www.Crossover-agm.de BLIND GUARDIAN: A Night At The Opera
von rls

BLIND GUARDIAN: A Night At The Opera    (Virgin)

Der CD-Titel läßt Schlimmes erahnen. Hatten Blind Guardian sich nach dem Meisterwerk "Imaginations From The Other Side" in puncto Komplexität nochmals zu steigern versucht, was in das völlig überambitionierte und vor allem, aber nicht nur soundtechnisch total überfrachtete Desaster "Nightfall In Middle-Earth" mündete, so könnte man hinter dem Namen der neuen Scheibe einen nochmaligen opernhaften Bombastschub, gegen den Wagners "Ring, der nie gelungen" fluffige Easy Listening-Mucke darstellt, vermuten. Glücklicherweise verschafft bereits der erste Hördurchlauf von "A Night At The Opera" diesbezüglich Entwarnung: Trotz der im Blätterwald pflichtschuldig und wenig kritisch über "Nightfall ..." ausgeschütteten Lobeshymnen (einzig das United Forces verfiel ins andere Extrem und kanzelte die Scheibe selbst für meine Begriffe zu stark ab) haben Blind Guardian offenbar selbst realisiert, daß diese CD ein Schritt zu weit war, weshalb sie mit der neuen wieder einen halben zurückgegangen sind. Das betrifft zunächst die Produktion, die trotz erneut übereinandergelegter 100 plus x Spuren wieder deutlich mehr an das glasklare Soundgewand von "Imaginations ..." erinnert als an die verwaschene, beispielsweise nahezu keine Rhythmusgitarre mehr erkennen lassende Klangwand von "Nightfall ...". Die auf "Nightfall ..." der Story geschuldeten Narrationen und sonstigen Zwischenspiele wurden auf der neuen CD zugunsten einer aus zehn Einzelsongs bestehenden Struktur eliminiert, was dem generellen Zusammenhalt des Albums nicht nur keinen Abbruch tut, sondern ihn in gewisser Weise sogar fördert - ein Aspekt, der im weiteren Verlaufe noch nähere Betrachtung erfahren wird.
Daß Blind Guardian schon immer große Queen-Fans waren, ist bekannt. Nicht umsonst tauchte als Bonustrack der "Somewhere Far Beyond"-CD anno 1992 ein Cover von "Spread Your Wings" auf, das im Gegensatz zu seinem damaligen Counterpart "Trial By Fire" (im Original von der britischen Underground-Legende Satan, aus denen später direkt Blind Fury und Pariah sowie indirekt Skyclad hervorgehen sollten) auch auf der vier Jahre später erschienenen Raritätensammlung "Forgotten Tales" verewigt wurde, damit ein Indiz liefernd, daß die Queen-Inspirationskette weiter Bestand hatte. "A Night At The Opera", seinerzeit viertes Queen-Album, wiederum griff inspirationstechnisch im Titel auf die Marx Brothers zurück, was Mercury & Co. mit dem Nachfolgealbum noch steigerten, indem sie dieses "A Day At The Races" nannten. Inwieweit diese Bezugskette von den Marx Brothers auf Blind Guardian durchgängig weitergeführt werden kann, muß ungeklärt bleiben; zumindest in den Songtiteln lassen sich derartige Parallelen nicht entdecken. Für Queen bedeutete "A Night At The Opera" den endgültigen Durchbruch in Form der Single "Bohemian Rhapsody", welche auf eine neuartige Weise Klassik und Rockmusik verband (was Jon Lord und Deep Purple in der "großen Form", also als abendfüllendes Werk, 1969 mit dem "Concerto For Group And Orchestra" bereits vorexerziert hatten). Nun waren Blind Guardian noch nie eine single-orientierte Band - der Versuch, 1996 mit besagtem Raritätenalbum in der Hinterhand einen Hit mit dem Cover "Mr. Sandman" zu landen, ging aufgrund businesstechnischer Ungereimtheiten völlig ins Beinkleid -, und ein Song des potentiellen Status von "Bohemian Rhapsody" läßt sich auch nach dem x-ten Hördurchlauf auf "A Night At The Opera" nicht ausmachen. Große Teile des Songmaterials werden schon an den Hörgewohnheiten der breiten Masse scheitern, für die der komplexe Speed Metal der vier Krefelder ganz einfach zu extrem sein dürfte (selbst in Zeiten zunehmender Beliebtheit der brutalen Powerkracher eines Wolfgang Petry), allerdings kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu, den sich die Band selbst zuzuschreiben hat: Sie hat zwar im Vergleich zum Vorgänger-Album den Metal-Anteil wieder erhöht, aber auch den Austauschbarkeitsfaktor immens nach oben geschraubt. Von den zehn Songs laufen lediglich die Halbballade "The Maiden And The Minstrel Knight" (ganz nett, aber nichts, was sie mit "Lord Of The Rings" oder "A Past And Future Secret" nicht schon besser gemacht hätten) und das 14minütige Monster "And Then There Was Silence" (konsequenterweise am Ende des Albums stehend) etwas neben der Konkurrenz her, der Rest enthält zahlreiche in erschreckendem Maße austauschbare Passagen vor allem in den Strophen- und Zwischenspielparts, so daß man vor dem nächsten Refrain streckenweise arg die Orientierung verliert, ob man nun in "Under The Ice", in "Battlefield" oder gar noch in "Precious Jerusalem" ist, von Rückgriffen auf Elemente vorheriger Alben ganz zu schweigen. Hier beginnt sich die Arbeitsweise von Blind Guardian langsam zu rächen, nur noch durchkomponierte Lieder zu schreiben - der Ideenfundus ist nicht eben endlos zu nennen, das stilistische Spektrum alles andere als uneingeschränkt, und wenn man dann noch hochkomplexe, aus vielen Einzelteilen zusammengebaute Kompositionen erschaffen will, dann ist die Gefahr der Wiederholung geradezu immens. Genau dieser Gefahr konnten Blind Guardian mit "A Night At The Opera" (immerhin 67 Minuten lang) nicht mehr ausweichen. Sie haben es nicht geschafft, den Songs eine eigene Identität zu verleihen, ihnen (außerhalb der Refrains, und selbst die ähneln sich phasenweise stark) unverwechselbare Elemente einzupflanzen. Die einzige Ausnahme unter den bei diesem Aspekt der Kritik zur Disposition stehenden acht Tracks bildet hierbei (neben einigen Ansätzen in "Under The Ice" und "Punishment Divine", u.a. das leider völlig unter Wert verkaufte mitpfeifkompatible Gitarrenlead nach dem ersten großen Exzelsior im Mittelteil des letztgenannten) "Age Of False Innocence", das mit getrageneren Passagen zu Anfang und Ende wirkungsvolle Kontraste zum furiosen Hauptsolo setzt.
Die Fähigkeit, wirklich individuelle und hochgradigst wiedererkennbare Songs zu schreiben, war bei Blind Guardian eigentlich seit ihren Anfangstagen stark ausgeprägt und selbst auf "Nightfall ..." mehr als deutlich auszumachen. Die Band scheint nach "Nightfall ..." einerseits gemerkt zu haben, daß sie eben keine Progressive Metal-Band ist (ich erinnere mich an eine Selbsteinschätzung in einem Interview zu "Imaginations ...", nach der außer Drummer Thomen keines der Bandmitglieder zur absoluten Oberklasse an seinem Instrument zu zählen sei) und deshalb die gewaltige Komplexität der Instrumentalarbeit wieder etwas herunterschrauben muß, andererseits aber verkannt zu haben, daß sie auch auf dem kompositorischen Gebiet eben keine Progressive Metal-Band ist. Daß sie das mit großen Anstrengungen könnte, zeigt die Minioper "And Then There Was Silence", wo Blind Guardian quasi alle ihre verfügbaren Stilelemente zu einem gewaltigen Ganzen geschmiedet haben. Aber eine CD mit vier Stücken von dieser Kategorie und meinetwegen noch "Under The Ice" dazu wäre als Ganzes genauso monoton, wie es "A Night At The Opera" in seiner nunmehrigen Darreichungsform geworden ist. Ich hätte nie gedacht, in Verbindung mit Blind Guardian einmal den Begriff "Monotonie" in den Mund bzw. die Tastatur nehmen zu müssen, aber große Teile von "A Night At The Opera" stehen wie ein riesiger zerklüfteter Klotz vor mir und wirken alles andere als einladend. Sicher, das alles ist kompetent eingespielt, auch mit nicht zu überhörender Spielfreude - aber es wirkt verkopft, verkrampft, einem Zwang folgend, mühsam konstruiert, nicht organisch gewachsen. Ich werde mir in einigen Kreisen sicher wenig Freunde machen, wenn ich, der ich "Tales From The Twilight World" oder selbst "Follow The Blind" immer wieder aufs neue mit restloser Begeisterung rauf- und runterhören kann und "Imaginations From The Other Side" als perfekt gelungenen Spagat Blind Guardians zwischen Eingängigkeit und Anspruch kennzeichne, "A Night At The Opera" als ähnlich, wenn auch auf andere Weise überambitioniert wie "Nightfall In Middle-Earth" kennzeichne und eine erneute gewaltige Enttäuschung in mir feststelle. Das Bild auf der Rückseite des Booklets zeigt die Bandmitglieder schlafend in den leeren Zuschauerreihen des Opernhauses - ein geradezu paradoxer Gleichklang zum Tenor meiner Kritik.

Tracklist:
Precious Jerusalem
Battlefield
Under The Ice
Sadly Sings Destiny
The Maiden And The Minstrel Knight
Wait For An Answer
The Soulforged
Age Of False Innocence
Punishment Divine
And Then There Was Silence
 





www.Crossover-agm.de
© by CrossOver