www.Crossover-agm.de
Marillion   12.02.2009   Berlin, Kesselhaus
von ta

Marillion-Fans gehören zu der sehr treuen Sorte. Der jüngst veröffentlichte Doppeldecker "Happiness Is The Road" war schwer anders als über die website der Band zu erwerben und ist auch alles andere als eine Offenbarung, aber das in einer atmosphärischen Hinterhofanlage mit Bratwurststand gelegene Berliner Kesselhaus ist an diesem kalten Februartag dennoch knackevoll bis auf die oberen Ränge. Dass Marillion das jeweilig neue Album in der Livesituation sehr selbstbewusst behandeln, ist bekannt. So überrascht es denn auch nicht, dass von den fünfzehn am 12.02.09 kredenzten Stücken sieben auch auf "Happiness Is The Road" zu finden sind.
Das Doppel aus "Dreamy Street" und "This Train Is My Life" lässt den Gig ebenso behäbig starten wie das Album, aber die kleinen Unterschiede machen das Dabeisein noch unterhaltsamer als in der Albumfassung: Hier und meist im Mittelpunkt der dauergrinsende und nach wie vor stimmgewaltige Frontgaul Steve "h" Hogarth, der in goldgelb glitzerndem Glam Rock-Outfit und mit blaulackierten Fußnägeln angenehm geschmacklos über die Bretter gleitet, immer einen lockeren Spruch auf den Lippen; dort der dauerpumpende Pete Trewavas, die personifizierte Spielfreude - und bei den fehlenden drei Fünfteln reicht es, wenn sie einfach nur ihre Instrumente bedienen: Steve Rothery gewohnt in seine perfekt dargebotenen Soli versenkt, Mark Kelly beinahe schüchtern hinter seiner Synthieburg. Von Schlagzeuger Ian Mosley bekommt man optisch ja von jeher wenig mehr als den Haarkranz mit. Auf einer Leinwand hinter der Band laufen Videos zur Musik, die das volle Programm von anspruchsvollem Geschichtenerzählen bis zu billigem Media Player-Geflimmer mitnehmen. Eine angenehme Ergänzung, wenngleich nicht zwingend nötig.
"The Other Half" von "Somewhere Else" wird in einer tempomäßig enorm angezurrten Variante von der Leine gelassen und geht als erste Nummer des Abends auch in die Beine, ehe mit "Essence" der nächste neue Track folgt, dessen erste Hälfte live deutlich aggressiver als auf dem Album wirkt. Je weiter der Song fortschreitet, desto mehr fragt man sich allerdings auch in Berlin am 12.02.09, wo dieser Song eigentlich enden soll. Da wirkt das zarte "Fantastic Place" von der Offenbarung "Marbles" viel fokussierter, wenngleich es in der Livefassung deutlich an Glanz verliert. Verwirrt muss ich feststellen, dass es, obwohl bereits eine halbe Stunde vergangen ist, noch keinen richtigen Höhepunkt in der Setlist gab. Auf der "Somewhere Else"-Tour in Köln war der erste Höhepunkt gleich der erste Song.
Anschließend wäre etwas Rockiges passend gewesen, es folgt aber "Beautiful", die latent kitschige Single des "Afraid Of Sunlight"-Albums. Unterhaltsam ist die perfekt zwischen Selbstironie und Hingabe pendelnde Darbietung von h allemal, witzig ist es, wenn Trewavas "Quartz" anspielt und die Fans jubeln lässt, ehe er verkündet, dass "Quartz" heute definitiv nicht kommen würde. Aber was die Setlist angeht, werde ich langsam nervös. Und als ich gerade ein kleines Minus im Hinterkopf speichern will, bricht die Marillion-Gefühlswelle mit aller Gewalt hervor: "Out Of This World", auch laut einstimmiger Meinung der Band eines der besten Marillion-Stücke überhaupt, wird mit Aufnahmen von Donald Campbells letzter Fahrt auf der Videoleinwand gekränzt und rührt beinahe zu Tränen; von tosendem Jubel begleitet folgt mit dem dynamischen "Seasons End"-Rocker "Berlin" eine Liverarität, die es auch während dieser Tour nur hier und heute in Berlin zu hören gibt - Top-Wahl!; und der Evergreen "The Great Escape" ist ohnehin Ehrensache. Brüllender Applaus.
Der eingängige Neuling "Real Tears For Sale" ist nach diesem Songtripel gut gewählt und auch der direkt folgende und ebenso neue Space-Rocker "Asylum Satellite #1" erstrahlt live in etwas glanzvollerem Licht als in der Albumfassung, weil er mehr Drive entwickelt. Endlich bin auch ich bereit, mich mit dem neuen Album an diesem Abend und so spielfreudig präsentiert anzufreunden, da kündigen die ersten Akkorde von - natürlich - "Neverland" das Finale an. Frechheit! Nach anderthalb Stunden Konzert verlassen Marillion zum ersten Mal die Bühne.
Doch sie kehren wieder und liefern statt Bronze Platin: "Easter" wird heute nicht gespielt und keinen scheint es zu stören. Dafür erklingt die viertelstündige Göttergabe "The Invisible Man", zu dem sich der Sänger launisch präsentiert: Das frisch angezogene Jackett und die Brille fliegen noch während des Intros wieder hinter die Bühne, jeder zweite Gesangseinsatz kommt versetzt und die Akustische, die in den sphärischen Eingangspassagen Rotherys zarte Soli ergänzt, wird auch nur mal beiläufig angeschlagen. Aber so ein Stück lässt sich einfach durch nichts zerstören. Danke dafür.
Wieder folgt mit dem ebenso knackigen wie käsigen "Whatever Is Wrong With You" vom neuen Album ein passender Ausgleich, ehe die Band zum zweiten Mal von der Bühne verschwindet und erst nach ewigem Jubel und Pfiffen zurückkehrt. "Happiness Is The Road", der Titeltrack der neuen Scheibe, markiert schließlich einen repräsentativen Abschluss dieses Konzerts: Qualitativ gehört das Stück weder zum Besten noch zum Schlechtesten, was diese Band bis jetzt komponiert hat, in der Livefassung ist es noch etwas unterhaltsamer und etwas aggressiver als auf dem Album und Trewavas darf noch einmal hüpfen. Während des letzten Refrains verschwindet jedes Bandmitglied nach und nach von der Bühne, bis das Publikum den markanten Refrainvers allein intoniert. Dann sind zwei Stunden voll und wir alle sind wieder mit uns allein, etwas glücklicher als vorher. Draußen ist es immer noch kalt und riecht nach Bratwurst.

Setlist:
1. Dreamy Street
2. This Train Is My Life
3. The Other Half
4. Essence
5. Fantastic Place
6. Beautiful
7. Out Of This World
8. Berlin
9. The Great Escape
10. Real Tears For Sale
11. Asylum Satellite #1
12. Neverland
-----------
13. The Invisible Man
14. Whatever Is Wrong With You
-----------
15. Happiness Is The Road



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver