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Disillusion, Agrypnie, Dioramic   04.03.2011   Leipzig, Moritzbastei
von rls

Bildete der Leipzig-Gig im April 2010 erstmal wieder ein "Hallo, uns gibt's noch"-Signal Disillusions an die immer noch zahlreiche Anhängerschaft, ergänzt durch das Signal "Wir haben endlich einen halbwegs festen Bassisten", so sollten die folgenden Monate nicht unbedingt geradlinig verlaufen, und letztendlich räumte Gitarrist Rajk Barthel seine Position, die er immerhin ein gutes Jahrzehnt lang eingenommen hatte. Der Gig im März 2011 nun stellte die vorläufige (und vielleicht/hoffentlich längerfristige) Lösung dieses Stellenproblems vor.
Zunächst standen allerdings Dioramic auf der Bühne und beschallten die gut gefüllte Veranstaltungstonne der Moritzbastei mit einer relativ eigentümlichen Sorte Postrock, den man auch als Alternative Black Metal hätte kategorisieren können - immerhin spielte Quorthon solche schrammeligen Gitarren schon auf "Hammerheart". Dioramic holten aus ihrer Quartettbesetzung das Maximale an Effektivität heraus, indem die drei Sänger alle auch ein Instrument spielten, wobei der Gitarrist für den Löwenanteil der Vocals zuständig war, nämlich die gekreischten und einen Gutteil der cleanen, während der Bassist weitere cleane Teile und tiefes Gebrüll beisteuerte und der Keyboarder den letzten cleanen Bestandteil in die bisweilen auch tatsächlich dreistimmigen Vokalarrangements einwarf. Freilich mußte man sich längere Zeit doch ziemlich anstrengen, die Feinheiten wahrzunehmen, da der Sound zwar nicht überlaut, aber doch etwas verwaschen aus den Boxen drang, was sich nur schrittweise bessern, im hinteren Drittel dann aber zu einem richtig guten transparenten Klanggewand führen sollte, wonach man den Keyboarder dann auch tatsächlich singen und seine Tasten drücken hörte. In paralleler Relation stiegen auch die Publikumsreaktionen immer mehr an - der vorher wohl kaum jemandem bekannten Band begegnete man anfangs interessiert, aber distanziert, doch das Quartett schaffte es, sich die Anwesenden Schritt für Schritt zu erspielen und mit einer Schar neuer Fans im Gepäck die Dreiviertelstunde unter lauten, aber zeitmanagementshalber nicht erfüllbaren Zugabeforderungen zu beenden. Erwähnenswert wären das postrocktypische wilde Psycho-Gepose des Gitarristen, wenn er gerade mal nicht zu singen hatte, das geschickte Händchen beim Arrangieren der Songs (wenngleich wirkliche "Hits" noch nicht auszumachen waren) und der trockene Humor der Band, der sich sowohl in den Ansagen ("Wir kommen von einem fernen Stern, er heißt Uaaah Urgh Aaargh") als auch in der Tatsache, daß der Keyboarder in den Applaus des Publikums hinein phasenweise noch wildes Teeniegekreisch einsampelte, manifestierte. Guter Gig und zweifellos eine positive Überraschung!
Agrypnie spielten auch eine Dreiviertelstunde, aber in der brachten sie gerade mal sechs Songs unter. Komme jetzt freilich niemand und vermute Doom - schon Nocte Obducta, die Ex-Band von Agrypnie-Sänger Torsten, hatten einen Hang zu überlangen, ausladend inszenierten Kompositionen, und diese Neigung hat der Vokalist, obwohl er nicht Hauptsongwriter bei Nocte Obducta war, jetzt offensichtlich zu Agrypnie mitgenommen, ebenso wie die Vorliebe für deutsche Texte, von denen freilich an diesem Abend nur Fragmente zu verstehen waren, was einerseits am Sound, der wieder mal längere Anlaufzeit brauchte, um halbwegs klar zu werden, andererseits an der kreischenden, wenngleich nur mäßig extremen und durchaus um eine gewisse Deutlichkeit bemühten Artikulation lag. Vom Songwriting her packten Agrypnie alles in die Kompositionen, was ihnen passend erschien, und mit dieser Strategie, die ein zwischen sanften Akustikparts und wildem Black Metal-Getrümmer samt mannigfacher Zwischenstufen changierendes Ergebnis erbrachte, fuhren sie durchaus nicht schlecht, wenngleich es an diesem Abend besonders die Ruhepole waren, die einen tiefen Eindruck hinterließen, etwa gleich einer im Opener oder dann ein sehr lange ausgespielter ruhiger Part mit bis zu vier Melodiestimmen (Torsten griff hier noch zu einer dritten Gitarre) in einem Instrumentalstück an Setposition 5. "Morgen" widmete man einem gewissen Niko, der im Publikum anwesend war, und auf die Homogenität der metallischen Optik muß auch noch hingewiesen werden: Den einzigen Kurzhaarigen der Band hatte man hinters Drumkit "verbannt", die vierköpfige Frontreihe bestand ausschließlich aus Langhaarigen, die auch fleißig bangten. Ist ja heute keineswegs selbstverständlich ... Da auch Agrypnie zeitbedingt keine Zugabe eingeräumt werden konnte, forderte Torsten augenzwinkernd das Publikum auf, schon vor dem letzten Song Zugabeforderungen zu intonieren, und dem kamen die gut gelaunten Anwesenden auch gerne nach.
Disillusion hatten einige Wochen vor dem Gig angekündigt, daß man auch schon etwas neues Material, das derzeit für das nächste Album im Entstehen ist, live antesten wolle, aber am Tag vor dem Konzert kam die Meldung, daß man diese Idee wieder verworfen habe und das neue Material lieber doch noch etwas reifen lassen wolle. Die Gelegenheit, statt dessen beispielsweise "Russian Roulette" zu "disillusionieren", blieb zumindest an diesem Abend aber auch ungenutzt. Selbiger Song stammt im Original von Nitrolyt, und deren ehemaligen Gitarristen und Chefdenker Sebastian Hupfer haben Disillusion mittlerweile auf der Position des zweiten Gitarristen mit umfangreicher Leadverpflichtung stehen. Der Gig in der Moritzbastei stellte nun die Feuertaufe dieser neuen Besetzung dar, und Bandkopf Andy Schmidt gestand dann auch in seiner Eingangsansage (die er ganz unprätentiös anstelle eines Intros hielt), daß man fürchterlich nervös sei. Nun, im musikalischen Sinne sollte es, so konnte man nach dem 70minütigen Gig konstatieren, wenig Gründe für Nervositätsanfälle geben - spielerisch klappte nämlich durchaus sehr viel, soweit man das denn akustisch wahrnehmen konnte. Auch Disillusion hatten zeitweise nämlich mit argen Soundproblemen zu kämpfen, speziell mit zyklisch auftretenden Gesangsrückkopplungen auf der Bühne, die über den ganzen Gig erhalten bleiben sollten, wobei kurioserweise vor der Bühne der Gesang weitgehend problemlos zu vernehmen war und so auch Andys leicht genervter Kommentar in "Gloria", die Gesangsanlage sei jetzt komplett aus, über ebenjene Gesangsanlage munter nach draußen getragen wurde. Aber generell schien der Sänger/Gitarrist den Gig in der neuen Besetzung durchaus genossen zu haben - so über die Bühne springend und mit der Gitarre posend hat man ihn jedenfalls selten gesehen. Umgekehrt hielt sich Sebastian, bei Nitrolyt bekanntlich eher clownesk veranlagt, mit Bühnenakrobatik etwas zurück (er hat scheinbar sozusagen einen Teil seiner diesbezüglichen Neigungen an Andy transferiert) und konzentrierte sich eher auf sein Gitarrenspiel, das ja nun auch nicht gerade wenig an Herausforderungen beinhaltet. Wie gut er aber trotz seines Status als Nur-Live-Gitarrist schon in die Band integriert ist, bewies etwa "Dread It" an Songposition 3, wo er sich auch gleich mal nach vorn stellte und das Publikum zum Mitklatschen animierte. Bassist Matthias am rechten Bühnenrand wirkte da fast reservierter bis distanzierter, obwohl auch er natürlich spielerisch auf der Höhe des Geschehens agierte. So ganz zufrieden war der sehr selbstkritische Andy, wie er vor der Zugabe äußerte, mit dem Gig keineswegs, was das Publikum freilich anders sah - es hat sich zu überwiegenden Teilen mittlerweile übrigens auch mit dem sperrigen "Gloria"-Material arrangiert, wenngleich den stärksten Jubel natürlich immer noch der viertelstündige Titeltrack von "Back To Times Of Splendour" auslöste - zu Recht übrigens, denn es handelt sich immer noch um eine der aufregendsten Kompositionen der metallischen Neuzeit. Gleich danach lauerte die große Überraschung des Sets: Wer hätte ernstlich mit "A Day By The Lake" in der Setlist gerechnet? Würde ich bei passender Gelegenheit übrigens gerne nochmal mit etwas klarerem Sound hören. Business as usual dagegen zum Setschluß: "Gloria" schloß den regulären Set ab, "Don't Go Any Further" bildete die Zugabe, nach der das Publikum in der sicheren Annahme, hier eine starke und zukunftsfähige Disillusion-Besetzung gesehen zu haben, die Tonne verließ.

Setlist Disillusion:
And The Mirror Cracked
Too Many Broken Cease Fires
Dread It
The Black Sea
Alone I Stand In Fires
The Hole We Are In
Save The Past
Back To Times Of Splendour
A Day By The Lake
Gloria
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Don't Go Any Further



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