www.Crossover-agm.de
44 Leningrad   06.02.2010   Leipzig, Superkronik
von rls

Eigentlich stimmt das Datum in der Überschrift nicht - 07.02.2010 wäre in strenger Befolgung des gängigen gregorianischen Kalenders korrekter gewesen: Obwohl die Konzertankündigung den 06.02. ausweist, erklingt nämlich erst um Punkt Mitternacht die russische Nationalhymne als Intro des Konzertes (also zu einer Zeit, als im Deutschlandfunk die deutsche und die europäische Hymne gerade verklungen sind), der sich paradoxerweise ein zweites Intro anschließt, nämlich das russische Kriegslied "Swjaschtschennaja Woina", und das auch noch mit vier Strophen. Paradox genug war schon zuvor das Zeitmanagement: Der Rezensent ist viel zu früh da, die irgendwo zu lesen gewesenen 21 Uhr sind völlig irreal. Als die Kopfzahl des Publikums nicht mehr an den Fingern einer Hand abzuzählen ist, beginnt DJ Balkan Express irgendwann vor 22 Uhr mit dem Auflegen diverser osteuropäischer Popmusik, die den Rezensenten zumindest nicht beim Lesen der zwei Bücher, die er vorsorglich mitgebracht hat, stört. Erst in der letzten Stunde des Tages beginnt das Publikum etwas dichter einzutröpfeln, kurz vor Mitternacht hat der Rezensent das zweite Buch fertiggelesen, und dann startet das Konzert wie oben beschrieben. Der Kenner 44 Leningrads bemerkt eine Veränderung im Bandgefüge: Die Truppe ist ihres Trompeters verlustig gegangen und agiert in dieser Nacht daher nur als Quintett. Das könnte vielleicht manchen Altfan etwas verstört haben - der Rezensent, der die Band zum ersten Mal live sieht, ist darüber aber alles andere als böse, und das aus zwei Gründen: Erstens funktionieren die Arrangements offensichtlich auch in der dargebotenen Form ohne Trompete, und zweitens ist der Gesamtsound angenehm klar und zudem nicht überlaut, woran eine zusätzlich abzumischende Trompete möglicherweise in negativer Richtung etwas hätte ändern können. Einzig Ullis Mikrofon hätte einen Tick lauter eingestellt sein dürfen, aber da sie sowieso fast nie Leadvocals singt, ist das nicht als existentielles Problem zu werten, und ihr Akkordeon hört man im gebührenden Maße durch. Interessanterweise verschwinden im Liveset dieser Nacht die Anklänge des französischen Chanson, die man auf "Don Kilianov" noch in beträchtlichem Maße hat feststellen können, fast vollständig und machen dem russischen Speedfolk Platz. Nach dem zweiten Intro eröffnen 44 Leningrad den Set mit dem "Geburtstagslied" von der genannten CD, die immer noch die aktuelle darstellt, und es dauert nicht mal eine Strophe, bis zwei Drittel des Publikums die auf dem Backdrop zu lesende Aufforderung "Stoi!" ignorieren und für die nächsten knapp zwei Stunden mehr oder weniger wilde Tanzbewegungen vollziehen. Zu diesen zwei Dritteln gehört paradoxerweise auch der Rezensent, der sonst eher der Beobachterfraktion (die das restliche Drittel darstellt) angehört, aber diesmal quasi nonstop das Tanzbein schwingt. Da stört es eigentlich auch herzlich wenig, daß der Set bei genauerer Betrachtung rhythmisch relativ unvariabel ausfällt - es gibt im Prinzip nur obere Midtempotanzlieder und schnelle Tanzlieder, alles nutzerfreundlich in geraden Taktarten gehalten und nur hier und da Aufmerksamkeit fordernd, wenn eine Generalpause oder ein Break ein kurzes Stillstehen, Faustrecken und Texthineinbrüllen nötig macht. Das mit den Texten ist freilich so eine Sache, denn dazu muß man der russischen Sprache kundig sein, in der gute Teile des Sets artikuliert werden - aber das hat man anhand der Studiofassungen ja eigentlich üben können. "Don Kilianov" stellt noch etliche andere Bestandteile der Setlist, etwa "Newa Ever", wo man in der Livefassung das im Review der Studiofassung gelobte Miteinander von Trompete, Balalaika und Akkordeon im Finale irgendwie überhaupt nicht vermißt. Um aber die Vielfalt der Studioalben live zumindest halbwegs umzusetzen, haben 44 Leningrad zwei Multiinstrumentalisten in der Band: Romuald Leonin spielt außer Baß auch noch Klarinette, und Chefdenker Theodor Dietmarjewitsch ergänzt seine Beschäftigung als Leadsänger bisweilen noch durch Akustikgitarre oder Baß und natürlich auch durch sein Signatureinstrument: Man hatte sich schon langsam zu wundern begonnen, warum die Truppe die riesige Baßbalalaika, die hinten links an der Bühnenwand steht, überhaupt mitgeschleppt hat - in der dritten Zugabe kommt sie dann endlich zum Einsatz. Selbige dritte Zugabe ist ein ausgedehntes Medley bekannter Gassenhauer meist, aber nicht nur sowjetischer Herkunft, von denen meist zwei Strophen eingewoben werden, mal mit Gesang, mal instrumental, beginnend mit "Partisanen vom Amur" und sich u.a. über "Unsterbliche Opfer" (in einer Speedversion), "Feindliche Stürme durchtoben die Lüfte" ("Warschawjanka") und (natürlich) "Katjuscha" bis hin zu Dschinghis Khans "Moskau" erstreckend und vom Publikum begeistert aufgenommen. Dessen eher übersichtliche Kopfzahl hat wenigstens den Vorteil, daß man in der nicht eben großen Lokalität überhaupt Platz zum Tanzen hat. Und für frenetische Zugabeforderungen nach schon im Hauptset prächtiger Stimmung reicht's natürlich allemal; belohnt wird man u.a. mit einer auch aus dem Repertoire der Leningrad Cowboys bekannten Polkamelodie. Nach dem erwähnten Medley kündigt Theodor an, das Publikum jetzt noch mit einem Schlaflied nach Hause schicken zu wollen - der spontane Wunsch des Rezensenten "Bajuschki Baju" ist's nicht, aber die gelungene jazzige Adaption des Sandmännchen-Themas geht als gelungener Ersatz durch und beendet knappe zwei Stunden hochgradig gelungener musikalischer Unterhaltung.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver