www.Crossover-agm.de
Bundesjugendorchester   15.01.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Anno 1969 erlebte dieses Orchester seine Geburtsstunde und führt seither, organisiert vom Deutschen Musikrat, die besten jugendlichen Orchestermusiker aus der ganzen Bundesrepublik zu gemeinschaftlichem Musizieren zusammen. Mit den in jährlich drei Arbeitsphasen erarbeiteten Werken versucht man dann natürlich auch auf Tour zu gehen, um einerseits den zwischen 14 und 20 Jahre alten jungen Musikern einen Einblick zu geben, was sie später erwarten wird, wenn sie den Orchestermusikerberuf ergreifen sollten, um andererseits aber auch vor dem interessierten Publikum davon Zeugnis abzulegen, wie es um den klassikmusikalischen Nachwuchs hierzulande bestellt ist. Diese beiden Anliegen trafen sich hervorragend mit einer Veranstaltungsreihe innerhalb des Leipziger Gewandhauses, die Jugendorchestern aus Deutschland und der Welt die Möglichkeit bietet, in einem der schönsten und renommiertesten Konzerthäuser Deutschlands aufzutreten, und so kam es, daß der Tourtroß des Bundesjugendorchesters nach diversen Konzerten im deutschsprachigen Raum und unmittelbar vor dem Weiterflug nach England noch in Leipzig Station machte. Schade, daß die zahlenmäßige Publikumsresonanz in eher überschaubaren Grenzen blieb (das Parkett war zwar fast voll, die Ränge aber fast leer), denn die Nichtanwesenden haben sicherlich etwas verpaßt, zwei Dinge sogar: einerseits ein sehr interessantes Konzert, andererseits aber auch den Beweis, daß die musizierende Jugend zu Glanztaten in der Lage ist, die doch einen recht optimistischen Blick in die Zukunft gestatten.
Aber der Reihe nach: Als erstes Werk stand "Cantus Arcticus" von Einojuhani Rautavaara auf dem Programm, dessen Untertitel "Konzert für Vögel und Orchester" erstmal neugierig macht. Und tatsächlich: Rautavaara hat ein ganz eigentümliches Konzept realisiert, nämlich nicht etwa Vogelstimmen per Orchester simuliert, sondern echte nordfinnische Vogelarten stimmlich per Zuspiel einbezogen. Nur die Ornithologen im Saal (so denn welche anwesend waren) dürften rein anhand des akustischen Eindrucks bemerkt haben, daß es nicht ganz die Originalstimmen waren, die da eingesampelt wurden, sondern Rautavaara hier und da zum Mittel der elektronischen Bearbeitung gegriffen hat, wenn es etwa daran ging, den Gesang der Ohrenlerche auf eine Tonhöhe einzustellen, die zu den Harmonieskalen neuzeitlicher Orchesterinstrumente kompatibel ist. Drei Sätze hat das 1972 komponierte Werk, und der Finne beweist über weite Strecken tatsächlich das Talent, den Hörer akustisch in eine nordfinnische Landschaft zu versetzen, wofür allein schon die raumgreifenden Orchestertutti im ersten Satz "Das Moor" genügten, die auch in jedwedem Roadmovie zur Untermalung entsprechend weiträumiger Szenerien am richtigen Platz gewesen wären und erfolgreich überdeckten, daß sich nicht jeder harmonische Einfall des Komponisten sofort erschließen ließ und sich das Ohr an mancher Stelle ein wenig sträubte, eine planvolle Anlage erkennen zu wollen. Das lag nicht allein am programmatischen Konzept, dem beispielsweise die struppigen Parts im dritten Satz "Der Zug der Schwäne" zuzuschreiben waren, in dessen Mittelteil man tatsächlich bisweilen das Gefühl hatte, in einer riesigen Menge von Schwänen zu stehen, wo einer mehr Krach macht als der andere und es generell recht chaotisch zugeht (ein noch besseres Bild für die Musik hätte freilich eine Pinguinkolonie abgegeben, aber diese Vögel gibt es in Finnlands freier Wildbahn nun einmal nicht). Das völlige Kontrastprogramm zu diesem Chaos aber hatte man bereits vorher im zweiten Satz "Melancholie" am Anfang und dann auch nochmal am Anfang des dritten erlebt: Die eingesampelten Vogelstimmen waren nicht sonderlich laut zu hören (was, wenn das Orchester gleichzeitig zu spielen hatte, mitunter leichte Durchhörschwierigkeiten hervorrief), und so machte sich vor den teilweise minutenlang hinausgezögerten ersten Orchestereinsätzen im Raum eine extrem gespannte Stille breit, in die sich ganz allmählich, minimal an Lautstärke zunehmend, die Ohrenlerche bzw. die Schwäne mischten (man kann das mit Worten nur inadäquat beschreiben). Schon paradox, daß man heutzutage, um eine solche Stille (die ja dann irgendwann eigentlich mal keine mehr ist) zu erleben, ausgerechnet ins Konzerthaus gehen muß, da sich draußen in der Welt kaum noch eine Gelegenheit zu ihrem Erleben bietet. Und ohne Rautavaara zu nahe treten zu wollen: Gerade diese Momente waren das Ultimativste, was sein Konzert zu bieten hatte - was natürlich nicht gegen seine Komposition spricht und auch nicht gegen die sehr engagiert spielenden jungen Musiker.
Für das zweite Werk betrat ein Gastmusiker die Bühne, nämlich der Violinist Kolja Blacher, der die Solopartie in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Violine und Orchester Nr. 2 cis-Moll übernahm. Nun handelt es sich dabei um ein Spätwerk eines der drei großen klassischen Jubilare des Jahres 2006, der beim Komponieren fast 61 Jahre alt war, zwar noch mit den gängigen künstlerischen Konflikten unter dem sowjetischen System zu kämpfen hatte, aber zumindest nicht mehr unter dem lebensgefährlichen Stalinschen Damoklesschwert lebte und aufgrund seines Status auch ein bißchen Narrenfreiheit genoß, so daß man es ihm nicht mal entscheidend ankreidete, als er in seinen späten Sinfonien bisweilen jüdische Traditionen verarbeitete, was in der Sowjetunion nicht unbedingt gern gesehen war. Der Tonfall, den die Solovioline in vielen Passagen dieses zweiten Violinkonzertes aus dem Jahre 1967 (das erste war 1955 entstanden, also noch vor Chruschtschows Entstalinisierungsaktivitäten) anschlägt und der durchaus einen gewissen Touch einer jiddischen Fiedel besitzt, dürfte also sicher kein Zufall sein, und Kolja Blacher schaffte es auch, diesen Tonfall zu reproduzieren. Nachteil: Bisweilen ging dabei die Harmonie mit dem Orchester etwas flöten, hatte man eher den Eindruck, als spielten beide neben- statt miteinander; eine richtige Symbiose wollte sich nicht einstellen, wenngleich es schon etliche richtig gut ausgefeilte Passagen zu bestaunen gab, in denen sich die Solovioline und einzelne Orchestermusiker die Themen förmlich gegenseitig zuwarfen. Aber speziell der zweite Satz zog sich zäh in die Länge wie der sprichwörtliche Kaugummi, ohne daß viel passierte, was irgendwie aufhorchen ließ - das war dann erst dem dritten wieder vorbehalten, und hier bemerkte man auch, welch feines Händchen Schostakowitsch für strukturierten Lärm besaß, der nicht selten an wilde russische Festivitäten erinnerte. Scheinbar überdeckte diese unmittelbare Erinnerung auch das vorausgegangene Gähnpotential, und so wurden Solist, Dirigent und Orchester mit lautem Beifall in die Kabine entlassen.
Nach der Pause ging es wieder zurück nach Finnland, denn die zweite Sinfonie von Jean Sibelius stand auf dem Programm und sollte sich vom Gesamteindruck her zum Glanzstück des Abends entwickeln, wenngleich extraordinäre Momente wie die Erfahrung der Stille bei Rautavaara hier fehlten. Sie wurden ersetzt durch eine hervorragende Gesamtleistung, die auf einem durchgehend als planvoll erkennbaren Vorgehen des Komponisten (immerhin befinden wir uns hier im Jahre 1902, als man den Wert traditioneller Harmonik noch zu schätzen wußte) fußte und ihre Ausprägung durch das auf hohem Niveau musizierende und von Jac van Steen souverän geleitete Orchester erhielt. Raumgreifende Passagen wie die bei Rautavaara hatte Sibelius seinerzeit gleich in größeren Mengen eingebastelt, das große Hauptthema vergißt man, einmal gehört, auch nie wieder, und das Belauschen des Verarbeitungsvorgangs der musikalischen Einfälle macht selbst dann noch Spaß, wenn man entdeckt zu haben glaubt, daß Sibelius in mancher Passage sein Heimweh nach Finnland (er schrieb die Sinfonie in Italien) einfließen lassen hat. Größere Worte erübrigen sich hier eigentlich, und der vierte Satz ist all jenen zur intensiven Begutachtung empfohlen, denen der gleichzeitig agierende spätromantische Kollege Gustav Mahler eindeutig zuviel Krach macht, die aber die Grundenergie trotzdem nicht missen möchten. Sibelius verliert sich gegen Ende hin in tausend und aber tausend Windungen, macht das aber so geschickt, daß man nie den Schlußakkord herbeisehnt, und diese Schleifen immer noch mit klitzekleinen Verstärkungen ausgestattet zu haben ist das letzte Verdienst des Bundesjugendorchesters im regulären Teil dieses Konzertabends, der verdientermaßen mit viel Beifall belohnt wird und noch eine Zugabe nach sich zieht, nämlich ein locker-flockiges Mendelssohn-Scherzo, dessen zugehöriges Werk (nämlich der "Sommernachtstraum") am nächsten Tag in London dann komplett auf dem Programm steht. Auch diese kleine Extra-Übungseinheit erledigen die jungen Musiker mit Bravour (man vergegenwärtige sich nochmals, daß die Jüngsten gerade mal 14 sind - obwohl beispielsweise einer der Cellisten noch deutlich jünger aussieht), und damit erhält das oben am Ende des ersten Absatzes gezogene Fazit seine vollste Berechtigung. Weiter so!



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver