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Hochschulsinfonieorchester   08.05.2009   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Dirigent Ulrich Windfuhr fordert seine Studenten im Hochschulsinfonieorchester: Innerhalb von nur zwei Wochen stehen gleich zwei große Konzertprogramme an, und diejenigen, die in beiden spielen, haben ergo einiges zu tun. Aber der Aufwand lohnt sich - das hat man schon anhand des ersten Konzertes mit Schumann, Thiele und Strawinsky gesehen, und das sieht man jetzt auch anhand des zweiten, das sich ausschließlich der Wiener Klassik bedient. Zunächst steht eine von Beethovens vier Ouvertüren zu "Fidelio" auf dem Programm, die zu verschiedenen Inszenierungen der Oper im ersten und zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts entstanden waren und sich auch einen Platz im Konzertleben unter dem Titel "Leonoren-Ouvertüre" erworben haben - die Wahl fiel auf die dritte op. 72a. Die Studenten brauchen einen Moment, bis sie sich in puncto Exaktheit finden, was man an der noch leicht holpernden absteigenden Folge im Intro hört, aber dann gelingen ihnen schöne weiche Pianoklänge. Die Soloflöte agiert einen Deut zu nervös, aber auch das legt sich bald. Windfuhr wählt wieder ein nicht gerade geringes Tempo (man erinnere sich an seine Italienische Sinfonie Mendelssohns im Januar 2009 an gleicher Stelle - ganz so extrem ist's diesmal freilich nicht), aber es entsteht kein Klangmulm, und nach dem zweiten Einsatz der Ferntrompete (auch der sitzt) folgt der Prüfstein dieser Ouvertüre, nämlich die Tempobeschleunigung, die Windfuhr seine Studenten leicht angeschleppt spielen läßt, so als ob man losrennen wollen würde, aber im Sumpf nicht schnell genug vorwärtskommt. Fein gemacht, und auch der Rest der Ouvertüre gelingt gut.
Der Flöte als Soloinstrument hat sich Wolfgang Amadeus Mozart (den das Programmheft übrigens zehn Jahre älter macht, als die Literatur angibt ...) nur marginal gewidmet; eines der wenigen Exempel ist sein Flötenkonzert in G-Dur, das er im Auftrag eines in Mannheim lebenden holländischen Flötisten schrieb. Die Solistin der Hochschulaufführung Dóra Ombódi, selbst Alumna der Hochschule, kommt aus Ungarn, ist in ein langes schwarzes Kleid gehüllt, spielt technisch sauber, auswendig und auch einigermaßen mit dem Orchester, nicht nur gleichzeitig. Von ihren tiefen Lagen freilich hört man wenig, wie schon die ersten Einsätze deutlich machen, denn deren Frequenzen überlagert das Orchester nachhaltig - zum Glück gibt's von denen relativ wenige. Technisch hat Mozart mit dem Auftraggeber offenbar eine Koryphäe an der Hand gehabt, denn er mutet seinem Solisten teils arges Gehacke zu, dessen sich Ombódi aber wie erwähnt problemlos gewachsen erweist. Die Kadenz im eröffnenden Allegro maestoso kommt praktisch mit Ansage und ist zudem "zeilenweise" notiert - ein Stilmittel, das die gesammelten Rockgitarristen heute noch einsetzen, wo das Publikum zwischen den Zeilen allerdings jeweils noch jubeln oder "Hey!" rufen darf. Das Adagio ma non troppo an zweiter Satzposition hinterläßt emotional einen ambivalenten Eindruck: Unter dem ersten Flötensolo liegt eine Art doomiger Groove, während das Hauptthema selbst in der Melodik an "Wachet auf, ruft uns die Stimme" erinnert und immer wieder hübsche Passagen über einem lockeren Rhythmusteppich der zupfenden Tiefstreicher auftauchen. Hier einen großen Bogen zu schlagen ist schwierig, schwieriger zumindest als im Rondeau an dritter und letzter Satzposition, das dem Orchester recht locker gelingt und auch einen brauchbaren Grundbeat enthält, allerdings in der Indifferenz mancher Streicherpassagen noch Wünsche offenläßt und mit einigen sehr gequält klingenden Hornpassagen ungewollt schon einen Vorausblick auf den zweiten Teil des Programms ermöglicht.
Selbiger zweiter Teil besteht aus Beethovens 6. Sinfonie F-Dur, der Pastorale, also einem naturalistischen Tongemälde des Lebens auf dem Lande aus der Sicht eines Stadtmenschen. An der grundsätzlichen Ambivalenz zwischen Stadt- und Landleben hat sich ja, wenn man es genau betrachtet, in den letzten 200 Jahren wenig geändert, und da braucht man eigentlich gar keine Begriffe der Bluteskraft der eigenen Scholle ins Gefecht zu führen, wie es in mancherlei ausdeutungsseitigen Auswüchsen geschehen ist. Pastorale Schilderungen aber waren auch zur Zeit Beethovens schon nichts Neues mehr, man kannte sie aus dem Frankreich vergangener Jahrhunderte, "Die Jahreszeiten" des großen Haydn trug unverkennbar pastorale Züge, und bezüglich des Grundkonfliktes Stadt/Land könnte man selbst Bachs Bauernkantate heranziehen. Nun also Beethoven: Dessen Stadtmensch reist von der Stadt aufs Land und erlebt dort neben diversen frohen Momenten auch ein Gewitter mit Sturm - so das nominelle und immer wiedergekäute Programm. "Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande" ist der erste Satz überschrieben, und diese Schilderung bekommen Dirigent und Orchester gut hin, die Lockerheit und die Heiterkeit sitzen paßgenau, und nur die Tatsache, daß es keine Entwicklung der heiteren Empfindungen gibt, die man beim Terminus "Erwachen" voraussetzen würde, überrascht etwas. Die Überraschung wird aber noch größer, sobald man Windfuhrs Strategie für die Gesamtsinfonie erkannt hat: Er läßt das Orchester die Pastorale so spielen, wie man es von der Schicksalssinfonie (also der Fünften) erwarten würde. Das erscheint auf den ersten Blick paradox, aber die beiden Sinfonien sind tatsächlich parallel entstanden und materialseitig von Beethoven "aufgeteilt" worden, so daß diese Herangehensweise eine durchaus nicht unberechtigte Begründung erfährt: Erste Anzeichen finden sich schon im zweiten Satz, der "Szene am Bach": Zwar säuselt der Wind in den Weiden am Ufer, und die Singvögel sind noch nicht durch Pestizide dezimiert, aber der Bach beispielsweise fließt äußerst träge dahin, und auch hier gibt es keine Entwicklung, beginnt sich ein lähmendes Gefühl, eine Art Schicksalsergebung über den Hörer zu legen. Das "Lustige Zusammensein der Landleute" an dritter Satzposition versucht diesen Eindruck zwar ansatzweise zu vertreiben, aber die Intensität, mit der die Powerpassagen die hübschen Bläsersoli niedertrampeln, spricht eine andere Sprache, während die hier immer mal neben der Spur liegenden Hörner sicherlich nicht zum Konzept gehören. Daß selbst das Gewitter und der Sturm im vierten Satz aber nichts Infernalisch-Niederschmetterndes haben, sondern eher den Eindruck erwecken, als würden sie zum großen Plan gehören, stellt dann die nächste Überraschung dar: Dynamische Entwicklung ist hier da, sie überzeugt auch in der Richtung, und trotzdem bleibt alles indifferent. Wenn man dann noch im Hirtenlied am Beginn des fünften und letzten Satzes in der Flöte eine melodische Verwandtschaft zum gemeinhin als Begräbnislied verwendeten "So nimm denn meine Hände" entdeckt, beginnt sich das Bild zu runden, und nur die wieder mal wackelnden Hörner und der ungeplante schräge Klang in der leisen Passage vor dem Cellosolo (wer auch immer da schief lag) passen sich dessen Farben nicht an. Den "frohen und dankbaren Gefühlen nach dem Sturm" haftet ein äußerst fahles Licht an, selbst die ausladende Breite gegen Ende bekommt dank der hektischen Streicher ein Moment der Unwirklichkeit, und der im Nichts versandende ausfasernde Schluß bindet den Schicksalssack letztlich zu. So hat man die Pastorale vermutlich noch nie gehört - als Pyrrhussieg, als "Bitterness Of The Triumph", wie knapp 200 Jahre später eine russische Metalband namens Everlost ein Album betiteln sollte, in irgendwie völlig eigentümlich lähmender Weise mit einer nach unten führenden Spirale nach durchaus heiter-gelöstem Auftakt. Eine interessante Lesart, meint auch das Publikum im gut gefüllten Großen Saal der Hochschule und spendet reichlich Applaus.



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