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Gershwin-Konzert - und mehr!   04.10.2009   Dresden, Staatsoperette
von rls

Gemeinsam mit MDR Figaro nehmen die Klangkörper der Staatsoperette Dresden derzeit vergessene Kompositionen aus der Frühzeit des Rundfunks, die damals teilweise mit explizitem Blick auf die Möglichkeiten des neuen Mediums geschrieben wurden, neu auf und nutzen natürlich auch die Chance, diese live darzubieten. Aber ein ganzes Konzert mit solchen Werken würde die eigentliche Zielgruppe des Hauses wahlweise verschrecken oder gar nicht erst interessieren (ein bisweilen recht avantgardistischer Anspruch und die erwähnte Vergessenheit paaren sich diesbezüglich zu einem strukturell ungünstigen Cocktail). Was tun? Gut verpacken! Ergo steht an diesem Nachmittag ein Gershwin-Konzert auf dem Programm, und zwischen dessen drei Programmbeiträgen finden sich dann unter "und mehr!" zwei Rundfunkembryos. Ergo strömt die Zielgruppe an diesem eher aprilwettrigen Oktobersonntagnachmittag ins Haus nach Dresden-Leuben und verkauft dieses zwar nicht aus, füllt es aber doch ganz ordentlich.
Mit George Gershwins "Kubanischer Ouvertüre", seinem Souvenir eines Kubabesuches von 1932, geht das Konzert los. Die Anweisung des Komponisten, die zahlreichen Percussioninstrumente gleich vorn vor dem Dirigenten zu plazieren, ignoriert Ernst Theis, aber wenn das Orchester nicht gerade im Tutti spielt, hört man trotzdem genug von den Schlagwerken, welche die Komposition strukturell prägen. Dazu machen die Trompeten Mariachi-Druck, während die Soloklarinette eher einen gequälten Eindruck hinterläßt. Dafür entschädigen aber die fast westernkompatiblen Klänge im Mittelteil, auch der Triumphmarsch am Ende dieses Teils beunruhigt allenfalls Herrn Batista. Der Schlußteil ist im wesentlichen eine Wiederholung des Anfangsteils, aber das Orchester hat sich mittlerweile offenbar noch besser gefunden und musiziert etwas spritziger, und von dem Getrommel hört man jetzt auch im Tutti noch etwas. Dazu dirigiert Ernst Theis so energisch, daß ihm kurz vor Schluß sogar der Taktstock entgleitet.
Aber der Dirigent findet Stock und Fassung schnell wieder und überzeugt mit kenntnisreichen, aber trotzdem lockeren Moderationen zwischen den Stücken. "Wie klingt das, wenn ich das vor 80 Jahren über einen schlechten Rundfunkempfänger gehört hätte?" gibt er dem Publikum als gedankliche Höraufgabe für Max Buttings "Sinfonietta mit Banjo op. 37. 1. Rundfunkmusik für Orchester" aus dem Jahre 1929 mit. Nun, hinter dem Ofen hervorgelockt hätte das Stück wahrscheinlich damals niemanden, und manch einer mag verzweifelt am Radioapparat gekurbelt haben, wo denn das versprochene Banjo nun bleibt. In den ersten beiden Sätzen hört man es in tonaler Hinsicht nämlich überhaupt nicht durch und vernimmt nur bisweilen das typische kratzende Geräusch beim Spielen, das aber im Rauschen und Knistern der damaligen Apparate kaum auszumachen gewesen sein dürfte. Viel Erwähnenswertes passiert aber im eröffnenden Largo sowieso nicht, während das Adagio an zweiter Satzposition musikalisch wie strukturell deutlich interessanter ausfällt. Butting hat nämlich auf Kontrabässe verzichtet, weil die tiefen Frequenzen mit der damaligen Technik nur als Mulmteppich übertragbar waren - und trotzdem bekommt das Orchester einige schön grollende Momente hin (vor allem die Fagotte haben einiges an Arbeit zu leisten), wenngleich sich deren Abgründigkeit nur etwa auf dem Level der lichteren Mahler-Momente bewegt. Durch eine gelungene Kombination aus Spannung und Emotion besticht der Schluß dieses Satzes, und im dritten und letzten Satz, Allegro vivace überschrieben, sieht man dann den Banjospieler nicht nur spielen, sondern hört ihn bisweilen auch mal. Zwar herrscht kompositionsstrukturell hier wieder eher pseudospätromantische Konzeptionslosigkeit, aber das große Nichts läßt sich wegen des unverkennbaren Frischefaktors wenigstens gut hören, und einige Geistesblitze finden sich dann auch, etwa wenn die Saxophone epische Melodien über einen stoischen Beat legen dürfen oder die Drums stakkatohaft Tempo machen dürfen. Der Applaus für das Stück ist mehr als freundlich, aber er flaut auch schnell wieder ab.
Das zweite Gershwin-Stück wird noch vor der Pause serviert: die "Rhapsody in Blue" in der Fassung für Klavier und Jazz-Band von 1924. "Jazz-Band" ist dabei nicht mit dem zu vergleichen, was man heute unter diesem Terminus versteht (also drei bis sechs Leute), sondern als Bigband von 20 bis 30 Mann, ergo schon kleinere Orchesterstärke, aber gegenüber der Fassung für großes Orchester aus dem Jahre 1942 immer noch deutlich leichtfüßiger. Freilich hat das Klavier schon in dieser Fassung einige Durchsetzungsprobleme gegenüber lauteren Orchesterpassagen, obwohl sich Roland Batik alle Mühe gibt und sowohl technisch sauber als auch, soweit das geht, phantasievoll spielt. Die besten Momente hat die Aufführung gegen Ende, wenn sowohl vor der Piano-"Kadenz" als auch im Vorschlußteil eine epische Breite erreicht wird, die man fast mit Händen greifen kann, während der Hauptteil zwar hübsch vor sich hingroovt, aber auch mit eher mäßigem Feuer auskommen muß. Für allgemeine Heiterkeit sorgt das Klavier, denn an diesem fällt kurz vor Schluß das Gestänge des Echopedals auseinander, so daß der Schlußton noch lange nachklingt, als das Orchester schon lange abgesetzt hat. Batik und ein Techniker kriechen unter das Instrument und reparieren es, denn das Publikum möchte den Pianisten ohne eine Zugabe natürlich nicht ziehen lassen. Mit "Summertime" bleibt Batik bei den Leisten des Konzertes und intoniert, von einem der Schlagzeuger begleitet (das hat man bei Solistenzugaben äußerst selten!), eine stark verzierte Version dieses Gershwin-Klassikers, und da das Publikum auch danach noch nicht genug hat, schiebt er noch das Allegro aus Haydns 1. Klaviersonate nach - und man staunt, wie gut das in seiner akzentuierten Atmosphäre-Speed-Kombination ins Programm paßt.
Die Gattung Hörspiel feierte mit der Entwicklung des Rundfunks gleichfalls fröhliche Urständ' und löste bzw. umging das Problem, daß der Rundfunkhörer zu Hause ja keine Handlung sehen konnte, wie das in der Liveaufführung beispielsweise einer Oper möglich ist. Ein Hörspiel dagegen im Konzertkontext aufzuführen hat schon wieder etwas Skurriles, aber auch vor solchen originellen Ideen schreckt die Programmkonzeptfraktion dieses Konzertes nicht zurück und setzt mit Paul Hindemiths "Sabinchen" auf einen Text von Paul Seitz ein echtes Hörspielfossil aufs Programm - das Original stammt aus dem Jahre 1930 und schlummerte nach der Uraufführung Jahrzehnte in der Schublade, ehe Ernst Theis es wieder ausgrub und die Teile, die nicht überlebt haben, rekonstruierte. Die Schlagzeuger des Orchesters verwandeln sich in Geräuschemacher und werden auch recht auffällig am rechten Bühnenrand plaziert, so daß das Publikum mitverfolgen kann, welche Kunstgriffe welche Geräusche erzeugen, und somit einen "Zusatznutzen" bekommt, der bei einer Rundfunkwiedergabe nicht erzeugt werden kann. Hindemith hat bei der Komposition gleich mehrfach auf starke Kontraste gesetzt. Zum einen stellt er einem klein besetzten und für die damalige Zeit relativ modern (will heißen: atonal) spielenden Orchester einen klassischen Chorsatz nach den gängigen Tonsatzregeln gegenüber, und zum anderen zeichnet er auch die Hauptfiguren so unterschiedlich, wie es nur möglich ist: Jeannette Oswald als das naiv-harmlose Opfer Sabinchen hat eine klassische Sopranrolle bekommen (erstklassig interpretiert: die Trennungshysterie), während Bernd Könnes als mordender Schuster aus Treuenbrietzen eher eine deklamierende Sprechrolle auszufüllen hat, was er mit rollendem R, beckmesserisch und phasenweise fast als Erfinder des Rap ebenfalls sehr gut hinbekommt. Eine Anzahl weiterer Sprecherrollen hat Hindemith noch vorgesehen, u.a. ein Kind (Fanny Linsmann, gerade 10 Jahre alte Tochter des Konzertmeisters des Orchesters, stellt unter Beweis, daß sie über eine durchdringende Stimme verfügt, die man selbst in "Massenszenen" noch wahrnimmt) und einen Radioansager (hierfür muß kurzerhand Intendant Wolfgang Schaller herhalten, "damit er auch mal sieht, wie das so ist, wenn man auf der Bühne steht"). Freilich haben alle Beteiligten damit zu kämpfen, daß Hindemith ihnen bisweilen Tonmaterial vorschreibt, welches das Geschehen ungewollt parodistisch wirken läßt - dieses Eindruckes kann man sich speziell in der dissonanzenüberfluteten Entlassungsszene nicht erwehren, wenngleich der Sinn hier vielleicht sogar noch logisch erschließbar bleibt (sonderlich harmonisch geht es bei der Entlassung Sabinchens naturgemäß nicht zu). Dafür lacht man herzlich beim dunkelschwarzen Humor der Kerkerszene ("A-Dur und Tremolo? Das muß ein Geist sein."), bevor einem zum Schluß dann das Lachen im Halse steckenbleibt. In der originalen Geschichte wird der mordende Schneider gehängt und fertig. Hier dagegen addieren Seitz und Hindemith einen Epilog, der alles relativiert, ins Lächerliche zieht und Opfer- und Täterrollen in genau der gleichen unangenehmen Weise umkehrt, wie Cannibal Corpse das im Metal mit ihrer pseudomärtyrerhaften Rolle tun. Das verdirbt einem dann doch nachhaltig den Spaß am Stück.
Kann "Ein Amerikaner in Paris", das letzte Gershwin-Stück, die Laune wieder heben? Nur teilweise - und das hat diesmal musikalische Gründe, zwei, um genau zu sein. Der eine sitzt an der Solotrompete und findet während des ganzen Stückes keine Bindung zum Orchester, was problematisch ist, weil er eine tragende Rolle in dem Stück zu spielen hat. Der andere steht am Dirigentenpult: Ernst Theis legt zunächst einen recht geschickten Kurs durchs akustisch umgesetzte Pariser Verkehrschaos zur Rush-Hour, was die innere Dynamik des Stückes angeht, aber paradoxerweise verläßt ihn diese Fähigkeit mit der Zeit immer mehr. Die gelegentlichen Brüche verflachen immer weiter, das Stück beginnt sich zu ziehen wie Kaugummi, und die endlosen Windungen, die Gershwin seinem Helden beim Gang durch Paris zumutet, klingen, als ob man um eine Ecke biegt und feststellt, daß die Straßenschlucht, die man dort erblickt, genau so aussieht wie die, die man gerade durchwandert hat - monotones Yeah Yeah Yeah sozusagen, oder wie das alles heißt, ja. Dynamik ist also irgendwann mal gar keine mehr da, und da können nicht mal die gelegentlichen Aufblitzungen von Klasse, etwa in den schön eskapistischen Passagen mit Solovioline, etwas retten - man ertappt sich früher oder später dabei, sich gedanklich eher mit der ausgesprochen hübschen jungen blonden Geigerin am hinteren Pult der 1. Violinen zu beschäftigen als mit der Musik. Nur die Breitwandepik kurz vor Schluß, in der dann endlich auch der Solotrompeter recht nahe ans Orchester rückt, rettet den Rezensenten vor der völligen musikalischen Lethargie, während der Rest des Publikums die gesamte Wiedergabe unkritisch feiert, als hätte es hier gerade eine musikalische Sternstunde erlebt. Im Gesamtblick auf das Konzert ist eine ausgesprochen positive Wertung allerdings dennoch zweifellos gerechtfertigt.



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