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Mahler 1   11.11.2008   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Wenn man schon einen Dirigenten am Pult stehen hat, der genetisch aus deutschen und japanischen Bausteinen zusammengesetzt ist, erscheint die Zusammenbastelung eines ebensolchen Konzertprogramms nicht wie eine Idee aus dem Areal hinter den sieben Bergen. Diese Kombination gibt es bei Jun Märkl, seit 2007 neuer Chefdirigent des MDR Sinfonieorchesters, und das 2. Rundfunkkonzert der Saison 2008/2009 entspricht ihrer Zusammensetzung. Dabei sind die beiden japanischen Werke des Abends in der ersten Konzerthälfte versammelt, und in beiden spielt ein in Mitteleuropa eher selten anzutreffendes, in Japan aber weitreichend bekanntes und selbst in der kaiserlichen Hofkapelle vertretenes Instrument eine führende Rolle: die Sho (das o hat eigentlich noch einen Haken drüber, aber im Sinne einer ubiquitären Darstellungsmöglichkeit in den verschiedenen Browsern dieser Welt wird hier auf ihn verzichtet). Dahinter verbirgt sich eine aus China stammende und seit anderthalb Jahrtausenden auch in Japan weit verbreitete Flöte aus 17 Bambuspfeifen, übrigens das erste mehrstimmige Blasinstrument, das die Menschheit jemals erfunden hat. Da die Sho sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen Töne erzeugen kann (man denke an das Prinzip einer Mundharmonika), sind das Halten sehr langer Töne und die Erzeugung von weit dimensionierten Klangflächen möglich, auch vokale Effekte lassen sich erzielen, wie die etwas schulmeisterliche, aber interessante Vorstellung des Instrumentes durch den Dirigenten während des Konzertes zwischen den beiden japanischen Werken zeigt. Zu diesem Zeitpunkt hat man also Toru Takemitsus "Ceremonial" mit dem Untertitel "An Autumn Ode For Orchestra With Sho" schon hinter sich, und es hat sich herausgestellt, daß der Titel korrekt gewählt ist, denn die Sho konzertiert hier nicht mit dem Orchester, sondern bestreitet Intro und Outro solistisch, während im Mittelteil das Orchester herbstliche Weisen von sich gibt. Das tut es in sehr greller Soundfarbe, die auch beim späteren Hinzutreten der Tiefstreicher nur marginal gemildert wird. Einige Holzbläser sind auf den Emporen des leider wieder mal nur halbvollen Gewandhauses verteilt - kein neues Stilmittel, aber in bestimmten Situationen ein wirkungsvolles, und hier schwankt der Eindruck: Einerseits stimmen ohrenhörlich nicht alle Einsätze, andererseits sind wirklich einige zauberhafte Surroundeffekte dabei. Und noch etwas fällt auf: Die Violinen haben an nicht wenigen Stellen quasi die Aufgabe, den Sound der Sho zu imitieren. Selbiges Instrument, von einem phantasiebegabten Kollegen als "himmlisches Bandoneon" bezeichnet, klingt in den Ohren weniger poetischer Menschen wie eine Kreuzung aus einer Mundharmonika und einem Tinnitus, was nicht despektierlich verstanden werden soll. Die Mischung aus ätherischer und sinistrer Anwandlung funktioniert jedenfalls, bisweilen ist die Atmosphäre im Saal so angespannt, daß man die berühmte Stecknadel fallen hören könnte, und das eher kurze Stück endet früh genug, um diese Atmosphäre nicht überdehnt wirken zu lassen.
Hernach folgt die erwähnte Instrumentenvorstellung samt Einführung in das zweite Werk des Abends, "Cloud And Light" von Toshio Hosokawa, und auch hier stellt sich der Untertitel als programmatisch heraus, denn hier heißt es "for Sho and Orchestra", und die beiden Komponenten spielen hier tatsächlich parallel und nicht nur nacheinander. Hatte man als Nichtkenner noch so seine Zweifel im Hinterkopf, wie sich dieses eher leise, ätherische Instrument klanglich gegen ein Orchester behaupten soll, so stellt sich schnell heraus, daß das kein Problem ist: Der Ton der Sho hat einen äußerst durchdringenden Charakter und ist durchaus durchsetzungsfähig. Hosokawa, der auch selbst anwesend ist, räumt dem Instrument allerdings auch gehörigen Freiraum ein, den Mayumi Miyata, in einen strahlend weißen Kimono gehüllt, auch dankbar nutzt. Die Einleitung baut sich aus einem extrem leisen Ton auf, so leise, wie man ihn seit Einojuhani Rautavaaras "Cantus Arcticus" fast zwei Jahre zuvor im Gewandhaus kaum einmal wieder gehört hat, wenngleich die ultimative Erfahrung der Stille in Hosokawas Werk nicht angelegt ist. Immer wieder kommen Windspiele zu Gehör, eine Ahnung von sommerlich flimmernder Luft stellt sich ein (und das mitten im Spätherbst), und auch hier imitieren die Streicher gelegentlich den Klang der Sho. Einzelne harte Zupfer und Drumbeats verdeutlichen, daß es nicht bei der rein meditativen Stimmung bleiben soll, und so entlädt sich im Mittelteil des Stückes denn auch ein Gewitter, wenngleich selbst das noch einen äußerst grellen Sound besitzt. Kreisende Bewegungen mancher Töne haben den rockmusikerfahrenen Hörer an Ozzy Osbournes "Mr. Crowley"-Intro denken lassen, und scheinbar will das Stück friedlich verklingen, bevor doch noch ein weiterer Sturm losbricht, in dem die Violinen wie eine Herde Lemminge klingen. Noch einmal wird der rockmusikerfahrene Hörer fündig, nämlich als die Tonreibungen der Sho an ähnliche Passagen im Orgelpart von Abstrakt Algebras "April Clouds" erinnern. Etliche Male geht es noch auf und ab, aber irgendwie ist die kompositorische Luft nach hinten ein wenig raus; letztlich endet auch dieses Stück ätherisch-friedlich mit der Sho und Glöckchengebimmel. Dem Publikum gefällt's offenbar, aber zu einer Zugabe kann man die Sho-Solistin dann letztlich doch nicht überreden.
Nach der Pause steht die deutsche Komponente des Programms auf selbigem, nämlich Gustav Mahlers 1. Sinfonie. Warum man ausgerechnet diese ausgewählt hat, wird im 1. Satz schnell deutlich, denn hier erlebt man beim Hören eine Überraschung: Bekanntlich liegt hinter der Einleitung längere Zeit ein flirrendes Streicherflageolett auf a - und nachdem man die Sho gehört hat, stellt man plötzlich fest, daß es auch hier klangliche Verwandtschaften gibt, auf die man ohne die direkte vergleichende Hörerfahrung wohl kaum gekommen wäre. Ob Mahler die Sho gekannt hat, darüber sollen die Experten Auskunft geben (es dürfte eher anzuzweifeln sein), aber interessant ist die Parallele allemal. Mahlers 1. Sinfonie erfreut sich in Mitteldeutschland anno 2008 großer Beliebtheit in den Konzertprogrammen, und das MDR Sinfonieorchester setzt der konventionell-soliden Interpretation der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz, der rezensentensitzplatzbedingt eher kammermusikalischen Hörerfahrung beim Philharmonischen Orchester Altenburg-Gera und der technokratischen Version des Boston Youth Symphony Orchestra, die im Gewandhaus erklungen war, eine weitere Facette hinzu, die man mit ein wenig hellseherischem Vermögen vorher schon erahnen konnte. Die Veranstaltungsplakate sind nämlich im Stil alter MGM-Sandalenfilme aus den 50er Jahren gehalten, auf ihnen kommt auf violettem Hintergrund in gelben Monumental-Steinbuchstaben "Der Titan kommt!" aus dem Himmel gefallen - und genauso kantig-schroff wie diese Steine nehmen Märkl und das Orchester die Sinfonie. Das muß man nicht einmal hören, sondern man sieht es auch: Hatte Märkl beide japanischen Werke noch eher "rund", schwingend dirigiert, so verwandelt er sich jetzt in einen kantigen Klotz, ohne jedoch wie ein technokratischer Roboter zu wirken. Auch die Musiker sind alles andere als Automaten - gleich der erste Holzeinsatz im 1. Satz geht nämlich daneben. In der Folge bricht sich der kantig-ruppige Ansatz immer wieder Bahn, was wiederum nicht zuletzt am knochentrockenen Holz festzumachen wäre. Das wäre freilich noch nicht das Hauptproblem, denn selbiges liegt woanders: Die Orchestermitglieder spielen gleichzeitig, aber nicht miteinander - man hat nur selten das Gefühl, einem gemeinsamen Klangkörper gegenüberzusitzen, und das sind meist die lauteren Passagen, die entweder perfekt sitzen oder mitunter die Schwächen einfach zudecken können. Das Scherzo an zweiter Satzposition bietet mit dem schaufelnd-kantigen Beginn wieder einen Beweis für die stilistische Gesamteinschätzung (vor allem die Celli sägen, als gäbe es kein Morgen), aber erstaunlicherweise leidet der Groove darunter kaum, und das Trio gelingt paradoxerweise richtig hübsch weich. Nichts von düsterer Agonie atmet das Adagio mit dem in Moll transformierten "Bruder Jakob"-Kanon - hier kommt man sich eher wie auf einem Hochgeschwindigkeitsmarsch zur Richtstätte vor und fragt sich nur, welcher Teufel den Klarinettisten bei seinen übertrieben blechern-vorwitzigen Themeneinsätzen geritten hat. Aber selbst das paßt irgendwie als Stilmittel: das überdeutliche Herausarbeiten von Kontrasten, das Märkl hier pflegt oder zumindest durchgehen läßt. Und das große Fragezeichen lauert erst im Finale: Warum, warum, warum beginnen die Musiker erst hier, gemeinsam zu musizieren? Gut, die enorme Lautstärke und die Wildheit überdecken auch hier manchen leicht problematischen Einsatz, aber man hat endlich das Gefühl, daß hier eine Einheit auf der Bühne sitzt. Obwohl Märkl den dritten Satz nicht sonderlich weit ersterben läßt, bevor er ihm mit dem Bombastauftakt des vierten in die Parade fährt, erreicht er hier den Dynamikgipfel noch nicht und hebt ihn sich klugerweise für den Schluß auf. Dazwischen fließt viel Energie, aber auch in den leiseren Passagen (oder gerade in diesen) bemerkt man die plötzliche Entdeckung des Gemeinschaftsgefühls auf der Bühne. Nähme man allein diesen vierten Satz, wären die einzelnen Bravi hochverdient gewesen, aber was an Arbeit noch vor dem Orchester liegt, das hat man zuvor in den ersten dreien gehört. Ob die kantige und teils extrem kontrastbetonende Herangehensweise der Weisheit vorletzter oder letzter Schluß ist, mag freilich jeder Hörer anders beurteilen.



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