gegen Sänger Schitnjakow gewertet werden soll, sondern lediglich offenbart, daß auch unterhalb der Gesangsebene in den Arija-Nummern noch jede Menge Interessantes passiert. "Gorod" ist diesbezüglich nicht ganz so dicht gestrickt, aber auch hier könnte man sich eine Eigenexistenz als Instrumentalstück zumindest in der Theorie vorstellen, wenngleich die "Führungsrolle" des Sängers in dieser Nummer stärker ausgeprägt ist und er auch im Refrain nicht von einer parallel laufenden Gitarrenlinie gestützt wird. So bieten die 17 Zusatzminuten zwar kein absolut unersetzliches Futter, aber doch solches, das der hohen Qualität der zehn regulären Songs keinen Zacken aus der Krone bricht.

Kontakt: www.aria.ru, www.moon.ua

Tracklist:
Tscheres Wsje Wremeni
Gorod
Wpiki Solnza Na Wodje
Nje S-chodi S Uma
Wremja Satmenii
Totschka Njewoswrata
Angely Njeba
Ataka Mertwezow
Sow Besony
Beguschii Tschelowek
 




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