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Hochschulsinfonieorchester   23.01.2009   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Klar, daß die Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" zu Leipzig anläßlich des 200. Wiegenfestes ihres Gründers und Namenspatrons auch das eine oder andere Geburtstagskonzert auf die Agenda setzen muß. Wer dieses Review unmittelbar nach Veröffentlichung liest, hat die Gelegenheit, am 27.1.2009 noch das Gemeinschaftskonzert mit der Jerusalem Academy of Music and Dance in seinen Terminkalender aufzunehmen, wo u.a. Mendelssohns Oktett op. 20 auf dem Programm steht, ein heute nicht allzuoft zu hörendes Werk, das aber in der zweiten Hälfte des 19. und der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts quasi ein Standardwerk in den Kammermusikprogrammen am Gewandhaus war. Und natürlich steht auch ein Orchesterkonzert an, auf den ersten Blick vielleicht selbst aus heutiger Sicht noch mit einem Standardprogramm gefüllt, sich aber real dann doch als Entdeckung entpuppend.
Den ersten Teil des Abends bestreitet Mendelssohns 4. Sinfonie, die Italienische also, die 27,5 Monate zuvor schon einmal an gleicher Stelle zu hören gewesen war, damals mit dem Tokyo Geidai Chamber Orchestra unter Gerhard Bosse, der mit seinen Japanern eine recht streng "deutsche" Wiedergabe realisierte. Ulrich Windfuhr nun geht mit seinen überwiegend deutschen Orchestermusikern einen reziproken Weg - er läßt die Sinfonie nicht deutsch, sondern, nein, nicht japanisch, aber italienisch klingen, und diesen Schritt schafft er eigentlich schon mit einem einzigen Mittel: Er wählt ein extrem schnelles Tempo. Das bemerkt man gleich am eröffnenden Thema, das sich am festesten im kollektiven musikalischen Gedächtnis verankert hat und daher für entsprechende Vergleiche am einfachsten herangezogen werden kann - aber die südländische Tempohatz beschränkt sich nicht auf dieses, sondern geht weiter. Das immense Tempo stellt natürlich auch die musizierenden Studenten vor einige technische Herausforderungen, aber die Musiker zeigen sich dem prinzipiell gewachsen, wenngleich es hier und da doch Probleme gibt, die Violinen mal etwas ins Schwimmen kommen oder das Holz gleich arg trocken beginnt (aber sich bald steigert); auch der Ausbruch nach der zweiten Wiederkehr des Hauptthemas gerät arg hektisch, wohingegen sich die Kontrabässe durch die gekonnte Ausgestaltung ihrer Einzelfigurenpassage im 1. Satz ein kleines Sonderlob verdienen. Leider erkennt man bald ein Hauptproblem der Aufführung, an dem das Tempo vermutlich nicht schuldlos ist: Besonders in den Forte-Passagen will sich partout kein homogener Gesamtklang des Orchesters einstellen, schwimmt alles eher nebeneinander her als einen großen einheitlichen Korpus zu bilden. Das ist schade, wird doch dadurch die tempoinduzierte Frische eher konterkariert, und das Problem zieht sich durch die ganze Sinfonie, selbst durch das Andante, das Windfuhr ebenfalls mit einem enormen Grundtempo ausstattet (schön an den rhythmushaltenden Kontrabässen ablesbar) - daß das Orchester am anderen Ende des Spektrums richtig gute Arbeit zu leisten vermag, beweist der zauberhaft gelungene leise Celloausklang dieses zweiten Satzes. Im Con moto presto an dritter Satzposition verdienen sich die enorm kammermusikalisch agierenden Hörner ein Sonderlob (schlicht, aber gut - und sie nehmen geschickt etwas Tempo heraus, die alte Kritik Herbert Kegels "Die Hörner schleppen!" ins Positive verkehrend). Dafür rast das Orchester dann wieder durch den abschließenden Saltarello, bringt aber ein geschicktes Stop-and-go-Prinzip zum Vorschein und erinnert damit wieder an italienische Verhältnisse, nämlich an den Straßenverkehr in Rom (die in der Literatur beschriebenen Bezüge auf Neapel kann der Rezensent bisher nicht nachvollziehen, da er dort noch nicht war). Die Homogenität im Gesamtklang bleibt aber leider auch hier aus und trübt das insgesamt positive Gesamtbild dadurch ein wenig.
Sommer ist gerade auf der Südhalbkugel, und so sehr hat der Klimawandel auch noch nicht zugeschlagen, daß man die Nacht vom 23. auf den 24. Januar 2009 in Leipzig als Sommernacht bezeichnen könnte. Das macht freilich nichts - "Ein Sommernachtstraum" könnte man auch in der Polarnacht auf den Spielplan setzen, und in der vorliegenden Fassung würden die Herzen der Zuschauer dadurch genügend erwärmt, um einiges an Eis zum Schmelzen zu bringen. Basis ist bekanntermaßen Shakespeares Komödie "Ein Sommernachtstraum", zu welcher der siebzehnjährige Mendelssohn weiland eine Ouvertüre schrieb, die aber eher als eigenständiges Konzertstück denn als Theaterouvertüre bekannt werden sollte. Weitere siebzehn Jahre später entstand dann aber doch eine komplette Theatermusik zum "Sommernachtstraum", in welche die Ouvertüre selbstredend mit einbezogen wurde. Etwas über hundert Jahre vergingen dann, bis sich Franz Fühmann an eine Nacherzählung des Shakespeare-Stoffes machte, und an diese legte Wolf-Dietrich Rammler aktuell noch einmal Hand an, was in der an diesem Abend (und dem Abend zuvor) im ausverkauften Großen Saal der Hochschule aufgeführten "szenisch-konzertanten Lesung" resultierte. Und die machte, soviel sei vorweggenommen, richtig Spaß. Schon Fühmann hatte seine Nacherzählung mit frischem Anspruch, aber Respekt vor dem Original realisiert, und Rammler legte an seine Bearbeitung die gleichen Maßstäbe an (immerhin sind seit Fühmanns Nacherzählung schon wieder einige Jahrzehnte ins Land gezogen, in denen sich der sprachliche Wandel bedeutend rapider vollzog als in den Jahrzehnten und Jahrhunderten zuvor), wobei er sich von offensichtlichen Plattheiten fernhielt, aber trotzdem eine frische und jugendkompatible Version zustandebrachte. Rammler spielt den Erzähler auch gleich selbst und verkörpert den Typus des witzigen, mitunter auch auf freundliche Art leicht anzüglichen Märchenonkels. An seiner Seite hat er Ines Westernströer, Franziska Reicke, Georg Strohbach und Alexander Pensel, vier Studenten, die sich in die weiteren Sprecherrollen hineinteilen und die drei Ebenen des Stückes jeweils mit unterschiedlichen Sprachstilen ausfüllen: Die Elfen haben, von Puck abgesehen, einen französischen Akzent mitbekommen (wenn Oberon Puck anspricht, kommt also ein weiches "Bügg" heraus), das Handwerkersextett, von dem nur vier zu Wort kommen, wird aus verschiedenen deutschen Dialekten zusammengesetzt, und die sechs Bewohner Athens, die allerdings alle sechs sprechen müssen, aber auch nur vier Sprecher zur Verfügung haben, bedienen sich der normalen hochdeutschen Sprache. Dazu kommt eine Handvoll witziger gestischer Elemente, etwa Pucks Flugsimulation oder Demeters Arbeiterdenkmal-Geste bei seiner Vorstellung. Das Orchester hat hier nicht die Funktion, Sprechszenen zu untermalen (an der Textverständlichkeit der Sprecher gibt es ergo auch nullkommanichts zu deuteln), sondern verbindet die einzelnen Szenen miteinander. Die Ouvertüre nimmt Windfuhr dabei wieder äußerst schnell, und das Orchester beeindruckt, daß es die verlangte hohe Geschwindigkeit auch in den leisen Passagen hinbekommt (schnell und laut spielen kann jeder) und auch die Herunterschaltungen sitzen. Ein wenig Verbesserungspotential offenbaren die Holzbläser in ihren Einsätzen der letzten beiden großen Pianoparts: Die vier im ersten Part sitzen alle nicht, von den vieren im zweiten Part dann aber die beiden letzten. Ergänzt wird das musikalische Personal noch durch einen Elfenchor, der nicht schlecht singt, aber etwas Mühe hat, gegen das Orchester akustisch durchzukommen, und zwei Soloelfen (mit einer Kopfgröße Unterschied), von denen Paula Rummel kurzfristig für die kranke Julia Kirchner eingesprungen ist und ebenso wie Christina Bock einen guten Job verrichtet. Und im Hochzeitsmarsch findet sich das Orchester dann plötzlich auch im Forte beim homogenen Musizieren wieder, während man im folgenden Trauermarsch von einer geschickten Herausarbeitung einzelner Einwürfe überrascht wird, die man Jahrzehnte später im Adagio von Mahlers 1. Sinfonie ähnlich wiederfinden wird, und der Rüpeltanz in anderem Kontext tatsächlich für einen anständigen Moshpit getaugt hätte. Allerbeste Unterhaltung ist das, vom Publikum mit langanhaltendem Applaus gewürdigt und mit zwei surrealen Elementen garniert: Im Notturno erklingt mit Kinderstimme exakt in einer Generalpause ein lauter und von Herzen kommender Seufzer von der Empore rechts oben, und vorm Finale schaut von rechts vorn der Hausmeister durch die eine nicht abgedunkelte Scheibe herein, ob denn nun nicht endlich mal Schluß ist, da die planmäßige Schließzeit des Hauses um 22 Uhr bereits überschritten ist. Sollte letzteres etwa auch der Grund für Windfuhrs Tempowahl der Italienischen Sinfonie gewesen sein ...? :-)



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