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Bernhard Flieher: Weit, weit weg. Die Welt des Hubert von Goisern
von rls anno 2010

Bernhard Flieher: Weit, weit weg. Die Welt des Hubert von Goisern

Mittwoch, 30.12.2009: Der Rezensent sitzt mit Stirnlampe im Sächsischen Bahnhof zu Gera, wartet auf den Konzertbeginn von Heathen Foray und liest derweil die ersten Seiten des Buches "Weit, weit weg. Die Welt des Hubert von Goisern" von Bernhard Flieher. Ab Seite 15 (dort beginnt der eigentliche Text) beschreibt Flieher in förmlich fliehenden Worten, wie sich 2007 in Vukovar beim Goisern-Konzert ein Lied namens "Solide Alm" in der Livesituation aufbaut. Während der Rezensent diese ausladende Passage liest, dringt die Umbaupausenmusik in seine bewußte Wahrnehmung vor - stilistisch völlig anders gelagert, nämlich im komplexen Black Metal, von einer Band namens Geist (das i schreibt sich noch mit doppeltem i-Punkt, aber auf diese Feinheit sei im Sinne ubiquitärer Lesbarkeit hier verzichtet), Album- und Songtitel sind dem Rezensenten bis heute unbekannt. Aber das, was da aus den Boxen dringt, entspricht in seiner Entwicklung genau an dieser Stelle exakt dem, was Flieher für "Solide Alm" schildert: Puzzleteile fügen sich zueinander, alles schwebt irgendwie und erzeugt doch stabile Gesamtbilder, der Weg ist gleichzeitig das Ziel und die Ahnung eines weiteren Ziels, das an seinem Ende noch lagern könnte.
Der soeben vom Leser gelesene Beginn der Rezension entspricht zugleich ungefähr dem, was der Leser in Fliehers Buch findet. Eine klassische Biographie Hubert von Goiserns ist es nicht, aber wenn man es "eindampfen" würde, man hätte trotzdem seinen Lebenslauf im Wesentlichen beieinander. Flieher begleitet Goisern seit vielen Jahren zumindest auf einzelnen Abschnitten von Touren, die nicht selten an Orte führen, wo der gemeine Mitteleuropäer an alles andere denken würde, aber nicht daran, ein Konzert zu spielen. Das können durchaus auch Orte in Mitteleuropa selbst sein, die irgendwie "am Ende der Welt" liegen, das ist aber auch Essakane in Mali oder Wilkowo in der Südukraine. Vor dem Hintergrund solcher Reisen beschreibt Flieher in einzelnen Essays bestimmte Karriereschritte des Hubert von Goisern und die Wege, die der als Hubert Achleitner in Bad Goisern geborene Künstler beschritten hat - in genau der gleichen Doppelfunktion, die der letzte Satz des ersten Absatzes dieser Rezension bereits angeführt hat. Goisern kommt an, bringt etwas, nimmt anderes mit, und aus all dem formt sich sein persönlicher Kosmos. Daß er das kann, ohne dabei pekuniäre Interessen verfolgen und erstmal seinen Lebensunterhalt sichern zu müssen, verdankt er dem immensen Erfolg von "Koa Hiatamadl" anno 1992, dessen Tantiemen es ihm erlauben, Musik zu veröffentlichen, ohne auf deren kommerzielle Verwertbarkeit Rücksicht nehmen zu müssen. Auch "Koa Hiatamadl" freilich war so ein Experiment, von dem vorher niemand wußte, wie es ausgehen würde: Verknüpfungen von Volks- und Rockmusik hatte es in verschiedenen Konstellationen schon früher gegeben, auch von Goisern und seinen Alpinkatzen selbst. Aber die Irrationalität des Musikgeschäftes in Verbindung mit der gesamtgesellschaftlichen Situation, einer Portion Glück und weiteren Faktoren machte "Koa Hiatamadl" zum Hit, von dem sich Goisern, obwohl er um den Status dieses Songs weiß, übrigens nicht versklaven läßt: Er spielt ihn keineswegs bei jedem Konzert. Und kaum war er als der "Erfinder des Alpenrock" salonfähig und medial faßbar geworden, schon löste er sich wieder aus diesem Korsett und tat ganz andere Dinge - und das bis heute: ob er nun afrikanische Musikelemente live vor Ort studiert, mit den Alben "Trad" und "Trad II" eine ganz andere Behandlung des Volksliedes vornimmt (freilich eine für erzkonservative Kreise nicht weniger unverdauliche) oder mit "S'Nix" ein für seine Verhältnisse knüppelhartes und trotzdem extrem vielschichtiges und seinen Wurzeln treu bleibendes Album veröffentlicht. So kurios wie die Lebensgeschichte des Goiserers vielleicht anmutet (auch wenn sich bei näherer Betrachtung viele Elemente doch wie logisch ineinanderfügen), so kurios ist auch seine Rezeptionsgeschichte beim Rezensenten, der 1992 in der Bravo (!) über eine Rezension des "Aufgeign statt niederschiassn"-Albums (auf dem "Koa Hiatamadl" enthalten ist) stolperte, aber sich dann erst 2007/2008, angeregt durch Kollege Mario Stark, intensiver mit dem Schaffen Goiserns auseinanderzusetzen begann. Musikweltenwanderer werden den Künstler aber möglicherweise die ganze Zeit hindurch begleitet haben, und Flieher ist offensichtlich einer davon - mit Schlüsselerlebnis scheinbar am 4. Juli 1992 in der Turnhalle von Rußbach beim Alpinkatzen-Konzert, zu dem ihn eigentlich eher eine Frau namens Katrin "genötigt" hatte. Das wußte schon Juliane Werding: "Niemand ahnt es, wie der Würfel fällt,/doch nichts geschieht durch Zufall auf der Welt."
Die Essays sind nicht ganz chronologisch angeordnet, die Ereignisse dahinter auch nicht, aber das Bild rundet sich an den richtigen Stellen dennoch. Flieher hat die Texte im Nachgang offensichtlich nicht noch einmal überarbeitet oder zumindest nicht in allen Aspekten, ansonsten wäre er beispielsweise sicherlich darauf eingegangen, daß die Neuaufnahme von "Koa Hiatamadl" durch Zdob si Zdub, die Goisern auf einigen Dates seiner LinzEuropaTour begleitet haben, mittlerweile auf deren großartigem "Ethnomecanica"-Album erschienen ist (ein Dreivierteljahr vor Abschluß des Manuskriptes). Das ist überhaupt ein gutes Exempel: Goisern gibt Anstöße, andere Musiker führen seine Arbeit weiter (die Zdob si Zdub-Version des Songs erfindet den Alpen-Speedmetal). Goisern geht Wege, andere gehen mit ihm und biegen dann irgendwann einmal ab. Womit wir wieder beim Weg wären, der ein zentrales Element der Geschehnisse in diesem Buch ist. Natürlich geht es auch um Musik: Flieher beschreibt teilweise minutiös, wie bestimmte Elemente bestimmter Goisern-Arbeitsphasen zustandegekommen sind, und er ordnet mancherlei Geschehnisse auch in gesamtgesellschaftliche Kontexte ein, die außerhalb Österreichs manchem Leser sicherlich nicht sofort oder aber gar nicht verständlich sind. Einen breiten Raum nimmt beispielsweise die Waldheim-Affäre ein - in Deutschland hatte man mit der Bewältigung des nationalsozialistischen Erbes zwar ähnliche, aber aufgrund des typisch deutschen Zuges des Selbstmitleids doch irgendwie grundsätzlich anders gelagerte Probleme. Hier und da kann Flieher auch nicht aus seiner Position des Mitteleuropäers heraus und beginnt, von Einzelerscheinungen auf Gesamtheiten zu schließen. Das fällt vor allem gegen Ende auf, als er die seiner Meinung nach unterentwickelte Dienstleistungsgesellschaft in den postsowjetischen Ländern beschreibt - hätte er in einem anderen Hotel gewohnt, so hätte sein Tenor auch genau in die andere Richtung ausfallen können. Aber diese kleinen Risse regen eher zum intensiveren Beschäftigen mit dem Buch und idealerweise auch mit dem Schaffen Hubert von Goiserns selbst an. Interessanterweise fehlt die westafrikanische Geschichte, die Goisern selbst vor dem Song "Regen" beim Konzert am 8. August 2009 in Jena erzählt hat, im Buch ...

Bernhard Flieher: Weit, weit weg. Die Welt des Hubert von Goisern. St. Pölten/Salzburg: Residenz Verlag 2009. ISBN 978-3-7017-3135-0. 256 Seiten, broschiert. 19,90 Euro
 






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