www.Crossover-agm.de
Von Wien nach Transsylvanien und zurück   18.04.2009   Leipzig, Kirche zum Heiligen Kreuz
von rls

Der Titel assoziiert eine Reise, dazu eine mit Wiederkehr (das ist beim Reiseziel Transsylvanien ja nicht selbstverständlich), und das Stichwort "Reise" findet sich auch in anderen Kontexten in diesem Konzertprogramm des Landesjugendorchesters Sachsen wieder - es ist bereits das 37. und erklingt in zwei Konzerten, diesem in Leipzig und am folgenden Tag noch in Dresden. Entgegen dem Titel beginnt die musikalische Reise allerdings nicht in Wien, sondern in Transsilvanien, diesem bis 1918 noch zu Ungarn gehörenden Landstrich, den Béla Bartók in seine großangelegte Sammelaktion heimatlichen Musikgutes selbstverständlich mit einbezogen hatte. Daraus wurde dann eines Tages ein siebensätziges Orchesterwerk namens "Rumänische Volkstänze", und mit diesen eröffnet das Landesjugendorchester sein Konzert. Bartók verzichtet überraschenderweise auf die Besetzung von Schlagwerk, was dem nicht immer einfach zu beherrschenden "Kirchensound" in diesem Fall sehr zugutekommt. "Jocul Cu Bata" erweist sich als guter Einstieg mit einem schönen Zupfbreak, "Braul" kommt in der Melodik fast jiddisch daher, und "Pe Loc" schraubt Tempo und Groove nach unten, evoziert aber nichtsdestotrotz ein Thema, das man in nur leicht veränderter Gestalt Jahrzehnte später auf einer Frühsiebziger-Soloplatte von Jon Lord wiederfinden sollte. Aber die Temporeduktion soll nicht lange anhalten, und gegen Ende des Siebensätzers speedet man sich im Offbeat durch diverse Allegri, vor dem geistigen Auge immer ein Volksfest mit einigem Feuerwasser habend. Macht Spaß!
Danach dann aber wirklich Wien: Elfa Rún Kristinsdóttir und das Orchester, diesmal nicht von Milko Kersten, sondern von Roland Kluttig geleitet (der das auch souverän tut, abgesehen davon, daß er einmal, als er sich den Weg aus der Sakristei durch den dicht besetzten Altarraum zum Dirigentenpult bahnt, über einen Notenständer fällt), spielen Mozarts Violinkonzert in A-Dur KV 219. Solistin und Orchester brauchen das halbe Allegro aperto, um zu einem richtigen Miteinander zu finden, aber dann gelingt es ihnen über weite Strecken. Die in eine Schwarz-Lila-Kombination gehüllte Solistin spielt technisch sauber, bisweilen fast einen Tick zu streng, was sie aber mit zauberhaften Pianissimi wieder wettmacht - und man hört sie auch erstaunlich gut, denn auch hier fehlt wieder das zudeckgefährdende Schlagwerk. Leider hört man dadurch aber auch exzellent, daß sich die Hörner vor allem im ersten Satz doch sehr quälen - die Streicher dagegen machen ihre Sache durchaus gut. Das Adagio an zweiter Satzposition ist sehr generalpausenlastig, die entsprechende Laut-Leise-Dynamik sitzt, im Gegensatz zum Intro des abschließenden Tempo di Minuetto, das etwas vor sich hin holpert und erst mit dem Einsatz des gesamten Orchesters an Sicherheit gewinnt. Selbst die Hörner werden besser (wenngleich nicht gut), und der leicht orientalisch anmutende Tanz nach der Generalpause wäre von der Intensität her noch steigerungsfähig gewesen, aber er ist trotzdem cool (so cool übrigens, daß ihn lange Zeit später jemand in vereinfachter Form zu einem Kinderlied namens "Schneeflöckchen, Weißröckchen" umgestrickt hat). Gute Aufführung, meint auch das Publikum in der nicht schlecht ge-, aber keineswegs überfüllten Kirche und geht zufrieden in die Pause; eine violinistische Zugabe bleibt übrigens aus.
Als György Ligeti anno 1923 in Transsylvanien geboren wurde, war das Gebiet schon rumänisch, und der Komponist hatte anfangs auch einen rumänischen Paß, später dann einen ungarischen und noch später einen österreichischen - der Auslöser, daß er den RGW verließ, war sein Concert Romanesc aus dem Jahre 1951, das bei der stalinistischen Kulturbürokratie durchgefallen war. Ebenjenes Concert steht nach der Pause auf dem Programm und entpuppt sich für alle, die mit Ligetis Namen nur das äußerst experimentelle Hauptschaffen verbinden, als faustdicke Überraschung. Ligeti erfindet mit diesem Stück praktisch den Balkanbeat, was bedeutet, daß diesmal auch Schlagzeug besetzt ist, und das nicht zu knapp - trotzdem bleibt der Kirchensound immer noch erstaunlich klar. Von den rumänischen Einflüssen mal abgesehen, produziert er in struktureller wie harmonischer Hinsicht allerdings nichts, was nicht auch einem Schostakowitsch hätte einfallen können - aber der stand ja zu dieser Zeit auch gerade wieder unter intensivem Beschuß der stalinistischen Kulturbürokratie. Das eröffnende Andantino kommt noch eher unauffällig daher, besticht aber schon druch seine hin und her fliegenden zarten Melodien, während das Allegro vivace an zweiter Satzposition mit Pizzikati über Stakkatodrums einen wirkungsvollen Kontrapunkt setzt. Immer wieder entwickeln sich Motive, die erst von einzelnen Instrumenten vorgestellt und dann vom Orchester übernommen werden, während im Untergrund die große Trommel grollt. Das Adagio ma non troppo folgt attacca und beinhaltet schöne Hornsoli (die sitzen diesmal auch!), auch ein Fernhorn ist dabei - das spielt von der Orgelempore aus und hat auch im abschließenden Molto vivace noch einiges zu tun. Dieser vierte Satz nun stellt so etwas wie den Kern des Ligeti-Pudels dar - so lang wie die anderen drei in Summe, auch musikalisch viel vom Gehörten zusammenfassend und in eine große geniale Form gießend, der die jungen Musiker mit Freude gerecht werden. Da erklingt eine Fanfare über äußerst nervösen Streichern und ruft mit ihrem fast zirkusartigen Touch sofort wieder Schostakowitsch ins Gedächtnis (das war eines von dessen Lieblingselementen - das Lachen im Angesicht des Galgens), wilde Volkstänze wechseln zwischendurch blitzartig den Groove, die Kontrabässe (übrigens zu 50% weiblich besetzt) legen einen Rhythmusteppich unter die Solovioline, eine Katastrophe bricht herein, auf die Agonie folgt, welche nur noch einen einzelnen Schlußschlag zuläßt. Daß die jungen Musikerinnen und Musiker für dieses Stück den meisten Applaus des Konzertes ernten, darauf hätte vor dem Konzert wohl kaum jemand gewettet, aber es ist in der Nachbetrachtung nur logisch.
Da wirken die drei Ungarischen Tänze von Johannes Brahms, die das Konzert beenden, nur noch wie ein Appendix, aber es ist wenigstens auch kein schlechter, wenngleich hier die Pauken dann doch zuviel geben und die restlichen tiefen Instrumente ins klangliche Abseits stellen, auch von den Holzbläsern bleibt nur die Flöte hörbar. Der Norddeutsche und Wahlwiener Brahms war bekanntlich nie in Ungarn, aber trotzdem hat er ein paar hübsche kleine Stücke fertiggebracht, und die Programmkonzeptionsfraktion ist zu loben, daß man auf den in jedermanns Ohr befindlichen fünften der Tänze verzichtet hat - Elemente von ihm findet man eh an anderer Stelle wieder, etwa die Tempoverharrungen in Nr. 10, die Kluttig so ähnlich wie ihre Pendants in Nr. 5 ausgestalten läßt. Eröffnet hat man mit Nr. 1, einem geschickt tempovariierten Allegro molto, dann folgt die als Allegretto einsortierte Nr. 3 mit ihrer langsamen Einleitung und den eleganten tänzerischen Holzelementen, im Mittelteil dann energischer zupackend und in ABA-Form langsam ausklingend. Nr. 10 beschließt dann den Reigen in brodelnder Form mit viel Feuerwasser und schrägen Breaks, aber das Publikum will das Orchester nicht gehen lassen. Was tun, wenn man keine Zugabe vorbereitet hat? Klarer Fall, man spielt ein Stück nochmal. Wer vor dem Konzert gewettet hätte, daß die Wahl auf den 4. Satz des Ligeti-Konzertes fallen würde, wäre ein reicher Mann geworden, aber gemäß des Konzertverlaufes ist die Wahl logisch, auch wenn die abstruse Genialität in der Zugabe nicht ganz reproduziert werden kann und gegen Ende dann doch ein wenig die Luft raus ist. Macht aber nichts - ein dickes Kompliment an die 14- bis 26jährigen Musiker für ein über weite Strecken richtig gelungenes Konzerterlebnis!



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver