www.Crossover-agm.de
Nena, Aviv Geffen   20.04.2010   Leipzig, Arena
von rls

Die alte deutsche Garde kann's immer noch: Die Münchener Freiheit erlebt seit Jahren einen neuen Frühling, Udo Lindenberg hat 2008 mit "Stark wie zwei" ein Album vorgelegt, das, ähem, stark wie zwei ausgefallen ist, und nun greift auch Nena wieder ins Geschehen ein. Das 2009 erschienene und programmatisch betitelte "Made in Germany"-Album ist keine Livescheibe, wie man als Deep Purple-Fan vielleicht vermuten könnte ("Made In Japan", "Made In Europe" ...), sondern ein ähnlich strukturiertes Studiodokument wie "Eigene Wege" der Münchener Freiheit aus dem gleichen Jahr: Songs, die überwiegend schon in den Achtzigern hätten geschrieben worden sein können, aber die seitdem vergangene Reifezeit und Erfahrungszunahme nicht verhehlen können, ohne deshalb altersschwach zu sein - ein stolzes Bekenntnis zu den Achtziger-Wurzeln, ohne die diversen (aus heutiger Sicht) Peinlichkeiten dieser Periode zwingend mit reproduzieren zu müssen. Nun war Nena ähnlich wie die Münchener Freiheit nie ganz weg vom Fenster, sondern nur mal ein Stück weit abgetaucht - trotzdem verwundert es, daß sie in Leipzig die Arena gebucht hat, und deren hintere Hälfte ist denn auch nur locker bestanden bis ganz leer. Aber für die riesige Bühne hätte es in Leipzig außer einer der alten Messehallen (die allerdings irre schwer zu beschallen sind - an das Metallica-Desaster von 1996 in der Messehalle 7 erinnert sich der Rezensent heute noch mit Grausen) keinen geeigneten Platz gegeben, und 5000 Leute, die es dann doch gewesen sein sollen, muß man auch erstmal irgendwo unterbringen.
Diese 5000 Leute (biologische Zusammensetzung: überwiegend Pärchenbetrieb aller Alterskategorien sowie Mutter-Tochter-Konstellationen) müssen nun erstmal Aviv Geffen als Support überstehen, der offenbar pünktlich 20 Uhr den Startschuß zur Show gibt - der Rezensent betritt 20.03 Uhr den Arena-Innenraum und bekommt gerade noch die letzten Töne eines recht bombastisch anmutenden Intros mit. Aber das war es dann auch schon mit Bombast und großen Momenten für lange Zeit. Geffen, in seiner israelischen Heimat ein Superstar, dem die Leute problemlos "aus der Hand fressen", schafft es in Leipzig nicht, mehr als eine Handvoll Anwesende auf seine Seite zu ziehen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist der Sound zwar klar, aber irgendwie distanziert - er schleicht aus den Boxen, als käme er aus weiter Ferne. Zum zweiten wissen die Musiker offensichtlich nicht, was sie mit der riesigen Bühne anfangen sollen (sie spielen vor den Nena-Aufbauten, aber dort ist immer noch immens viel Platz), so daß sie einen fast gelangweilten Eindruck hinterlassen. Zum dritten begrüßt Geffen das Publikum erst nach dem dritten Song, was den Eindruck der Distanziertheit noch verstärkt, auch wenn er später durchaus gesprächig wird. Zum vierten fehlt ihm zumindest an diesem Abend das Gespür für Dramaturgie: Von den ersten sechs Songs sind gleich fünf nahezu im gleichen Beat gehalten und ähneln sich auch von den weiteren verwendeten musikalischen Mitteln her sehr; einzig das ruhige "Berlin" (erstaunlicherweise wird der hier auch zur Akustikgitarre greifende Sänger für diese Quasi-Liebeserklärung an die Hauptstadt und eine dort lebende Frau vom Leipziger Publikum nicht ausgepfiffen - Tip zur kulturhistorischen Einordnung dieses Einschubs: "Sing, mei Sachse, sing" von Jürgen Hart) bringt eine andere Farbe in den stromlinienförmigen Poprock Geffens und seiner vier Mitstreiter. Zum fünften schließlich, und das ist soeben bereits angeklungen, kann das Songmaterial nur teilweise überzeugen. Daß die beiden besten Songs des Neun-Song-Sets der siebente und der neunte sind und es sich dabei um "End Of The World" und "Cloudy Now" handelt, die beide aus dem Fundus von Blackfield, Geffens Projekt mit Steven Wilson von Porcupine Tree, stammen, spricht diesbezüglich Bände. Hier steckt eine gesunde Portion Dramatik drin, auch Epik, verbunden mit einprägsamen Passagen - anspruchsvolle Hits sozusagen, die den Rest der insgesamt 35 Minuten deutlich überstrahlen, aber die verbrannten Kastanien auch nicht mehr aus dem Feuer holen können. Schade drum.
Nena startet um 21.03 Uhr in ihren Set, und schnell wird klar, daß "Klotzen statt Kleckern" als Motto ausgegeben worden ist. Das betrifft schon die riesige Bühne mit drei geräumigen Freitreppen, ganz besonders aber die Lichtshow - die aufwendigste, die der Rezensent in den letzten Jahren gesehen hat, und er war auf Hunderten von Konzerten. Dabei schafft es die Lichttechnikfraktion, das Ganze nicht überladen wirken zu lassen, also nicht die Zuschauer mit Stroboskopbündeln niederzumähen, sondern eine Art Effektivitätsmaximum anzustreben und das über weite Strecken auch zu erreichen. Auch beim Bühnenpersonal schöpft Nena aus dem Vollen: Zehn weitere Musiker agieren neben ihr, darunter gleich drei Gitarristen (wenngleich der dritte nur bei einer Handvoll Songs zum Einsatz kommt), zwei Keyboarder, die hinter einer riesigen "Burg" thronen, ein Bassist, ein Schlagzeuger und drei Backingsänger, wobei sich die doppelt besetzte weibliche Fraktion aus Nenas Töchtern rekrutiert, die auch noch optisch etwas an ihre Mutter in jungen Jahren erinnern, während das männliche Backingdrittel die längsten Haare aller Bühnenaktiven vorweisen kann und eine eher sanfte Tenorstimme ins Feld führt, mit der er auch etliche Duette mit seiner "Chefin" bestreitet. Aber natürlich würde alles diesbezügliche Volumen nichts nützen, wenn das Ganze musikalisch nicht stimmen würde. Zum Glück gibt es an dem fast zweieinhalbstündigen Set (auch daran sollte sich mancher Musiker, der halb so alt ist wie Nena, aber dafür nur ein Viertel so lange Headlinersets spielt, ein Beispiel nehmen!) auch in dieser Hinsicht wenig auszusetzen, wenn man nicht mit der Erwartungshaltung herangegangen ist, daß die alten Hits möglichst komplett den früheren Fassungen entsprechen. Dann nämlich könnte man durchaus enttäuscht sein: Zwar bleiben die Grundstrukturen bis auf ein hier und da vielleicht etwas ausgebautes Solo oder einige eingeflochtene Mitsingparts unangetastet, aber allein schon durch die Liveband entsteht ein lebendiger, zumeist recht warmer und organischer Sound, der mit den 80er-Plastikproduktionen so gar nichts zu tun hat und, wenn er denn mal auf diesen Altsound zurückgreift, dies als bewußt eingesetztes Stilmittel verstanden haben möchte. Und mit einem etwas gestiegenen Rockfaktor muß man als Altfan auch leben. Der einzige der alten Hits, der sich diesbezüglich etwas zurücknimmt, ist "99 Luftballons", und er wirkt somit fast anachronistisch, will nicht so richtig in den Setrest passen, kommt einem wie eine lästige Pflichtübung vor (ein ähnliches Phänomen konnte man knapp zwei Monate zuvor bei Lynyrd Skynyrd feststellen, als "Sweet Home Alabama" auch ziemlich badenging, weil es "altertümlich" daherkam und vom Setrest deutlich überstrahlt wurde). Mangelndes Selbstbewußtsein muß sich Nena auch nicht vorwerfen lassen: Von den 24 Songs, die die vorab schon auf www.nena.de veröffentlichte Setlist ausweist, stammen gleich elf vom "Made In Germany"-Album (das ist bis auf zwei Songs die komplette neue Scheibe!), und die fügen sich perfekt ins Gesamtbild ein, ja üben an vielen Stellen beinahe stärkere Reize aus als mancher der älteren Tracks. Nur ein Block in der Setmitte wirft eher Fragezeichen auf - nicht die nach dem gleichnamigen Song, der da schon verklungen ist, sondern andere: War die zeitgeistige Anbiederung in Gestalt des dominanten, hektisch-nervös wirkenden Elektronikfaktors bei "Willst du mit mir gehn" und "Sheriff" wirklich nötig? Mit solchen "Zwangsverjüngungen" hat die Münchener Freiheit auch schon mal Schiffbruch erlitten. Wie man die Elektroelemente und vor allem die Nervosität sinnvoll als Stilmittel einsetzen kann, beweist gleich danach "Ich bin hyperaktiv", einer der neuen Songs, der nach der kurzen Durststrecke die Wende zum Besseren einleitet und nach dem nur wie beschrieben die Luftballons noch ein wenig nach unten hin abfallen. Qualitätsmaßstäbe nach oben hat zuvor schon der Einstieg mit den beiden Neulingen "Made in Germany" und "SchönSchönSchön" sowie dem Uralthit "Nur geträumt" gesetzt, und "Wunder gescheh'n" hätte an fünfter Setposition für lange Zeit den emotionalen Höhepunkt markieren können, wenn da von der Bühne aus nicht im Schlußteil die Aufforderung zum Mitklatschen im doppelten Grundbeattempo gekommen wäre, die die eskapistische Stimmung wie eine Seifenblase zerplatzen läßt. "Tokyo" interpretiert eine Kleinbesetzung mit portablem Keyboard und Drumpad am vorderen Bühnenrand, und überhaupt muß mal die Flexibilität hervorgehoben werden: Nicht nur daß Nena ausschließlich erstklassige Musiker um sich geschart hat, es sind auch noch ein paar "Mehrzweckwaffen" dabei. Der Backingsänger etwa wechselt für einen Song auch mal ans Drumkit, und der Zweitgitarrist entpuppt sich ebenfalls als äußerst fähiger Schlagzeuger, der gegen Setende sogar ein zweites Drumkit hingestellt bekommt und sich in bester Genesis-Manier ein Soloduell mit dem etatmäßigen Drummer liefert. Nena selbst ist für ihr Alter (selbiges darf man verraten, da es auch auf den während der Show durch die Halle fliegenden Luftballons zu lesen ist: 50) erstaunlich gut bei Stimme, auch wenn sie hier und da akustisch von ihren Töchtern gestützt wird - sie baut aber auch zum Ende des langen Sets hin nicht ab. Apropos Ende: Nach den Ballons nimmt die Band das Tempo schrittweise immer weiter heraus und verlegt sich auf episch-breite Rocknummern mit gelegentlichen halbballadesken Ausflügen, was man in dieser Form sicherlich auch nicht erwarten hätte können. Nur "Irgendwie Irgendwo Irgendwann" als zweiter Zugabensong schraubt das Tempo noch einmal nach oben, bevor sich "Der Anfang" als der eigentliche Knüller des Sets entpuppt und die episch-rockende Ausrichtung mit einer geschickten Kombination aus verstromten und unverstromten Parts in Überlänge auf eine nicht mehr zu übertreffende Spitze treibt. Ein perfekter Ausklang eines sehr starken Konzertes, das sicher auch in der Endabrechnung des Konzertjahres 2010 einen der vorderen Plätze belegen wird.

Setlist:
Made in Germany
SchönSchönSchön
Nur geträumt
Lass die Leinen los
Wunder gescheh'n
Geheimnis
Wir sind wahr
Fragezeichen
Tokyo
Liebe ist
Du bist so gut für mich
Willst du mit mir gehn
Sheriff
Ich bin hyperaktiv
Ganz viel Zeit
99 Luftballons
Leuchtturm
Du hast dich entschieden
Heute hab ich die Sonne mit dem Mond verwechselt
Schmerzen
In meinem Leben
---
Nachts wenn es warm ist
Irgendwie Irgendwo Irgendwann
Der Anfang



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver