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Dirkschneider, Anvil, Palace   11.03.2016   Leipzig, Hellraiser
von rls

Der Palast ist bereits wieder abgerissen, als der Rezensent mit knapp 40minütiger Verspätung im Hellraiser eintrifft - die Speyerer Accept-Soundalikes haben also offenbar pünktlich oder gar vorfristig begonnen und jedenfalls nicht allzulange musiziert. Nach geraumer Zeit steigen Anvil auf die Bühne und spielen eine interessant strukturierte Setlist, die zwischen 1983 und 2011 eine Lücke aufweist - die elf Songs stammen von den drei ersten und den drei letzten Alben der Band. Jawohl, "drei ersten" ist richtig: Mit "Oooh Baby" buddeln Anvil sogar einen Song vom Debütalbum "Hard'N'Heavy" aus, und der ist nicht mal schlecht. Die vier Beiträge von den jüngsten drei Alben haben hingegen ihre Wahl überwiegend nach strukturellen Besonderheiten erfahren, sollen also Elemente hinzufügen, die es im restlichen Set so nicht gibt: "Badass Rock'n'Roll" von "Hope In Hell" (2013) die schon titelseitig versprochenen musikalischen Neigungen, "Swing Thing" von "Juggernaut Of Justice" (2011) ein zumindest phasenweise etwas lockereres Instrumental als das als Intro gespielte "March Of The Crabs" und "Zombie Apocalypse" vom neuen Album "Anvil Is Anvil" doomige Kriechgeschwindigkeit, die nur leider demonstriert, daß Anvil eben keine Doomband sind und vom Grat zwischen Düsternis und Langatmigkeit in die falsche Richtung stürzen. Nur das kurze flotte "Die For A Lie", ebenfalls vom programmatisch betitelten neuen Album, unterstützt die Argumentation nicht, ist aber dafür einer der wenigen Songs, bei denen man das Fehlen einer zweiten Gitarre live nicht als Makel empfindet. Es mag unpopulär klingen, aber Anvil als Trio funktionieren nach Meinung des Rezensenten live nicht, da man stets das Gefühl nicht loswird, zwischen Lips' Gitarre und dem Baßspiel seines Adlatus fehle ein verbindendes Element, das auch von Reiners Drumming nicht eingebracht wird, obwohl oder vielleicht auch weil der Sound gut genug ist, alle Instrumente gut durchhören zu können. Diese Meinung teilt offenbar ein guter Teil der Anwesenden im ausverkauften Hellraiser - der Applaus für die Kanadier bleibt mäßig, und das ist angesichts des Legendenstatus der Band schon fast als Abstrafung zu werten. Kudlow strahlt trotzdem wie ein Honigkuchenpferd und läßt sich die gute Laune nicht nehmen - daß er stimmlich allerdings auch nicht gerade in Hochform ist, läßt sich nicht überhören. Von den alten Songs überzeugen die beiden von "Forged In Fire" am meisten: das schnelle "Winged Assassins" und die Lemmy gewidmete Hymne "Free As The Wind". In "Mothra" packt der Gitarrist auch wieder den Vibrator als Tonabnehmer aus, aber diverse der Soloeinlagen geraten viel zu langatmig und unterstützen den Gesamteindruck eines nur mäßig starken Gigs, der wie gewohnt mit "Metal On Metal" abgeschlossen wird, das noch einmal für größere Begeisterung sorgt, die aber schnell abebbt, und es fordert auch niemand eine Zugabe ein.
Setlist Anvil:
March Of The Crabs
666
Oooh Baby
Badass Rock'n'Roll
Winged Assassins
Free As The Wind
Zombie Apocalypse
Mothra
Swing Thing
Die For A Lie
Metal On Metal

Udo Dirkschneider hatte sich, nachdem er auf der 2015er U.D.O.-Tour zumindest im Hauptset komplett auf Accept-Nummern verzichtet hatte, entschieden, anno 2016 im Fast-Umkehr-Prinzip noch einmal eine Tour ausschließlich mit Accept-Material zu bestreiten, die Tour unter das Motto "Back To The Roots" zu stellen und sie als letztmalige Darbietung dieses Materials aus seiner Kehle zu deklarieren. Die Zukunft wird zeigen, ob es einen Rücktritt vom Rücktritt geben wird - spannender war im Vorfeld die Frage, wer denn bei Dirkschneider (unter diesem Namen firmiert die Band für diese Tour, denn man könnte ja schlecht U.D.O. drüberschreiben und dann aber gar kein U.D.O.-Material spielen) nun eigentlich dabei ist und ob z.B. Stefan Kaufmann gesundheitlich fit genug ist, um zumindest für diese Tour noch einmal an die Gitarre zurückzukehren. Die Antwort auf letztere Frage, falls sie sich in praxi überhaupt gestellt hatte, lautet Nein: Dirkschneider sind personell mit den 2015er U.D.O. identisch, mit Ausnahme des Keyboarders, denn eines solchen bedarf das alte Accept-Material bekanntlich nicht, und so steht kein Sextett auf der Bühne, sondern nur ein Quintett, von dem immerhin zwei Leute mit Nachnamen Dirkschneider heißen - am Schlagzeug findet sich Udos Sohn Sven, und weitergehende Spekulationen, ob vielleicht auch Udos kleiner Bruder Peter (den die Szeneexperten z.B. von Vanize kennen) irgendwie involviert sein könnte, finden keine Bestätigung.
Der einleitende Showaufbau nährt jedenfalls erstmal Befürchtungen, die Langatmigkeit von Anvil setze sich fort: Nach dem vom Band eingespielten (und voll ausgespielten) Ted-Lewis-Swing "Just A Gigolo" (in der Fassung von Louis Prima, nicht in der in Rock-Kreisen geläufigeren von David Lee Roth) kommt nämlich noch ein weiteres, diesmal orchestral-geräuschhaftes Intro, das die schon durch die Gigolo-Länge überstrapazierte Spannung eher dämpft als befördert, bevor es endlich mit "Starlight" losgeht. In der Folge entwickelt sich allerdings ein ausgesprochen unterhaltsamer Gig, der neben zu erwartenden Standards auch die eine oder andere Überraschung ausgräbt, etwa "Midnight Mover" vom "Metal Heart"-Album oder das andere Mitternachtslied, nämlich "Midnight Highway" vom "Breaker"-Durchbruchsalbum. "Restless And Wild" und "Son Of A Bitch" werden als eine Art Medley zusammengefaßt, und "Neon Nights" und "Princess Of The Dawn" (trotz des einen verbindenden Gitarrenlaufs) unmittelbar hintereinander zu spielen muß man sich von der Setdramaturgie her (beide sind bekanntlich eher schleppend orientierte Hymnen) auch erstmal trauen. Das Quintett wagt es und gewinnt - dieses gigantische Doppel wird zum ersten ganz großen Höhepunkt des Sets, der freilich auch zuvor schnell Fahrt aufgenommen hatte. Für "Winterdreams" hat zwar die Aussage aus dem damaligen Review im RockHard, daß es, würde es in Deutsch gesungen, auch in Dieter Thomas Hecks ZDF-Hitparade dargeboten werden könnte, zumindest in der Darbietung dieses Abends durchaus Gültigkeit, aber es bleibt der einzige Langweiler in der Setlist, womit nicht gesagt sei, es gäbe keine guten Balladen in der Accept-Historie. Aber die ersten beiden Alben ("Seawinds", "The King"!) bleiben in der Setlist unberücksichtigt und die drei der zweiten Dirkschneider-Accept-Ära ("Amamos La Vida", "Crossroads"!) auch (die gesangliche Rolle von Peter Baltes hätte durchaus von einem der drei derzeit bühnenaktiven Saitenartisten, die allesamt Backingvocals beisteuern, übernommen werden können), und bis kurz vor Ende des regulären Sets sieht es zudem so aus, daß die Setwahlannalen 1985 geschlossen worden sind, bis "Monsterman" und "TV War" auch noch das starke "Russian Roulette"-Album von 1986 zu seinem Recht bringen, wohingegen das Experiment, vielleicht auch noch "Generation Clash" in Analogie zum "Death Row"-Werk wieder auszubuddeln, wie erwähnt ausbleibt. Die Stimmung im Saal ist insgesamt gut, aber bis zur großen Überschwenglichkeit bleiben doch noch ein paar Stufen zurückzulegen - am Sound liegt's nicht, denn der ist schön klar und läßt in puncto Detaildurchhörfähigkeit wenig Wünsche offen. Daß die Instrumentalisten perfekt eingespielt sind, war bereits 2015 feststellbar gewesen, und auch 2016 spielen Smirnow/Heikkinen die Vorlagen von Hoffmann/Fischer perfekt, wenngleich nicht ganz sklavisch, sondern hier und da durchaus auch mit Akzentverlagerungen nach, während Wienhold ein solides Baßfundament legt, wie er das ja bereits seit der U.D.O.-Wiederbelebung anno 1997 tut, und Dirkschneider junior am Schlagzeug sich mittlerweile noch etwas stärker in den traditionellen Background eingefuchst hat. Bleibt Mr. Udo selber - und auch er wiederholt seine starke Leistung von 2015, kreischt in "Starlight" gleich an seinem heutigen Limit, ist aber klug genug, das im Verlaufe der zwei Stunden nicht zu oft zu tun, sondern sich auf das zu konzentrieren, was er mit seiner Mittsechziger-Stimme problemlos erreicht (und das ist durchaus nicht wenig!). Der Unterhaltungswert nimmt also durchaus ein hohes Niveau an, der Nostalgiewert sowieso, und vielleicht ist's die gewisse drangvolle Enge im Saal, die die Stimmung etwas drückt (man muß phasenweise durchaus aufpassen, wenn man die Hände zum Mitklatschen nach oben reckt, daß man während der Nach-oben-Bewegung seinem Nebenmann oder seiner Nebenfrau nicht die Ellenbogen ins Gesicht rammt, und Headbangen ist erst gegen Setende drin, als diverse Besucher (vor allem geringerer Körpergröße) bereits abgewandert sind. Selbiges Setende besteht aus fünf Zugaben, deren letzte nicht etwa das traditionelle "Balls To The Wall" darstellt - es kommt noch "Burning" hinterher, das dann die Klassikerwertung endgültig gewinnt, selbst wenn als Outro Frank Sinatras "My Way" vom Band kommt und nicht "Bound To Fail". Immerhin repräsentiert "My Way" prima Udo Dirkschneiders Selbstverständnis, und als bei seiner Ankündigung gleich vor "Flash Rockin' Man", daß es dieses Material an diesem Abend zum letzten Mal von ihm zu hören gäbe, die Stimmung im Saal in die Hosentasche rutscht, versucht er das mit dem Hinweis, es gebe ja da noch "diese andere Band", wieder zu beheben, bevor er sinnvollerweise die Musik Taten sprechen läßt. Und solange "diese andere Band" live auch noch in bestechender Form ist, wie man sich ebenfalls in Leipzig anno 2015 überzeugen konnte, kann der Fan ja in Zukunft wählen, ob er Accept-Songs mit der heutigen Accept-Besetzung oder U.D.O.-Songs mit U.D.O. hören möchte (oder beides), wobei ein Rücktritt vom Rücktritt, wie wir keineswegs erst seit den Scorpions wissen, ja durchaus nicht auszuschließen ist.
Setlist Dirkschneider:
Just A Gigolo (Intro)
Starlight
Living For Tonite
Flash Rockin' Man
London Leatherboys
Midnight Mover
Breaker
Head Over Heels
Neon Nights
Princess Of The Dawn
Winterdreams
Restless And Wild/Son Of A Bitch
Up To The Limit
Wrong Is Right
Midnight Highway
Screaming For A Love-Bite
Monsterman
TV War
Losers And Winners
---
Metal Heart
I'm A Rebel
Fast As A Shark
Balls To The Wall
Burning
My Way (Outro)



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