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Solomon Wolkow (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch
von rls anno 2005

Solomon Wolkow (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch

Ein Buch, das es nach Meinung der sowjetischen Kulturfunktionäre der 70er Jahre gar nicht geben dürfte: Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) galt als zwar eigenwilliger, aber doch prinzipiell staatstreuer Komponist, zudem als einer der bedeutendsten Sinfoniker der Neuzeit - und dann das. Schostakowitsch hatte in zahllosen Gesprächen mit dem jungen Musikwissenschaftler Solomon Wolkow umfangreiche Erinnerungen zutage gefördert, in denen er in politischer wie künstlerischer Hinsicht keine Gefangenen machte. Sowohl Schostakowitsch als auch Wolkow war klar, daß ein aus diesen Gesprächen entstandenes Buch in der damaligen Sowjetunion niemals hätte erscheinen können, und so schmuggelte Wolkow das Manuskript in den Westen, wo es letztlich 1979 in den USA das Licht der Buchwelt erblickte. Die sowjetische Seite beeilte sich, das Ganze als Fälschung zu erklären, und auch diverse westliche Musikwissenschaftler waren zunächst skeptisch, ob denn da wirklich Schostakowitsch drinstecke oder nicht vielmehr Wolkow in Gestalt einer Abrechnung nach seiner Ausreise in den Westen anno 1976. Über die Jahrzehnte hinweg machte sich allerdings die Meinung immer mehr breit, es mit "echten" Erinnerungen Schostakowitschs zu tun zu haben, zumal nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion der politische Druck auf sowjetische Künstler, das Buch verdammen zu müssen, weggefallen war und einige auch öffentlich erklärten, ihre frühere negative Meinung über die Echtheit des Buches sei von oben induziert worden. Heute gibt es nur noch einzelne Zweifler, die nicht von der Authenzität dieser Memoiren überzeugt sind - zu ihnen gehört allerdings beispielsweise Irina Antonowna Schostakowitsch, die dritte und letzte Ehefrau des Komponisten, die diese Ablehnung allerdings weniger auf inhaltliche als vielmehr auf strukturelle Argumente stützt. Ihr gegenüber steht ein breiter Kreis von Experten, die von der Echtheit ausgehen, und wir wollen uns für die vorliegende Buchrezension diesen anschließen - jeder Leser ist ja sowieso aufgefordert, sich bedarfsweise ein eigenes Bild zu machen.
Schostakowitsch ist einer der wichtigsten Zeitzeugen für die Entwicklung der Musik in der Sowjetunion, denn im Gegensatz beispielsweise zu Sergej Prokofjew hat er im wesentlichen sein ganzes Leben in diesem Land verbracht, schrieb seine ersten Musikwerke in den Tagen, die die Weichen für das sozialistisch-kommunistische Experiment im seinerzeitigen Rußland stellten. In diesen Memoiren stellt Schostakowitsch sein eigenes Schaffen allerdings gar nicht so stark in den Vordergrund (wenngleich es natürlich trotzdem über weite Strecken präsent bleibt), sondern erinnert sich eher an sein Umfeld, was den Interessantheitsgrad des Buches bedeutend steigert. Mitunter schweift er ein Stück weit ab, aber auch das ist im beschriebenen Kontext eher als Vorteil zu werten. So erfährt der Leser beispielsweise sehr viel über den für die russische Musikwelt des 19. und frühen 20. Jahrhunderts extrem wichtigen, im Westen aber nahezu unbekannten Komponisten und Dozenten Alexander Glasunow. Auch Namen wie Wsewolod Meyerhold (bedeutendster russischer avantgardistischer Theaterregisseur, wie zahllose andere Intellektuelle in der Stalinzeit immer weiter eingeschränkt, verfolgt und schließlich ins Straflager gesteckt, wo er 1940 starb) oder Michail Tuchatschewski (eine der zentralen Heldenfiguren des Bürgerkriegs, später General und Organisator der Roten Armee, 1937 hingerichtet) sind hierzulande nur noch einigen Spezialisten (in diesem Falle Theaterfachleuten respektive Militärexperten) ein Begriff, und es ist das Verdienst des Buches, dem Leser außer über die Person Schostakowitschs auch und gerade über solche Personen detaillierte Informationen zu übermitteln (in den Anmerkungen sind zu ihnen noch einmal einige zentrale Daten und Informationen zusammengefaßt). Schostakowitsch hält dabei mit seiner Meinung nicht hinterm Berg (da er sich ausbedungen hatte, daß das Manuskript erst posthum veröffentlicht würde, brauchte er das auch nicht); auch bei Menschen, die er persönlich sehr schätzte, behielt er bezüglich ihrer Eigenschaften und der Bewertung ihres Schaffens die Fähigkeit zur Differenzierung.
Vom musikalischen Schaffen in der Sowjetunion nicht trennbar zu betrachten sind die politischen Vorgänge, und auch hier wirft der Komponist Schlaglichter in finsterste Epochen (nicht nur, aber natürlich zentral die stalinistische). Die Verfolgung der Intellektuellen, sofern sie sich nicht nahtlos in die Parteilinie einreihten, nahm zu dieser Zeit in anderen Staaten später kaum wieder reproduzierte Ausmaße an, und der Generalissimus Stalin hatte sowieso in jedem Falle recht; Schostakowitsch beschreibt allerdings auch recht detailliert die Szenerie, als es um die Schaffung einer neuen Nationalhymne für die Sowjetunion ging, die in einem Wettbewerb zwischen fünf Komponisten bzw. Teams entschieden werden sollte und wo es Schostakowitsch in der Auswahldebatte kurzfristig gelang, Stalin (der im Vorfeld angeordnet hatte, daß Schostakowitsch und Aram Chatschaturjan nicht nur jeder eine Hymne einreichen, sondern auch noch eine gemeinsam komponieren sollten - das entspräche im heutigen Maßstab ungefähr der Forderung, daß Morbid Angel und Bon Jovi gemeinsam die neue US-Hymne schreiben sollten) als klassischen Unwissenden darzustellen - allerdings nicht lange, dann bekam der Generalissimus wieder Oberwasser. Warum Schostakowitsch, der 1936 und 1948 (im letzteren Jahr wegen "Formalismus", über den später ja auch in der DDR eifrigst debattiert und das Fallbeil geschwungen wurde) intensiv angefeindet wurde, den "Säuberungsmaßnahmen" nicht auch zum Opfer fiel, ja nicht einmal verhaftet wurde, bleibt in der retrospektiven Betrachtung rational unerklärbar; möglicherweise spielte seine Popularität auch im westlichen Ausland eine Rolle, so daß man ihn nicht einfach wie Tausende andere, die im Ausland keiner kannte, verschwinden lassen konnte. Trotzdem gab es auch für Schostakowitsch schwere Rückschläge, seine Gesundheit war schon seit der Kindheit angegriffen, und diese Situationen spiegelten sich auch in seinen Werken, deren Interpretation noch heute intensivsten Fehldeutungen unterliegt, von denen der Komponist einige deutlich macht. Die bekannteste: Schostakowitschs Siebente Sinfonie würde den bitteren Kampf um Leningrad im Zweiten Weltkrieg musikalisch darstellen (der Beiname lautet dementsprechend auch "Leningrader Sinfonie") - der Komponist allerdings hatte in der Realität die Situation vor dem Krieg, also die ähnlich bittere Zeit der Stalinschen "Säuberungen", in der ebensowenig jemand seines Lebens sicher war wie im Krieg, abzubilden versucht. Das Image als "sowjetischer Staatskomponist", das man ihm im Westen gerne anzuhängen versuchte, hätte eigentlich spätestens mit der Neunten Sinfonie bröckeln müssen - geschrieben nach dem Krieg, wurde eben gerade keine strahlende Siegesfeier daraus, wie es die sowjetischen Verantwortlichen eigentlich erwartet hatten, sondern erneut ein bitteres, leidendes Werk. Andere von Schostakowitsch behandelte realsowjetische Phänomene sind neben ihrer eigentlichen inhaltlichen Bedeutung auch methodologisch wichtig (also für Menschen, die sich wissenschaftlich mit der Sowjetunion befassen). So war es zu Stalins Lebzeiten üblich, in der zentralen Zeitung "Prawda" (das heißt übersetzt paradoxerweise "Wahrheit") lobhuldigende Artikel über das Wissen, die Qualitäten und das alles überragende geniale Können des Generalissimus Stalin auf allen möglichen und unmöglichen Gebieten abzudrucken - und zwar oft, ohne daß die dort als angeblicher Autor Genannten davon eine Ahnung hatten. Auch Schostakowitsch las in der Zeitung solche Artikel, die angeblich von ihm stammten, von denen er aber nicht das Geringste wußte (und das lag nicht am Alkohol - auch über diesen und seine Wirkung auf die russische Seele im allgemeinen und die russische Komponistenseele im besonderen läßt sich Schostakowitsch aus), weshalb in bezug auf den Quellencharakter solcher Verlautbarungen äußerste Vorsicht geboten ist - auch offizielle Reden wurden häufig eher von Staatsfunktionären geschrieben, und im Gegensatz zu heute, wo sich Politiker und andere hohe Tiere ihre Redenschreiber danach aussuchen, ob sie ihre Sichtweisen adäquat transportieren können, bzw. die Redenschreiber sich ihren Auftraggebern meinungsseitig anpassen, war seinerzeit die Übereinstimmung der Intentionen des Schreibers und des Redners keinesfalls die Regel, sondern bisweilen eher die Ausnahme. Solche Quellen müssen also mit kritischer Vorsicht ausgewertet werden; Wolkow hat dies, wo nötig, getan und der Schreiber der deutschen Einführung, Michael Koball, ebenfalls. Die Übersetzung von Schostakowitschs Sprache in eine gut lesbare Schriftsprache ist Wolkow gelungen, wenngleich der Beweis, wieviel Inhalt nun tatsächlich von Schostakowitsch stammt und welche abrundenden Details Wolkow eventuell noch hinzugefügt hat, aufgrund des Fehlens originaler Tonbandaufzeichnungen (das wäre in den Siebzigern in der Sowjetunion hochgradigst gefährlich gewesen) niemals wird erbracht werden können. Wolkow beschreibt in seinen einführenden Worten allerdings seine tiefe persönliche Hochachtung vor Schostakowitsch und hat auch in dem Jahrzehnt vor der Niederschrift dieser Erinnerungen viel für die Musik des Komponisten getan, so daß man ihm nicht unterstellen sollte, ein verfälschtes Bild zu zeichnen beabsichtigt zu haben. So sind die etwas über 400 Seiten (auch ein Bildteil ist in der vorliegenden Taschenbuchausgabe enthalten) ein eindrucksvolles Dokument der russisch-sowjetischen Kultur- bzw. Musikgeschichte und als solche von unschätzbarem Wert, wenngleich ihre kritische Würdigung anhand anderer Quellen selbstredend eine unabdingbare Aufgabe darstellt. Auf jeden Fall aber hilft das Buch dem westlich geprägten Leser, einige russische bzw. sowjetische Eigenheiten besser oder überhaupt erst zu verstehen, was es über sein eigentliches Sujet hinaus sehr wertvoll macht.

Solomon Wolkow (Hrsg.): Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch. List Verlag 2003. ISBN 3-548-60335-1. 448 Seiten. 9,95 Euro
 






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