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Hochschulsinfonieorchester   24.04.2009   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Siegfried Thiele, der die Hochschule als Rektor durch die strukturell anspruchsvollen ersten Jahre nach der Wende führte, gehört gleichfalls zu den Jubilaren des an Musikerjubiläen nicht eben armen Jahres 2009 - er wird 75 und ist im Gegensatz zu den Herren Haydn, Händel und Mendelssohn, an welche man in diesem Kontext als erstes denkt, noch am Leben. Offiziell als Geburtstagskonzert deklariert ist das an diesem und dem Folgeabend anstehende Sinfoniekonzert des hochschuleigenen Studentenorchesters, von der Gratulation in der Programmübersicht abgesehen, nicht (wer die Rezension unmittelbar nach Onlinegehen liest, kann sich am 3. Mai 2009 um 18 Uhr ins Leipziger Gewandhaus begeben, denn dort gibt es eine Art offizielles Geburtstagskonzert mit Kammermusik von Thiele sowie Béla Bartók und Alban Berg), aber die Programmplanungsfraktion hat ein Werk von ihm auf den Spielplan gesetzt, und der Jubilar ist natürlich auch selber anwesend.
Den Auftakt des Konzertes bildet allerdings einer, der erst 2010 wieder Jubiläum hat: Robert Schumanns 200. Geburtstag steht dann im Kalender, nachdem man erst 2006 intensiv seines 150. Todestages gedacht hatte. Die Manfred-Ouvertüre op. 115 teilt das "Schicksal" mit vielen anderen Ouvertüren zu Theaterstücken des 19. Jahrhunderts: Mit dem Verschwinden der Theaterstücke verschwinden auch die Ouvertüren aus den Theatersälen, überleben aber wenigstens nebenan in den Konzertsälen, sofern sie es geschafft haben, auch ein Eigenleben als Konzertstück zu führen. Schumanns Charakterstudie ist so ein Fall und behauptet sich neben Tschaikowskis Manfred-Sinfonie durchaus selbstbewußt im Konzertkontext. Manfred, eine Figur von Lord Byron, trägt passenderweise durchaus einige Züge, die auch Schumann innewohnten, und so verwundert es nicht, daß sich nach den drei hektischen Anfangsschlägen eine Art episch-breites Ringen mit sich selbst entwickelt, das Dirigent Ulrich Windfuhr recht zäh beginnen läßt und dann in geschickter Weise die etwas lichter werdenden Momente herausarbeitet, wobei auch die Höhepunkte zunächst programmgemäß noch recht gequält klingen und sich erst im Verlaufe des Stückes mit einer gewissen Tempoverschärfung auch etwas Lockerheit breitmachen darf. Die Studentinnen und Studenten folgen dem Dirigenten bereitwillig auf diesem Weg, obwohl noch nicht alles maßgeschneidert sitzt. Die Trompeten übertreiben in ihren Dialogpassagen mit den Celli die Hektik ein wenig, das Grollen vor der letztlich doch erfolgenden titanischen Heldenwandlung geht zu sehr unter, und auch die Tempoverlangsamung zum Schlußteil hin gelingt nicht ganz organisch. Dafür setzen Windfuhr und seine Musiker den Tod Manfreds gut in Szene, der hier eher Erlösungs- als Untergangscharakter trägt - dementsprechend agiert das Orchester leise, aber nicht düster. Gut gemacht!
Danach folgt das Stück des Jubilars, nämlich die Kafka-Gesänge für Sopran und Orchester, die in dieser Form erst ihre zweite Aufführung erleben (die erste hatten Herbert Blomstedt und das Gewandhausorchester anno 2000 besorgt), allerdings ein Parallelleben in der Besetzung Singstimme und Klavier führen. Fünf Gesänge sind es insgesamt, allerdings nur drei (die innersten) auf Kafka-Texte, die beiden rahmenden auf ein Gedicht über Kafka aus der Feder von Peter Horst Neumann - dieser Rahmen fehlt der Gesang-/Klavier-Fassung übrigens. Sopranistin Anett Fritsch, ganz in Weiß, aber zunächst noch ohne Blumenstrauß, führt eine sehr durchdringende, aber nicht schrille, sondern leicht gedeckte Stimme ins Feld, die allerdings an bestimmten Stellen immer noch tauglich genug wäre, Kafkas Botschaften ohne Verstärker vom Hradschin auf die Karlsbrücke zu transferieren. Im schräg-ätherischen Intro (mit einer interessanten Klangfarbenmischung aus Harfe, Trompete, Tuba und Flöte) versemmeln die Beteiligten zwar gleich den ersten Einsatz, aber die ätherische Stimmung bekommen sie trotzdem hin, die auch erhalten bleibt, als die Streicher dazukommen. Die Harfen (es gibt deren zwei) sollen stimmungsseitig wie akzentuierenderweise im ganzen Stück eine wichtige Funktion behalten, etwa wenn sie im Rahmenstück (das zugrundeliegende Gedicht ist das gleiche, aber im Intro werden nur die ersten vier Zeilen vertont, im Outro dann alle sechs) im Intro auf "Mit solchen Augen" eine wilde Saitenschrubbpassage bekommen haben, die im Outro trotz prinzipiell identischer musikalischer Struktur deutlich zahmer ausfällt, obwohl der Sopran die Folgezeile "sah er diese Welt" jeweils in sehr große Höhen jagen muß. Die ersten beiden Kafka-Texte sind übrigens keine Gedichte, sondern Prosa, was bisweilen einen Eindruck des alten Unterhaltungsspiels auf Gesellschaften im vorgerückten Zeit- und Pegelstadium, eine Zeitungsnotiz vorzusingen, hinterläßt. Thiele ist freilich Kompositionsprofi genug, an den richtigen Stellen einzuhaken und einen Stimmungswechsel oder einen Höhepunkt einzubasteln, was in der Zeile "selbst verlassen hätte er den Käfig können" zu rhythmisch äußerst interessanten Bildern führt. Der letzte der drei Kafka-Texte ist dann das einzige Gedicht, das Kafka in seinem 1916er Tagebuch eingetragen hat, von Thiele zunächst fast episch-eskapistisch vertont (die Spätromantik winkt herüber) und wieder mit hübschen Effekten versehen, wenn etwa unter "Abend" die Tiefstreicher eine Art Gähnen simulieren. Strophe 2 wird schneller und beinhaltet etwas Jenseitshoffnung, Strophe 3 zerstört diese aber wieder, wird langsamer, mit Pizzikatoschlägen auch brutaler, und ein extrem finsterer Schlußton bläst das Lebenslicht endgültig aus. Dann folgt aber noch das erwähnte Outro, und dessen beide letzte Zeilen "Zu wenig Welt/für so viel Augen." erfahren eine plötzliche Beschleunigung, es bricht ein kurzer Orchesterkrieg aus, und das Stück ist zu Ende, Kafka endgültig tot.
Um eine Art Rahmen um das Thiele-Werk zu bilden, hätte man nach der Pause nun Schumanns Musik zum Theaterstück "Manfred" ausgraben oder Tschaikowskis Manfred-Sinfonie danebenstellen können, aber die Programmplanungsfraktion hat sich anders entschieden und Igor Strawinskys "Petruschka" angesetzt - keine schlechte Entscheidung allerdings, denn diese burleske Ballettmusik ist schon von Haus aus klasse, und der Genußfaktor steigert sich noch einmal deutlich, wenn man, um mal das Fazit vorwegzunehmen, eine derartig frische und lebendige Interpretation vorgesetzt bekommt. Windfuhr zieht seine Strategie, seinen Studenten die Angst vorm Tempo zu nehmen, auch hier konsequent durch (man erinnere sich an seine Italienische Sinfonie Mendelssohns ein Vierteljahr zuvor an gleicher Stelle), und er wird belohnt, denn die Studenten gehen begeistert mit und schaffen trotz des nicht selten wirbelden Staubsturms auf dem Petersburger Kirmesplatz doch einen beachtlichen Exaktheitsgrad. Das erste Flötenbreak wackelt zwar noch etwas, und auch das Zauberer-Thema bei etwa Minute zweieinhalb (das man ganz vorn im musikalischen Gedächtnis gespeichert hat und das den Konservenhörer eigentlich dazu bringen muß, fröhlich um seinen Wohnzimmertisch zu hüpfen, was im Konzertsaal natürlich nicht geht) hätte noch ein paar wenige Grade an Lockerheit vertragen, aber damit sind die größten Probleme vom Tisch, und gerade die Flöte schwingt sich zu einer starken Leistung auf, wenngleich die Solotrompete ihr etwas die Schau stiehlt. Immer wieder schießen Tempowechsel aus dem Nichts heran, die Soloviolinistin hätte auch in einer Folkband anfangen können, und auch die kleinen Feinheiten arbeitet Windfuhr mit seinen Studenten heraus, etwa die in einer Szene scheinbar schneller werdenden "flüchtenden" Trompeten. Dafür ertönt am Ende verdienter langer Applaus, und man hört mehr als einmal den Kommentar "Einfach ein geiles Stück", den man in doppelter Hinsicht als Lob auf den Komponisten und auf das Orchester verstehen darf.



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