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Grosses Concert III/1   15.10.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Bevor das Leipziger Gewandhausorchester zum ersten Mal in seiner weit über 200jährigen Existenz ins Reich der Mitte aufbricht, um China innerhalb nicht mal eines Monats zum zweiten Mal mit feinster Klangkunst made in Saxony zu beglücken (das Rundfunk-Blasorchester Leipzig war dort auch gerade unterwegs gewesen, und mit dem Landesjugendorchester reist wenige Tage nach den Gewandhäuslern gar noch ein drittes sächsisches Ensemble gen China), werden Teile des Tourprogramms noch einmal vor heimischem Publikum erprobt. Nicht mit auf Tour geht allerdings das erste Stück dieses Konzertabends: "Das Leuchten der singenden Kristalle" ist eine Auftragskomposition des Gewandhauses, in Töne gegossen von Steffen Schleiermacher und deklariert als dritter Teil einer Trilogie, deren erste beide Teile in den Monaten zuvor am Rhein uraufgeführt worden sind. Die 13 Minuten Kristall-Leuchten, die ihre erste Tonwerdung an diesem Abend erleben, entpuppen sich tatsächlich als eine Art klangliche Umsetzung von Kristallzüchtung und passen daher bestens zur Widmung des Konzertes als "Geburtstagsgeschenk" an die Leipziger Universität, an der in ihrer sechshundertjährigen Geschichte mancherlei naturwissenschaftlicher (aber auch kultureller!) Meilenstein gesetzt werden konnte. Pizzikatostreicher mit sekundenlangen Tonabständen werden durch kurze Holzbläsereinwürfe unterbrochen, einige glitzernde Tutti wirken wie abweisende Eiswände und verdeutlichen die Mühen, bevor man endlich einen Durchbruch bei der Kristallzüchtung erzielen kann. Das melancholische Horn eigent sich freilich als Triumphinstrument eher nicht, trotzdem setzt es den emotionalen Höhepunkt des Werkes. Danach nämlich geht Schleiermacher dazu über, ambiente Klangflächen aneinanderzureihen, erst absteigend bis zum Stillstand (samt hochspannender Generalpause - aber das gehört ja sowieso zu den Stärken, wenn Riccardo Chailly am Pult des Gewandhausorchesters steht), danach langsam wieder etwas Energie gewinnend, allerdings nach einem noch unterhalb des Mezzoforte liegenden kurzen Blecheinwurfes schon wieder die Gegenrichtung einschlagend und mit schleifend-hohen Violinen im schätzungsweise Vierfach-Pianissimo verklingend. Böse Zungen mögen das Urteil "Soundlegastheniker", das ein Chemnitzer Konzertbesucher nach einem Stück von Wolfgang Rihm fällte, auch auf den Kristallgesang übertragen wollen, und das trifft die Herangehensweise auch und doch irgendwie wiederum nicht. Für eine endgültige Bewertung müßte man das Werk mehrmals und vielleicht auch im Kontext der erwähnten Trilogie hören.
Die Violinistin Arabella Steinbacher hat bereits im Leipziger Gewandhaus konzertiert (im Februar 2007 mit dem MDR Sinfonieorchester), aber noch nicht mit dem Gewandhausorchester - ergo stellt Mozarts Violinkonzert G-Dur KV 216 ihr diesbezügliches Debüt dar. Und das merkt man auch - im negativen Sinne: So richtig aufeinander eingespielt sind Solistin und Klangkörper nämlich noch nicht. Das fällt im ersten Satz, einem Allegro, besonders auf: Arabella Steinbacher spielt, das weiß man, immer dann richtig gut, wenn sie förmlich schweben kann, mit quasi überirdischer Leichtigkeit über den Dingen steht. Hier dagegen wird sie geerdet, muß richtig hart arbeiten und wirkt dadurch viel zu angestrengt - und das obwohl erstens nur eine sehr kleine Orchesterbesetzung spielt und zweitens diese auch noch so fluffig musiziert, daß der Schritt nach Wolkenkuckucksheim für die Solistin eigentlich nur ein kleiner wäre. Aber sie findet keinen richtigen Draht zum Orchester; daß Konzertmeister Frank-Michael Erben sichtbar mehr mit Dirigent Riccardo Chailly "kommuniziert" als die Solistin, spricht diesbezüglich Bände. Die knüppelhart beginnende und erst schrittweise etwas an Weichheit gewinnende Kadenz wird zum Symptom für diesen ersten Satz. Der Rezensent hat zudem noch das Pech, daß von seinem Sitzplatz aus der Dirigent fast direkt vor der Solistin steht, was immer dann, wenn er sie mit seinem Körper verdeckt, einen kleinen, aber doch hörbaren Soundunterschied erzeugt. Was die Kombination Steinbacher + Chailly + Gewandhausorchester zu leisten vermag, verdeutlicht am besten das an zweiter Satzposition befindliche Adagio. Dessen Düsternis bleibt stets im Licht, und hier gelingt das Miteinander deutlich besser, schafft es die Solistin tatsächlich in zumindest einigen Momenten, ihre Stradivari wirklich singen und schweben zu lassen (so partiell in der herzklappenzerschneidenden Kadenz). Leider fällt der dritte Satz dann wieder in die Probleme des ersten zurück. Klar, richtig schlecht ist das alles nicht, aber wenn man sich vor Ohren führt (anhand der erwähnten Momente des Adagios), was hier hätte entstehen können (und vielleicht auch im Verlaufe der Tour noch entstehen wird, wenn sich alle Beteiligten besser aufeinander eingespielt haben), dann bleibt man doch ein wenig enttäuscht zurück. Das Publikum applaudiert trotzdem recht energisch, ein Bravo ist auch dabei, und man will die Solistin offensichtlich tatsächlich noch zu einer Zugabe überreden. Aber da hat Konzertmeister Erben etwas dagegen, indem er die Orchesterversammlung auf der Bühne nach dem dritten Vorhang rapide auflöst.
Nach der Pause steht Gustav Mahlers erste Sinfonie auf dem Programm, und die wird - das sei vorweggenommen - zum weiteren Beweis der Korrektheit der Formel "Mahler + Chailly = Weltklasse". Hat nämlich im ersten Satz das Holz die gebotene Weichheit einmal gefunden (was nicht allzulange dauert), bekommt dieser Satz eine förmlich überirdische Transparenz, ein Leuchten ohne singende Kristalle, dafür dem Licht ähnlich, das man im Mai in einem gerade frisch ergrünten locker bestockten Buchenwald vorfindet. Da erschrickt man über den vorwitzigen Kuckuck fast, da klingen die simulierten Fernhörner wirklich wie kilometerweit entfernt auf dem nächsten Bergrücken, da springt der erste etwas breitere Hauptteil leichtfüßig wie ein liebestoller Hase übers Laub. Überhaupt das Tempo: Chailly gilt als Beethovenbeschleuniger, aber er legt auch in diesen ersten Satz ein enormes Grundtempo, ohne daß dabei irgendeine der genannten Tugenden in Gefahr geriete oder gar das Orchester unsauber klingen würde. Der zupackende Ausklang dieses Satzes gerät mit den einen Tick länger als normal ausgespielten und daher sehr zackig klingenden Breaks zum Meisterwerk. Überraschenderweise legt Chailly dann das Scherzo schleppender an als erwartet: Der Jäger ist satt und zufrieden und schlendert gemütlich durch den Wald, besonders das Trio gerät zur völligen Entspannung unter dem grünen Blätterdach, ohne aber deshalb einschläfernd zu wirken. Aber auch hier machen winzige Tempoakzentuierungen das Salz in der Suppe aus, etwa wenn das wunderbar weiche Solohorn am Ende des Trios ein Tempo vorgibt, das Orchester den Beginn der Reprise aber wieder im Ausgangstempo angeht. Auch die Beschleunigungsstruktur zum Satzende hin ist höchst interessant mitzuverfolgen. Das Adagio an Satzposition 3 bringt das Kunststück fertig, trotz wieder schleppenderen Grundtempos einen unwiderstehlich-treibenden Vorwärtsdrang zu entwickeln. Alle - selbst der Tubist - scheinen ihre Instrumente förmlich zu streicheln und spielen quasi bezaubernde Kammermusik (und das bei voller Bühne mit beispielsweise zehn Kontrabassisten!), die wenig vom niederschmetternden Charakter des späteren Mahler atmet (den das Orchester allerdings in ähnlich genialer Manier umzusetzen in der Lage ist, wie sich beispielsweise derjenige erinnern wird, der Mahlers dritte Sinfonie zum 25jährigen Jubiläum des Neuen Gewandhauses anno 2006 gehört hat), wenngleich der aus dem Nichts hervorschießende Tempoausbruch schon die Richtung anzeigt. Der Kontrast des friedlichen Adagio-Ausklangs zum wild zupackenden Finalauftakt könnte kaum größer sein, aber selbst in diesen Situationen bleibt Chaillys Herangehensweise um Transparenz bemüht, und die Tuttimonster tanzen leichtfüßig und trotzdem beutegreifend durch die Halle, anstatt alles unter sich zu begraben. Wie man Spannung und Zackigkeit unter einen Hut bringt, dafür kann die Passage vor dem nächsten Tutti als Lehrbeispiel dienen, und nur ganz am Schluß (nachdem die um einen Trompeter und einen Posaunisten ergänzte Hornfraktion übrigens schon wieder sitzt) läßt Chailly das Orchester richtig von der Leine, und der strukturierte Powerlärm (wenngleich irgendwie immer noch mit Energiereserven) markiert ein eindrucksvolles Finale, nach dem im Publikum tosender Jubel ausbricht. Zu Recht! In dieser Form ist das Gewandhausorchester samt Riccardo Chailly mit diesem Stück der wohl beste Kulturbotschafter, den man deutscherseits nach China schicken kann.



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