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Tokyo Geidai Chamber Orchestra   05.10.2006   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Hinter dem Terminus Geidai verbirgt sich die Universität für Musik und bildende Kunst in Tokio, als solche seit 1949 existent, wobei die beiden in diesem Jahr vereinigten Vorgängereinrichtungen, nämlich die Kunstakademie und die Musikakademie, bereits auf das Gründungsjahr 1887 zurückblicken können, eine Periode also, in der die Öffnung Japans für abendländische Ideen und Einflüsse bereits im vollen Gange war, nachdem sich das Inselreich vorher über Jahrhunderte so intensiv wie nur möglich von der Außenwelt abgeschottet hatte, was erst ganz allmählich durch die progressivsten Köpfe der japanischen Gesellschaft aufgeweicht werden konnte. Heutzutage verkörpert Japan eine interessante Kombination aus Progression und Tradition, wobei es schon ein wenig erstaunlich ist, daß beispielsweise europäische Musik in Japan einen immens hohen Stellenwert genießt (und das trifft stilübergreifend zu - man bemerkt dieses Phänomen sowohl im klassischen Bereich als auch beispielsweise im Heavy Metal), während es japanische Künstler außerhalb ihres Heimatlandes immer schwer hatten, einen Fuß auf den Boden zu bekommen (auch das läßt sich wieder stilübergreifend feststellen - wer kennt hierzulande überhaupt einen japanischen klassischen Komponisten, wer kennt außer Loudness hierzulande noch andere japanische Metalbands?), wenngleich dieser Trend mit dem derzeitigen Boom der Visual Kei-Musikszene um Bands wie Mucc oder D'espairs Ray zumindest eine gewisse Gegenbewegung erfährt. Die Geidai-Universität bildet das genannte Szenario ebenfalls getreulich ab, zumindest in ihrer Außenwirkung. Man hat seit Jahrzehnten diverse Kooperationsverträge mit europäischen Hochschulen geschlossen, die dann beispielsweise Dozenten nach Japan entsenden, wohingegen Kiyoshi Okayama erst 2006 eine Gastprofessur an der Wiener Musikuniversität antreten und damit auch die gegenläufige Bewegung in Gang setzen wird. Anno 2003 wurde das Tokyo Geidai Chamber Orchestra gegründet, ein Eliteorchester mit den besten Geidai-Studenten, und auch bei diesem spiegelt sich das geschilderte Szenario, denn in seiner Repertoireliste stehen Dutzende europäische Komponisten, aber mit Toru Takemitsu nur ein einziger Japaner, und der blieb bei der ersten Auslandstournee des Orchesters außen vor. Das wird sich sicherlich mit zunehmender Etablierung des Ensembles in den Folgejahren ändern und damit der Beitrag zum europäisch-japanischen Kulturaustausch an Vielseitigkeit gewinnen, aber es fällt eben doch auf, wenngleich es nicht als Kritik mißverstanden werden soll, denn so ganz hundertprozentig auf Nummer sicher gingen die Japaner bei der Repertoirewahl nun auch wieder nicht (dazu gleich mehr).
Drei Jahre nach seiner Gründung unternimmt das Tokyo Geidai Chamber Orchestra nun also seine erste Auslandstour und spielt dabei in den Hochschulen, mit denen Geidai Kooperationsverträge hat. Daß hierbei Leipzig als erster Ort auf der Liste steht, hat vermutlich nicht nur rein organisatorische Gründe, denn immerhin stammt Gerhard Bosse aus der unmittelbaren Umgebung der Messestadt und hat hier jahrzehntelang als Professor an der Musikhochschule gewirkt (neben seinen sonstigen verpflichtungen, beispielsweise als Konzertmeister des Gewandhausorchesters und damit auch Primarius des Gewandhaus-Quartetts). Seit 1994 arbeitete er als Gastprofessor an Geidai und unterzog sich 2003 der Mühe, das Tokyo Geidai Chamber Orchestra zu leiten, also mit sehr jungen Musikern zusammenzuarbeiten - und das immerhin im Alter von 81 Jahren. Jetzt ist er 84 und denkt noch lange nicht daran, den Dirigentenstab aus der Hand zu legen - wenn man ihn laufen sieht, bemerkt man sein Alter zwar, aber sobald er auf dem Dirigentenpult steht, arbeitet er mit einer Frische, die mancher 30jährige nicht hat und niemals haben wird. Seine unerbittliche Strenge scheint gut zur traditionell disziplinierten japanischen Mentalität zu passen, und so fehlt dem Zusammenspiel an diesem Abend nicht viel zum Perfektionsgrad.
Die erste Hälfte des Konzerts bestreitet das Orchester als reine Streicherbesetzung und eröffnet mit einer Hommage an den bekanntesten Jubilar des Musikjahres 2006, nämlich mit Mozarts Adagio und Fuge c-Moll KV 546 - ein Beispiel für die multiple Nutzung musikalischer Ideen in der Vergangenheit auch bei den ganz Großen (das Covern und gar Selbst-Covern, von Puritanern immer wieder geschmäht, ist keineswegs eine Erfindung der Neuzeit), denn die Fuge hatte 1783 in der Version für zwei Klaviere schon einmal das Licht der Welt erblickt (heute als KV 426 geführt), bevor sie Mozart 1788 für eine Streichquartett- bzw. Streichorchesterbesetzung umschrieb und noch das Adagio davorsetzte. Die Japaner leisten hier gute Arbeit (daß das Adagio für das Eröffnungsstück eines Konzertprogramms mitunter etwas zu schleppend anmutend, dafür können ja die Musiker nichts), aber trotzdem macht das Stück eher den Eindruck eines Warmspielens für das nächste Werk. Mit diesem aber zieht das Orchester eine eher unerwartete Trumpfkarte aus dem Ärmel: Benjamin Brittens "Variations on a theme by Frank Bridge op. 10" steht nicht sonderlich häufig auf den Konzertprogrammen - da müssen also erst die Japaner herkommen, um den Europäern zu zeigen, was die so für gute Musik in den Archiven liegen haben. Der 1941 gestorbene Frank Bridge, das muß man wissen, ist der Lehrer Brittens gewesen, lebte in einem Zeitalter, das größere Umbrüche für die Musik bereithielt, und so entwickelte er sich vom kompositorischen Traditionalisten seiner früheren Tage zu einem Verfechter neuerer Ideen, der etwa Schönbergs Zwölftonmechanik zu adaptieren suchte. Daß er Britten ein recht neutönerisches und wenig einprägsames Thema überließ, war somit relativ klar, und der Nachwuchs entledigte sich der Aufgabe durchaus mit Bravour, wenngleich man aufgrund des erwähnten Charakters des Themas schon ein extrem geschultes Ohr mitbringen muß, um die originale oder verarbeitete Tonfolge in allen Sätzen wiederzuerkennen. Die sind vom Charakter her so unterschiedlich wie nur möglich - vom Wiener Walzer über ein Bourree bis hin zur klassischen Fuge, die das Finale einleitet, hat Britten alles an den Start gebracht und dabei dramaturgisch durchaus ein glückliches Händchen besessen. Nur mit dem Funeral March hat er Pech, denn in der seit der Komposition des Werkes vergangenen Zeit ist die Hörerfahrung auf der depressiven Seite der Musikwelt drastisch gewachsen (immerhin gibt es mittlerweile beispielsweise ein eigenes Genre namens Funeral Doom Metal), so daß sich die intendierte Abgründigkeit dem heutigen Hörer nur noch teilweise erschließen kann. Dafür marschiert der andere Marsch unter den Variationen gleich an dritter Stelle munter durch die Botanik und verdrängt das leicht flaue Gefühl, das sich vorher in Thema und (wen wundert's) Adagio breitzumachen gedroht hatte. Zudem ist das Britten-Werk ein dankbares für die Demonstration der Fähigkeit, extrem leise zu spielen (laut spielen kann jeder, aber die Kunst beweist sich erst im Leisespielen), denn der Komponist hat etliche Stellen eingebastelt, in denen Töne bis zur Stille ersterben sollen, und dieses Ausfaden, wie das heutzutage neudeutsch heißt, bekommen die Japaner ganz exzellent hin.
Solche Mittel hat der Namenspatron der Leipziger Hochschule 100 Jahre zuvor noch eher gemieden: Von Felix Mendelssohn Bartholdy hat das Orchester seine vierte Sinfonie ins Programm gehievt - sicherlich allermindestens unbewußt eine Hommage an die Leipziger. Nun ist diese Sinfonie, geläufiger unter ihrem Beinamen "Italienische", eines der bekanntesten klassischen Werke überhaupt - zumindest das eröffnende Thema des 1. Satzes hat wahrscheinlich jeder schon mal gehört, der sich auch nur ansatzweise im klassischen Metier bewegt. Soll heißen: Um mit diesem Werk aufzufallen, müßten Bosse und seine Studenten etwas ganz Besonderes auffahren. Das gelingt ihnen nicht (wobei die Frage ist, ob sie das überhaupt gewollt hätten bzw. haben), aber sie dürfen sich eine gelungene Umsetzung gutschreiben lassen, die Spaß macht und die italienische Lockerheit an den nötigen Stellen gut herüberbringt, wenngleich es hier und da doch noch einen Tick entspannter hätte zugehen können - aber das hätte weder zu Bosses Arbeitsweise noch zur japanischen Mentalität gepaßt, und man muß schon festhalten, daß die Japaner sowohl mit dem fast choralartigen Thema im zweiten Satz als auch mit dem wild durch die Gegend springenden Saltarello, der die Sinfonie beschließt, gut zurechtkommen. Nur die Cellisten (immerhin fünf an der Zahl) haben in dieser Sinfonie ein paar Schwierigkeiten, sich genügend Gehör zu verschaffen, was den Gesamtklang nach unten hin ein wenig zu sehr ausdünnt, denn die beiden Kontrabassisten machen in ihrem Sektor einen sehr guten Job, können diese akustische Lücke über ihnen aber nicht füllen, und auch bei den Bläsern ist fast ausschließlich die höhere Fraktion stärker besetzt (hier springen sogar noch einige Studenten der Leipziger Hochschule nach gerade mal zwei gemeinsamen Proben ein, da die Japaner überhaupt nur fünf Bläser mit dabeihaben - auf dem Orchesterfoto im übrigens zweisprachig deutsch-japanisch gehaltenen Programmheft sind zumindest sieben abgebildet), so daß auch von dieser Seite aus nach unten hin eine kleine Lücke entsteht. Aber dieses kleine Problem ist nicht überzubewerten, und das Publikum im nahezu voll besetzten Großen Saal der Hochschule (bei freiem Eintritt übrigens) tut dies auch nicht, sondern feiert Bosse und das Orchester ausdauernd, so daß sich die Künstler noch zu einer Zugabe bitten lassen und mit dem Finale der 85. Haydn-Sinfonie dem Publikum den Wunsch implantieren, daß man sich bald wiederhören möge.



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