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Grosses Concert Serie IV/5   16.04.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Thomaskantor Georg Christoph Biller wechselt mal kurz seinen Dienstort und steht an diesem Abend nicht vor dem Thomanerchor, sondern vor dem Gewandhausorchester - für ein Grosses Concert mit einem relativ eigentümlichen Programm, wenngleich es irgendwie logisch anmutet: Bach als Amtsvorgänger Billers und Reger als Bach-Verehrer - das müßte doch eigentlich eine Linie ergeben. Tut es irgendwie auch - und doch irgendwie auch wieder nicht. Klingt kryptisch? Ist es auch - also der Reihe nach. Biller setzt von Bach eine Kantate aufs Programm, aber eine der außergewöhnlichsten: "Mer hahn en neue Oberkeet" BWV 212, die Bauernkantate, ein themengemäß etwas ruppig-burschikoses Werk, das sich irgendwie so gar nicht in die Theorie des künstlerisch hochstehenden, ja extrem anspruchsvollen Spätwerk Bachs einfügen mag (eine Theorie, die u.a. durch das "Musikalische Opfer" oder "Die Kunst der Fuge" genährt wird). Sicher, es war nur eine Auftragskomposition (nämlich zur Übernahme des Rittergutes Kleinzschocher, heute kein Dorf mehr, sondern längst ein urbanisierter Stadtteil Leipzigs, durch einen neuen Herrn, nämlich Carl Heinrich von Dieskau, anno 1742), aber auch solche bildeten eine Herausforderung für den Komponisten, und dieser versuchte den schwierigen Spagat, Eingängigkeit zu erzielen, aber trotzdem mal vorder-, mal hintergründig nicht auf Anspruch zu verzichten. Hat sich Bach dieses Spagates noch gekonnt entledigt, so steht Biller vor der nicht minder schweren Aufgabe, was er aus der Vorlage machen soll - ein leichtes Stückchen in Schwank-Manier oder ein hochernstes klassisches Werk. Er entscheidet sich für einen lavierenden Kurs zwischen beiden Extremen und damit für eine nicht unproblematische Strategie. Christine Wolff, eine Art Carmen in Blaßlila, versucht ihre Rolle der Mieke (eine Dorfbewohnerin, die aber eher mit der Urbanität kokettiert) auch szenisch anzudeuten, Stephan Genz, der einen klassischen Bauern zu geben hat, geht allerdings wenig darauf ein - diese Kombination könnte man fast als Absicht deuten, wenn man sich tiefenpsychologisch mit dem Verhältnis von Land- und Stadtbevölkerung auseinandersetzt. Gesanglich freilich haben sowohl die Sopranistin als auch der Bariton arge Probleme, sich verständlich zu machen - in den Arien haben sie gegen das Orchester keine Chance, und dabei ist dieses schon extrem klein besetzt: acht Violinen, vier Bratschen, drei Celli, ein Kontrabaß, dazu noch eine Traversflöte und ein Horn (die aber jeweils nur einen punktuellen Einsatz haben) sowie zwei Cembali, die scheinbar am meisten des Gesanges zudecken, selbst wenn sie nur im Einleitungs- und im Schlußteil beide gleichzeitig spielen und sich ansonsten in Rezitativ- und Ariencembalo aufteilen, wobei Biller selbst das erstere spielt. Auf Textverständlichkeit braucht man von vornherein gar nicht zu hoffen (und das, obwohl Texter Picander nur das erste Duett in Sächsisch geschrieben hat - übrigens keineswegs in einem typischen Leipziger Sächsisch, das man an dieser Stelle eigentlich erwartet hätte), aber dafür gibt es ja zumindest den Textabdruck im Programmheft. Zu bewerten ist die sängerische Leistung ob der Wenig-Hörbarkeit allerdings beim besten Willen nicht, und das scheint auch weiten Publikumskreisen so zu gehen - jedenfalls erhält der Flötist, der in der Klein-Zschocher-Arie allerdings wirklich erstklassig-luftige Arbeit abliefert, am Schluß den stärksten Applaus. Nur einzelne Elemente hinterlassen akute Fragezeichen: Genz interpretiert beispielsweise die Arie "Fünfzig Taler bares Geld" mit einer derart harten Artikulation, wie es kein sächsischer Bauer aussprechen könnte, während Wolff in der Wiederholung des Eingangsparts der Klein-Zschocher-Arie völlig neben der Spur landet, während sie im Mittelteil ihre wohl beste Leistung der gesamten Kantate bringt und im positiven Sinne an einen fruchtbringenden Engel erinnert (dessen Wirken sie an dieser Stelle zu verkünden hat). Mehr oder freiwilliges Schmunzeln erzeugt hingegen das Rezitativ "Das klingt zu liederlich", das seinem Namen unglücklicherweise alle Ehre macht, indem das Horn hier allen anderen Beteiligten keine Chance zur Entfaltung läßt, und in der Rezitativpassage "Der Herr gilt bei der Steuer viel" steckt der humoristische Kulminationspunkt von Billers Aufführung, denn die klingt sowohl im Gesang als auch im Cembalo so schräg, daß der Bund der Steuerzahler einen Dankesbrief für gelungenen Frustabbau schicken müßte. Trotzdem hinterläßt die Aufführung unterm Strich mehr Fragen als Antworten.
Max Reger hatte sich, als er vor etwas mehr als hundert Jahren sein Amt in Leipzig als Leiter eines universitär angebundenen Chores übernahm, mit seiner Parole "Bach statt Bruch" beim alkoholseligeren Teil der Sängerschaft (und nicht nur dort) keineswegs nur Freunde gemacht - mit der Bauernkantate wäre das vielleicht noch gegangen, aber die ist nun leider kein Chorstück. Ambivalente Reaktionen war der Komponist allerdings gewöhnt, und auch in Bezug auf seine Sinfonietta A-Dur spalteten sich die Meinungen zwischen Euphorie und totaler Ablehnung. Die Wahrheit liegt in diesem Falle nicht in der Mitte: Regers Erstlingswerk im Großorchesterfach (es sollte eines von nur wenigen bleiben, und sein Ziel, eines Tages eine Sinfonie zu schreiben, die alle Exempel des 19. Jahrhunderts in den Schatten stellt, verfehlte er deutlich) entspricht im klassischen Bereich ungefähr dem, was Blind Guardian 2002 mit "A Night At The Opera" für den Heavy Metal herausgebracht haben: Vor dem Hörer steht ein gewaltiger, nahezu griffloser Monolith, der wenig strukturelle Hilfestellung zur Erschließung bietet. In den 50 (Reger) bzw. 60 (BG) Minuten passiert je nach Herangehensweise viel zu viel oder aber quasi nichts, wenngleich etliche interessante Elemente unterm Strich doch noch dazu führen, daß man nicht nach dem ersten Viertel frustriert abschaltet. Sowas wie Themenentwicklung oder eine Art roten Faden findet man jedenfalls nicht und hangelt sich demzufolge immer haarscharf am Abgrund entlang über die wenigen Griffe und Tritte, zu denen bei Reger beispielsweise die an manchen Stellen fast orientalisch anmutende Melodik gehört, die man bereits im sanften, aber trotzdem punktiert rhythmisierten Anfang des eröffnenden Allegro moderato quasi Allegretto findet. Immer wieder stolpert man über nicht ausgespielte Themenansätze, und etliche Generalpausen bringen auch alles andere ins Stück, nur keine Ruhe. Die epische Breite nach Generalpause 1 entgleitet und zerfasert Biller, die nach Generalpause 2 hat er dann sicher im Griff. Fast harfenartige düstere Pizzikati der Streicher dominieren viele entscheidende Stellen dieses ersten Satzes ("Grundtonriffing" würde man heute in anderem Kontext dazu sagen), der strukturierte Lärm in seinem Mittelteil hat irgendwie einen altertümlichen Anstrich, und den episch-ruhigen Satzausklang läßt Biller seine Leute richtig schön streicheln. Deutlich monolithischer fällt das Allegro vivace an zweiter Satzposition aus, was man anhand der Einleitung noch nicht ahnt - unter der liegt lange Zeit ein schwerer Grundbeat trotz hoher Musiziergeschwindigkeit einzelner Instrumentengruppen darüber. Später erfolgt aber eine Gliederung fast nur noch anhand der Laut-leise-Dynamiken, und die verschleiert Biller eher, als daß er sie ausspielen läßt. Das Trio bekommt keine Ruhe in den Satz hinein, erst die sehr starke tiefstreicherdominierte Passage, in der man sich wohlig an Grieg erinnert, schafft das. Der Rest des Satzes gerät dann wieder zum nicht weiter bemerkenswerten Monolithen. Das Larghetto besticht anfangs wieder mit einem perfekt sitzenden Kammermusikintro, auch das breite Orchesterschwelgen leitet Biller mit sicherer Hand, bevor Konzertmeister Sebastian Breuninger zur Solovioline greift. Er wiegt sich enthusiastisch, wirkt für seine eher episch determinierte Rolle bisweilen fast zu nervös, spielt aber klasse, wenn man ihn denn hört, was, wenn er viel Orchester hinter sich hat, nicht der Fall ist, denn auch seine Violinkollegen spielen hier con sordino und nähern sich seinen Linien akustisch stark an. Auch dieser Satz beginnt ideenseitig schnell zu verflachen und wird zum Monolithen, wenngleich zu einem etwas anderer Bauart als seine Vorgänger. Das abschließende Allegro con spirito deutet Hochgeschwindigkeit an, bleibt im Grundbeat auch schnell, braust dahin und reicht gar bis in eine nervöse Überdrehtheit hinüber. Die Ausprägung von Konflikten bleibt hier für Reger-Verhältnisse auf erstaunlich niedrigem Niveau - allerdings bleiben die, die es dann doch gibt, auch ungelöst. Einige Triumphe läßt der Komponist andeuten, aber sie sterben einen schnellen Tod, und die Komposition holpert ihrem Ende entgegen. Biller scheitert an der Aufgabe, dem Werk irgendeine Art von Spannungsbogen zu implantieren - er muß scheitern, weil Reger das offensichtlich nicht als Aufgabe angesehen hat. Das Leipziger Publikum im fast vollen Gewandhaus spürt die Ambivalenz scheinbar auch: Es applaudiert deutlich stärker als bei Bach, allerdings nur sehr kurz, wobei Breuninger den stärksten Applaus und ein einzelnes Bravo erntet. Das paßt zum kryptischen Gesamtbild, das in der Erinnerung von diesem Konzert hängenbleibt.



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