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25 Jahre Neues Gewandhaus zu Leipzig   08.10.2006   Leipzig, Neues Gewandhaus
von rls

Es war im Februar 1944, als nach einem Bombenangriff auf Leipzig das Gewandhaus ausbrannte - das zweite Gewandhaus, denn das erste, dessen zur Konzerthalle umgebauter Dachboden anno 1781 das erste reguläre Konzert der Serie gesehen hatte, die noch heute als "Grosses Concert" blüht, war Ende des 19. Jahrhunderts restlos überaltert und genügte auch in puncto Platzkapazität der Publikumsnachfrage längst nicht mehr, weshalb 1884 das zweite Gewandhaus als Neubau eröffnet wurde. Mit dessen Herrlichkeit war es ab 1944 vorbei, die Zerstörung war so gravierend, daß an einen Wiederaufbau als Konzertspielstätte nicht gedacht wurde. Das Orchester schlug sich die folgenden Jahrzehnte mit Interimsspielstätten durch, deren langfristigste die Kongreßhalle am Zoo war. Viele ältere Leipziger erinnern sich bestimmt noch an große Konzerterlebnisse, die ihnen dort vom Gewandhausorchester unter Franz Konwitschny, Václav Neumann und dem jungen Kurt Masur beschert wurden (und übrigens nicht nur vom Gewandhausorchester, denn auch andere Orchester spielten dort, beispielsweise die Rundfunksinfoniker unter Herbert Kegel). Aber die Kongreßhalle war und blieb ein Provisorium, und ihr baulicher Zustand wurde über die DDR-Jahre hinweg nicht besser. So ergriff Kurt Masur die Initiative und schrieb 1974 an Erich Honecker, wies auf das 1981 anstehende 200jährige Bestehen der Gewandhauskonzerte hin und entwickelte die Idee, ein neues Gewandhaus zu bauen, um dieses Jubiläum festlich begehen zu können - das dritte Gewandhaus, das aus heutiger Sichtweise "Neue" Gewandhaus. Ob Masur selbst daran geglaubt hat, daß dieser Plan verwirklicht werden könnte, erscheint ungewiß - schließlich war er nicht nur Visionär, sondern auch Realist und kannte die Möglichkeiten wie die Grenzen der DDR gut genug. Aber eine langfristige Lobbyarbeit, wie man das heute nennen würde, fruchtete letztlich doch (zumal es Masur verstand, Honecker an einer empfindlichen Stelle zu packen, nämlich derjenigen dessen eigenen Egos und des Egos der Partei, wie folgender Auszug aus dem besagten 1974er Brief beweist: "Ich glaube, daß es nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein politisches Ereignis sein wird, wenn wir diesen Tag nicht schamvoll verschweigen müssen, sondern festlich im neu erbauten Konzertsaal des Gewandhauses begehen können."), man bekam von oben die Absegnung der Pläne, und so konnte am 8. Oktober 1981 die feierliche Eröffnung des Neuen Gewandhauses stattfinden. Unter den limitierten Bedingungen der DDR, denen natürlich selbst ein solches Prestigeprojekt nicht ganz gleichgültig gegenüberstehen konnte, vollbrachten der Architekt Rudolf Skoda und sein Team, pardon, Kollektiv eine ausgezeichnete Leistung, und so wurde das Neue Gewandhaus schnell zur künstlerischen Wohlfühl-Heimstatt der zugehörigen Ensembles, aber auch zur touristischen Attraktion, denn man hatte nach außen hin ein modernes und doch irgendwie zeitloses Gebäude erschaffen - zwei Prädikate, deren sich die Gewandhaus-Ensembles natürlich auch liebend gerne zu erfreuen trachten, wenngleich das in der Musiklandschaft von heute mitunter gar nicht so einfach ist, da der Anteil der heutigen sogenannten E-Musik, der den test of time bestehen wird, langsam, aber sicher ins Bodenlose zu rutschen droht und selbst Siegfried Thieles "Gesänge an die Sonne", die 1981 im Eröffnungsprogramm standen, zweieinhalb Dekaden später weitgehend vergessen sind. Apropos: Die besagten Gesänge hatte der heutige Thomaskantor Georg Christoph Biller in seiner damaligen Funktion als Leiter des Gewandhauschores einstudiert, und ebenjener Georg Christoph Biller hat in seinem Grußwort im Programmheft einen prägenden Satz geschrieben, den man heutzutage allen Menschen, die funktional irgendwas mit Kultur zu tun haben, dick ins Stammbuch schreiben sollte: "Hier (gemeint ist: mit dem Bau des Neuen Gewandhauses - Anm. rls) wurde inmitten einer von Mangelwirtschaft gekennzeichneten Gesellschaft ein kultureller Markstein gesetzt, der unserer derzeitig kleingläubig orientierten Kulturdiskussion deutlich machen sollte, wo wir auch künftig Schwerpunkte setzen müssen."
25 Jahre Neues Gewandhaus und 225 Jahre "Grosses Concert" des Gewandhausorchesters - diese beiden Jubiläen bilden den Rahmen für Festwochen im Gewandhaus im Oktober und November 2006, deren genaues Programm man mitsamt Hintergrundinformationen auf www.gewandhaus.de nachlesen kann. Bestandteil der Festwochen war ein Festkonzert am 7. und 8. Oktober 2006, also exakt 25 Jahre nach der Einweihung. Nun hätte man es sich einfach machen und das Programm von damals kurzerhand noch einmal spielen können, den Dabeigewesenen zur Erinnerung und zum Vergleich und den nicht Dabeigewesenen (wie dem Rezensenten, der sich anno 1981 noch im Vorschulalter befand) eben "nur" als Festprogramm. Aber die Entscheidung fiel anders, und es kam die Dritte Sinfonie von Gustav Mahler auf den Plan. Das überrascht zunächst, denn diese Sinfonie hatte Mahler anno 1895/96 geschrieben und unter seiner eigenen Leitung 1902 in Krefeld uraufgeführt, wohingegen sich erst Wilhelm Furtwängler 1924 an die erste Aufführung der Sinfonie mit dem Gewandhausorchester wagte, ein etwaiger historischer Bezug auf den ersten Blick also weniger wahrnehmbar ist. Der zweite Blick zeigt aber, daß Arthur Nikisch den dritten Satz schon Anfang 1897 in Leipzig gespielt hatte, also verhältnismäßig kurz nach der Fertigstellung (im November 1896 hatte er diesen Satz bereits in Berlin aufgeführt) und interessanterweise in die bis auf Brahms' "Akademische Fest-Ouverture" rein kammermusikalisch geprägte erste Hälfte des Gewandhauskonzertes eingefügt (der nach der Pause allerdings noch Tschaikowskis Fünfte Sinfonie folgte). Ein Mahler-Sinfoniesatz in einer kammermusikalischen Umgebung? Doch, doch, das paßt schon. Die Wahl gerade dieser Sinfonie paßte übrigens auch zum Jubiläumsanlaß, denn sie bietet die Möglichkeit, neben dem Orchester auch noch andere Gewandhausensembles einzubeziehen, also den Gewandhaus-Kinderchor und die Damen des Gewandhauschores, die in diesem Fall noch ihre Kolleginnen aus dem Opernchor und dem MDR Rundfunkchor als Verstärkung dazuholten. Das erste der beiden Festkonzerte war restlos voll, auch im zweiten blieben nur einige vereinzelte Plätze offen.
Nun ist Mahler bei dieser Sinfonie vom üblichen Viersatzschema insofern abgewichen, als er sechs Sätze konzipierte, die in zwei Abteilungen untergliedert sind, von denen die erste gerade mal den ersten Satz enthält, während die zweite die anderen fünf Sätze umfaßt. Das hat auch seinen Grund, denn man könnte die erste locker als in sich geschlossenes einsätziges Werk verkaufen, und Mahler lotet darin die musikalischen Extreme derart weit aus, daß es diesbezüglich in den anderen fünf Sätzen keine Steigerung mehr geben kann und fast der Eindruck entsteht, man habe mit diesen Sätzen eine Art Appendix vor sich, der zwar summiert die doppelte Länge des ersten Satzes besitzt, aber eben nur summiert. Die Transportierung dieser musikalischen Extreme gelingt dem Gewandhausorchester unter seinem aktuellen Kapellmeister Riccardo Chailly auf einer Seite fast perfekt, auf der anderen nicht ganz: Was die Intensität und nicht zuletzt auch die Lautstärke der voluminösen, fast brutal zu nennenden Passagen angeht, kommt das Gewandhausorchester an diesem Abend nämlich nicht ganz an das Castello Youth Symphony Orchestra heran, das im August in Leipzig in Mahlers Fünfter noch extremere Klangwälle aufgebaut hatte, ohne jedoch die musikalische Substanz aus den Augen zu verlieren und etwa in puren Krach abzugleiten. Die im Durchschnitt deutlich älteren Damen und Herren des Gewandhausorchesters machen da einen Deut früher halt, transportieren aber auch damit immer noch genug Energie, um den Hörer an die Sessellehne zu drücken, wenngleich schon auffällt, daß im Gesamtklang besonders der harten Passagen die Bläser gegenüber den Streichern etwas zu stark dominieren. So richtig punkten können die Musiker aber mit dem anderen Extrem: Mahler hat zahlreiche Stellen eingebastelt, die durch sehr leises, mitunter ersterbend gestaltetes Musizieren wirken, und das bekommen Chailly und seine Leute richtig klasse hin; der Dirigent kostet die sich daraus ergebende Spannung exakt so lange aus, bis sie zusammenzufallen droht, und sorgt damit dafür, daß er mit den 105 Minuten, die das Programmheft als Dauer ausgibt, längst nicht auskommt. Nur an ganz wenigen Stellen überspannt er hier den Bogen (diese finden sich übrigens ausschließlich in der zweiten Abteilung), evoziert aber ansonsten eine Linie, die der Komponist sicher gutgeheißen hätte. Ganz nebenbei bemerkt: Mahler schrieb diese Sinfonie in der Idylle eines Ferienhäuschens im Salzkammergut und fand seine Inspirationen überall in der Natur ringsherum, so auch in der Bergkulisse, die sich dort auftat, die allerdings noch eher gemäßigte alpine Verhältnisse aufweist. Wenn Mahler aber schon diese noch relativ harmlosen Berge zu derartig schroffen musikalischen Themen wie im ersten Satz der Dritten Sinfonie umsetzt, was hätte er wohl geschrieben, wenn sein Ferienhäuschen am Fuße der Nordwand von Dongus-Orun und Nakra-Tau im Kaukasus oder gar im Kessel unter der riesigen Wand des Nanga Parbat im Himalaja gestanden hätte? Man darf spekulieren ...
Zurück ins Gewandhaus: Symbolisiert der erste Satz die Erschaffung des Unbelebten, tritt in der zweiten Abteilung schritt- bzw. vielmehr satzweise das Belebte ins Blickfeld. Hier nun kann sich der sanfte Romantiker Mahler richtig austoben, wenngleich er keine, ähem, Programmusik im Stile etwa von Mussorgskis "Ballett der Küchlein in ihren Eierschalen" fabriziert, selbst dann nicht, als im vierten Satz der Mensch in Gestalt der Altistin Petra Lang auf den Plan tritt und Nietzsches Zarathustra zu Wort kommen läßt - interessanterweise ohne das Modell des Übermenschen einzuführen, was irgendwie auch nicht so richtig in die Konzeption der Sinfonie gepaßt hätte, denn attacca im fünften Satz fliegen die Engel durch den Saal (in der realen Existenz die Chordamen und die Kinder) und verkünden nicht etwa mit biblischen Worten, sondern mit einem Exzerpt aus "Des Knaben Wunderhorn" die Vergebung der Sünden und die dann im sechsten Satz noch ausführlich tonlich ausgemalte göttliche Liebe, also quasi eine musikalische Umsetzung des Doppelgebotes. Wie bereits beschrieben: Draufsetzen können diese fünf Sätze dem ersten nichts mehr (wobei die innere Steigerung aus dem sehr ruhigen zweiten über die dazwischenliegenden, in denen die harten Parts manchmal etwas zu eingeklebt wirken, bis zum noch einmal recht allumfassenden, aber den Schöpfungsakt im ersten Satz unmöglich toppen könnenden Finale schon deutlich genug wird), aber neben den Gesängen (die Altistin erledigt einen soliden Job, ohne zu glänzen, während die Chorstimmen die ihnen zugedachte Rolle hervorragend spielen) führt Mahler auch noch andere neue Elemente ein und experimentiert beispielsweise wieder mit Fernwirkungen. Das hat er im ersten Satz mit einem kurzen Ferntrommel-Einwurf schon mal angedeutet und treibt es mit der von Orchester wie Solist gleichermaßen brillant umgesetzten Posthornepisode im dritten Satz auf die Spitze. Überhaupt wimmeln selbst die entspannteren, manchmal fast lethargisch zu werden drohenden Sätze unter der Oberfläche immer noch von musikalischen Ideen, aus denen andere Komponisten fünf Sinfonien gebaut hätten (wer schreibt die Marschpassagen des ersten Satzes mal zu richtigen Märschen um?), und diese Fülle für den Hörer über weite Strecken durchhörbar gestaltet zu haben ist das große Verdienst Chaillys und der beteiligten Musiker, die sich den langanhaltenden Applaus also redlich verdient haben. Auf die nächsten 25 bzw. 225 Jahre!



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