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Bach & Yin-Yang & Brahms   18.10.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Yin-Yang als Brücke von Bach zu Brahms? Und was verbirgt sich eigentlich hinter diesen Termini aus der klassischen chinesischen Philosophie? Sollte gar Yngwie Malmsteen gemeint sein? Der schwedische Metalgitarrist mit Faible für klassische wie neoklassische Elemente, der immerhin mit einem Prager Orchester schon ein Konzert für E-Gitarre und Orchester realisierte, wird ja bisweilen mit dem Spitznamen Yin-Yang belegt. Aber dieses Konzert muß noch auf eines der Folgeprojekte des Landesjugendorchesters Sachsen warten - das hier zu hörende 38. Projekt setzte das Konzert für Pipa und Streichorchester des in China geborenen, aber heute in den USA lebenden Komponisten Tan Dun als Klammer zwischen B&B. Den Eröffnungsteil bestritt allerdings Malmsteens erklärtes Idol Bach, wenngleich nicht ganz in Originalform: Leopold Stokowski hat mehrere Bachsche Tastenwerke für Orchester bearbeitet, so auch Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582. Entstanden ist ein höchst wirkungsvolles Werk, an diesem Spätnachmittag ebenso wirkungsvoll vom jungen Orchester unter dem sparsam, aber klar dirigierenden Milko Kersten umgesetzt. Wie es die Mitwirkenden schafften, trotz großer Orchesterbesetzung die Struktur des Originalwerkes transparent und erlebbar zu machen, das hatte schon etwas. Immerhin kann das Original aus biologischen Gründen im Regelfall nicht über die Zwölfstimmigkeit hinausgehen. Wie in der Orgel hat Stokowski die extremsten grollenden Passagen übrigens in die Posaunen gelegt, wobei die Kontrabässe auch anständig herumzudüstern haben. Kersten gelang ein stetig anschwellender Spannungsbogen mit einer Klimax ganz zum Schluß, und das, obwohl der Orchesterlärm die Pauken akustisch völlig ausschaltete.
Dann also Tan Dun, ein Komponist, den Cineasten von seiner Filmmusik für den Streifen "Tiger & Dragon" kennen, die ihm immerhin einen Oscar eingebracht hat. Das Konzert für Pipa und Orchester war ursprünglich ein reines chinesisches Kammerstück, bevor sich Tan Dun auch an die Erstellung einer Fassung für Pipa als Soloinstrument und Streichorchester machte. Die Pipa, soviel konnte man vorher ja schonmal im Netz recherchieren, ist ein gezupftes Saiteninstrument persischer und chinesischer Tradition, dessen europäischer Verwandter auf den Namen "Laute" hört. Die kleine, in ein leuchtend grünes Gewand gehüllte Solistin Zhou Yi (auch sie in China geboren und mittlerweile in den USA ansässig) entpuppte sich als Energiebündel mit äußerst dynamischem Spiel, was durchaus Schläge auf den Korpus des beim Spielen übrigens senkrecht gehaltenen Instrumentes als perkussives Element einschloß. Analoges hatten auch die Orchestermitglieder bisweilen in ihrer Partitur stehen, und sie durften auch noch andere Geräusche erzeugen - das eröffnende Andante molto begann beispielsweise mit einem kollektiven Stampfer, bevor sich wildes tiefenlastiges Geriffe breitmachte, das irgendwann in einen echten Kulturkampf mündete: westlich lärmende Tiefstreicher gegen elegant tanzende, melodisch asiatische Hochstreicher. Dazu hatten die 1. Violinen gelegentlich die Aufgabe bekommen, klanglich dem Soloinstrument so nahe wie möglich zu kommen - die jungen Sächsinnen und Sachsen um Lisa Kuhnert lösten diese Aufgabe in äußerst gekonnter Manier. Freilich hätte die Pipa diese Unterstützung nicht unbedingt nötig gehabt - ihr durchdringender Ton ließ sie auch in wilderen Orchesterpassagen nicht untergehen (ein angenehmer Unterschied beispielsweise zu Max Buttings "Sinfonietta mit Banjo" zwei Wochen zuvor in Dresden, wo man den Banjospieler zwar spielen sah, aber nur selten spielen hörte). Allerdings hat Tan Dun der Solistin auch ausreichende solistische Entfaltungsmöglichkeiten verschafft und dazu noch einige hübsche kammermusikalisch besetzte Parts, also nur Solistin plus jeweilige Stimmführer. Aber auch das Orchester kam zur Entfaltung, etwa in der fast venezianischen Harmonik des sehr zart anhebenden Adagios. Dazu traten dann wie gesagt noch ein paar sonderlich oder gar absonderlich anmutende Elemente: Hier und da hatten die Orchestermitglieder die Aufgabe, asiatisch klingende helle Gangshouts einzuwerfen. Den Verklingeffekt vor der großen Pipa-Kadenz wiederum konnte der Metalfan im Publikum kennen - er entsprach einer reziproken Struktur des Ausklangs von Sonata Arcticas "Weballergy"-Intro auf dem "Silence"-Album, wobei nicht anzunehmen ist, daß hier einer vom anderen abgeschaut hat. Ach ja, und daß das Orchester mitten in einer Kadenz des Soloinstrumentes plötzlich zu stimmen beginnt, war auch gelinde gesagt ungewöhnlich zu nennen. Wirbelnde Stimmungswechsel wogten durch den Saal, wobei die Strukturen immer irgendwie nachvollziehbar blieben und man auch Tan Duns westeuropäische Kontrapunktkenntnisse zum Positiven des Stückes eingesetzt fand. Ein letzter Gangshout leitete im Allegro vivace eine ruhig ausfadende Passage ein - über einem Teppichakkord spielte die Pipa einzelne letzte Töne unter absoluter Hochspannung, die sich in für die eher überschaubare Zuschauerzahl energischem Applaus entlud, so daß man die Solistin noch zu einer asiatisch klingenden Zugabe überreden konnte, übrigens einer anderen als am Vortag in Dresden. Die in Leipzig hieß übersetzt "White Snow in Early Spring" und stellte eine traditionelle Komposition aus der Zeit der Ming-Dynastie dar. Zur Beschreibung möge die Solistin selber zu Wort kommen: "This traditional piece can be traced to the Ming dynasty (1368-1644). The name of the piece comes from a Chinese idiom, meaning 'songs that appeal to the cultured elite.' Because of its various performing skills, it becomes a must-learn piece for every pipa player."
Vom Kontrapunkt hatte selbstredend auch Johannes Brahms Ahnung, aber seine 4. Sinfonie erlaubt im Schlußsatz, einem Allegro energico e passionato, noch einen ganz anderen Querverweis zum großen Sebastian, denn hier hat Brahms quasi ein Thema geschrieben und dann 30 Variationen zusammengestellt - also der sinfonische Bruder zu den Goldberg-Variationen. Bis dahin hat das Landesjugendorchester aber schon drei Sätze hinter sich, und der Hörer durfte erstaunt bemerken, daß Kersten und seine jungen Musiker vom oft zu lesenden kühl-ernsten, fast distanzierten Charakter des Werkes wenig zu halten schienen. Zwar verkannten sie nie die unterschwelligen oder auch auf dem Tablett servierten Ernsthaftigkeiten (etwa das schon im zweiten Blecheinsatz des ersten Satzes drohende Unheil), aber die dramatische Einleitung derart leichtfüßig zu überrennen hatte Charme. Zwar herrschte im folgenden bisweilen etwas zuviel Unordnung in mancher Steigerung, aber die gekonnte Herausarbeitung leichter Anflüge von Triumph etwa im Cellosolo machte das locker wieder wett. Das Andante moderato an zweiter Satzposition ließ die Erkenntnis zu, daß im Vergleich zum Frühjahrsprojekt 2009 die Hornfraktion entweder umbesetzt worden ist oder gewaltig an sich gearbeitet hat - damals eine ziemliche Quälerei im Mozart-Violinkonzert, diesmal schöne weiche Melancholie. Überhaupt gelang auch dieser Satz recht entspannt, die Celli sangen, und wenn es dann doch mal düster-dramatisch wurde, schaltete das Orchester gelungen auf entsprechenden Ausdruck um. Mit einem forschen Tempo machte der Dirigent auch im dritten Satz, einem Allegro giocoso, keine Gefangenen, zwischen bedrohlichen (doch!) und powernden Parts hin und her galoppierend und das Orchester zu großer Exaktheit in den Breaks zwingend. Das erwies sich als gute Schule für das erwähnte Variationswerk im vierten Satz - die Herausarbeitung der einzelnen Charaktere der Variationen saß, die Posaunen lieferten schöne Choräle, und nur ganz zum Schluß bekam der Affe dann zuviel Zucker, was sich in etwas überdosierter zackiger Hektik im Schlußpart niederschlug. Gemessen an der Gesamtleistung (kein Meilenstein, auch keine Entdeckung, aber doch sehr achtbar) marginalisierte sich dieses Problem aber, und das sah auch das Publikum so, welches das Orchester ohne eine Zugabe (das Vorspiel zum 3. Aufzug aus Wagners "Lohengrin") nicht nach China fliegen ließ, wo man als dritter sächsischer Kulturbotschafter innerhalb von nur vier Wochen (nach dem Rundfunk-Blasorchester Leipzig und dem Gewandhausorchester) gastiert und mit der Musikhochschule Wuhan einige gemeinsame Konzerte geben wird, u.a. mit der Brahms-Sinfonie und auch dem von den chinesischen Gastgebern explizit gewünschten Wagner-Werk, aber paradoxer- oder auch logischerweise nicht mit dem Pipa-Konzert Tan Duns.



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