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Frühling und kein Ende   07.05.2008   Gera, Theater
von rls

Der Frühling ist infolge des Klimawandels in Mitteleuropa vom Aussterben bedroht - der Winter (oder das, was von ihm noch übrig ist) geht nicht selten gleich direkt in den Sommer über, und auch am Tag der Niederschrift dieser Rezension herrschen am Beginn der zweiten Maidekade draußen schon sommerliche Temperaturen. Selbstredend kann die Programmplanungsabteilung zu dem Zeitpunkt, als sie Programm und Konzertmotto erdacht hatte, davon noch nichts geahnt haben (die Militärwetterexperten kümmern sich um solche kleinen Fische ja eher nicht, da sind Wirbelstürme in Burma, die rein zufällig auch noch genau vor einer Pseudoverfassungsreform ausbrechen, schon deutlich wirkungsvoller), und man sollte sowieso nicht erwarten, ein Programm mit direkt frühlingsbezogenen Kompositionen (was man hinter dem Titel durchaus hätte vermuten können) wie etwa Strawinskys "The Rites Of Spring" und dem Mozart-Evergreen "Komm lieber Mai und mache" vorgesetzt zu bekommen. Der Frühling in den drei Werken des Abends hat vielmehr was mit Aufbruch oder auch mit Leichtigkeit zu tun - daß Gustav Mahler die Satzüberschriften seiner 1. Sinfonie und damit auch "Frühling und kein Ende" später wieder gestrichen hat (ebenso wie den Untertitel "Der Titan"), spricht Bände bezüglich einer Gegnerschaft von allzu zaunpfähligen Winken, so daß der Hörer gefälligst selbst zu denken und je nach persönlicher Konstitution auch zu fühlen hat.
Anders Hillborgs "Eleven Gates" bildet den Auftakt des Konzertes, und das auch noch gleich als deutsche Erstaufführung. Hier allerdings sind die Satzbezeichnungen Programm: "Hinübergleiten nach D-Dur", "Plötzlich in einem Raum mit schnatternden Spiegeln", "Stillleben in D-Dur", "Verwirrte Dialoge mit einem Specht", "Plötzlich in einem Raum mit schwebenden Spiegeln", "Hinein in die große offene Weite", "Wiesenlandschaft der traurigen Lieder", "Spielzeugklaviere auf der Oberfläche des Meeres", "Streichquartett im Strudel zum Meeresgrund", "Meeresgrundmeditationen (Flüsternde Spiegel auf dem Meeresgrund)" und "Wellen, Puls und elastische Seevögel" heißen die elf Sätze (eigentlich unlogisch, da zwischen elf Toren ja nur zehn Räume liegen, aber dahingehend deutbar, daß man hinter dem elften Tor wieder am Ausgangspunkt angekommen ist, der dann Raum 0 oder Raum 11 bildet), und das verrät schon viel über die Komposition an sich. Progrock der Frühsiebziger kommt einem da in den Sinn, hier nur halt mit den Mitteln eines Sinfonieorchesters umgesetzt, aber durchaus auch etwa von King Crimson (oder Emerson, Lake & Palmer in extrem experimentierfreudiger Form) interpretiert vorstellbar. Die kristallene Klangfläche am Anfang klingt zwar noch eher nach Tinnitus, aber mit dem Hinzutreten der Tiefstreicher macht sich eine andere Verweisstruktur hin zur "Popularmusik" bemerkbar, nämlich zu Anathemas "Dreaming: The Romance"-Ambient-Mammut. Freilich bleibt es nicht lange dabei, und hinter jedem Tor tut sich eine neue Klangwelt hervor, die zwar gewisse Elemente vorheriger Welten repliziert (vor allem die Tinnitusfläche kommt noch öfter vor), aber auch neue hinzufügt und neue Kombinationen erzeugt. Das überzeugt mal mehr, mal weniger - die Jagdszene hinter dem zweiten Tor ist wenig markant, die Beats in der Folge sitzen aber gekonnt und machen einen paradoxen Vierer-Gleichklang im Hintergrund deutlich. Nicht überzeugen kann das Duett zwischen Oboe und Flöte, weil von letztgenannter praktisch nichts zu hören ist; auch andere Instrumentenkombinationen werfen bisweilen Fragen auf, etwa die aus Klavier, Xylophon, Solovioline und Holzbläsern - die ersten drei Komponenten passen richtig gut zusammen und machen gemeinsam coole Kammermusik, während die parallel spielenden Holzbläser allenfalls eine Wirkung als Störfaktoren entfalten. Orchesterökonomie ist auch nicht so Hillborgs Ding - einer der vier Schlagzeuger hat u.a. einen riesigen Gong, der aussieht wie ein monströser Kanaldeckel, hinter sich hängen, der im ganzen Stück aber genau einmal angeschlagen wird (in den zwei anderen Stücken gar nicht) und noch nicht mal eine markante Wirkung entfaltet. Sei's drum: Gegen Ende hin wird die Stimmung bisweilen düsterer, die Gera-Altenburger unter Eric Solén bekommen eine ansprechende Atmosphäre zustande, der große Perkussivpart kommt trotz ähnlichen Ansatzes zwar längst nicht an das Inferno von Silvestre Revueltas heran, paßt aber trotzdem, und die zweite Dynamiksteigerung bringt das Ende des Werkes mit Nachhallhallhall. Eine generelle Ideenverwandtschaft des Stückes Hillborgs (verwandt oder verschwägert mit Yasin Hillborg, der mit Afflicted anno 1992 ein interessantes Werk für die damalige Zeit komplexesten Death Metals namens "Prodigal Sun" einspielte?) mit Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung" ist nicht zu verkennen, allerdings weist die Tinnitusfläche keinesfalls den rotfadigen Charakter auf, den Mussorgski mit der "Promenade" angelegt hatte. Insgesamt kein Meisterwerk, aber durchaus hübsch anzuhören.
Das letztgenannte Verdikt kann man auch über das zweite Werk des Abends fällen, nämlich das Konzert für Violine, Viola und Orchester e-Moll op. 88 von Max Bruch. Dieser Brahms-Protegé hatte das Kunststück fertiggebracht, noch kurz vor seinem Lebensende 1920 in einem Stil zu komponieren, der nichts enthielt, was nicht auch Beethoven 100 Jahre zuvor schon hätte schreiben können. Das dreisätzige Konzert von 1911 hat er - dieses Wortspiel muß sein - fast völlig bruchlos angelegt, zumindest die ersten beiden Sätze präsentieren sich so harmoniesüchtig wie selten sonst, und Konflikte gibt es bis auf gelegentliche aufbrausende Andeutungen im dritten Satz gar keine zu lösen. Gefällige Orchestersalonmusik also, die als Hintergrund nicht bei der Konversation stört und die auch der klassische Laie problemlos versteht, nur an der weitgehenden Absenz merkfähiger Themen scheitert, wenn man mal von der schwedischen Volksweise "Vermelandsvisan" absieht, die im ersten Satz eine Hauptrolle spielt. Interessanter wäre das Werk vielleicht geworden, wenn man es mit der original angedachten Besetzung gespielt hätte, die anstelle einer Solovioline eine Soloklarinette vorgesehen hat - der Klangfarbenunterschied zwischen den Soloinstrumenten hätte eventuell so manche Wirkungen hervorarbeiten können, die mit der Besetzung Violine und Viola verwischt wird. Aber die beiden jungen Solisten Martin Funda und Florian Richter machen ihre Sache nicht schlecht, wenngleich Richter das körperbetonte Spiel etwas übertreibt - selbst in ruhigeren Passagen schwingt er seinen Körper derart hin und her, als hätten ihn Subway To Sally als Ergänzung zu Frau Schmitt verpflichtet. Die Uraufführung des Konzertes hatte 1912 in einer Veranstaltung der Marine des Deutschen Reichs stattgefunden und war vom Rezensenten als "harmlos, weich, unaufregend, zu vornehm in der Zurückhaltung" bezeichnet worden; über die Reaktion der alten Seebären ist nichts überliefert. Das Verdikt paßt auch auf die Aufführung dieses Abends - gut umgesetzt, aber restlos unauffällig. Ganz nebenbei: Hätte Bruch nicht nach Mendelssohn gelebt, er hätte "Meeresstille und glückliche Fahrt" über dieses Konzert schreiben können ...
Mahlers 1. Sinfonie, die nach der Pause aufs Pult kommt, hatte der Rezensent ein Vierteljahr zuvor mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz erlebt; den Bombastrausch, den die Gera-Altenburger anno 2007 mit Mahlers 2. Sinfonie entfacht hatten, noch im Ohr habend, bildet die fast kammermusikalische Herangehensweise bei der 1. eine gewisse Überraschung, die aber dafür sorgt, daß die Chemnitzer und die Geraer Interpretation praktisch nicht miteinander zu vergleichen sind. Hätte der Rezensent auf der Empore gesessen wie anno 2007, wäre der Klangeindruck möglicherweise auch noch ein anderer gewesen, aber hinten links unter der Empore kommt selbst im Finale nur noch Kammermusik an. Das ist nichts prinzipiell Schlechtes, sondern lediglich eine neutrale Feststellung; immerhin sorgt das Klangbild dafür, daß man manche Details besser wahrnimmt als in "dichteren" Versionen. Die Spannung des ersten Satzes stimmt jedenfalls von Beginn an, nur die Holzbläser agieren anfangs deutlich zu nervös, vom Kuckuck mal abgesehen. Dafür stimmt das idyllische Waldtongemälde (jawohl, es ist Frühling, die Sonnenstrahlen beleuchten die noch hellgrünen jungen Buchenblätter, der Frosch quakt im Waldtümpel, und die Vögel schließen ihr Paarungsverhalten ab), das Fernorchester wirkt anfangs sehr fern, und die Schlußdynamik weckt alle aus ihrer romantisch-schwärmerischen Träumerei. Das vergleichsweise langsame Tempo Soléns fällt auf, und das ändert sich auch im zweiten Satz nicht - man vermutet nicht, daß das zu Mahlers Ländlerthemen passen könnte, aber man wird erneut überrascht, wie gut der fast schwerfällige Charakter seine Wirkung entfaltet. Satz 3 enthält die düsteren Variationen über "Bruder Jakob", die in Soléns Fassung zu einer Art "Gothic light" mit streichelnder Pauke geraten, also - um mal wieder den Populärbereich zu bemühen - im Schaffenskanon von Paradise Lost "One Second" eher entsprächen als "Lost Paradise". Gewisse Unsicherheiten lassen etwa den Part vor dem Harfenthema wackeln, aber der Tanzgestus, der sich nach dem Düsterpart entwickelt, ist von Orchester und Dirigent paßgenau ausgefeilt, und auch die geschickte, wenngleich minimale Tempoverschärfung gegen Ende hin weist auf ein feinfühliges Händchen der Beteiligten hin. Diese generelle Einschätzung soll sich auch durch den 4. Satz ziehen: Ein paar Dinge wackeln (z.B. gleich mehrere Einsätze im ersten großen ruhigen Part des Satzes oder auch das Blech im zentralen Triumphpart), aber viel gelingt gut bis sehr gut (etwa der Übergang zu diesem Triumphpart), das Fernorchester wirkt diesmal irgendwie "näher" als im 1. Satz, und auch die Schlußdynamik stimmt - es ist noch was zum Zusetzen da, obwohl die stehenden Hornisten den fast kammermusikalischen Charakter, der da hinten links ankommt, auch nicht mehr entscheidend verändern. Eine interessante Version und der Abschluß eines interessanten Konzertes, das irgendwie den taugeladenen Charakter einer nächtlichen Frühlingswiese hatte, allerdings ohne die damit zu assoziierende relative Kälte.



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